Die Nachrichten sind nichts mehr wert. Eröffnen wir einen Salon!

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(Constantin Seibt) –

Fällt das wich­tig­ste Produkt weg, hat jede Branche ein Problem. Etwa der Journalismus, seit sein Hauptprodukt, die Nachrichten, infla­tio­när, also wert­los gewor­den ist.

Kein Wunder, wird nach Ersatz gesucht. Ziemlich oft hört man, dass der Journalismus Einordnung und Orientierung bie­ten müss­te. Und denkt sich dann zwei Dinge:

  1. Klingt plau­si­bel. Es gibt einen Markt dafür.
  2. Fuck.

Sicher, Orientierung ist in einer kom­ple­xen Welt ein chan­cen­rei­ches Produkt. Nur muss man sie erst ein­mal haben. Journalisten sind zwar nicht auf den Kopf gefal­len. Aber ihr Geschäft ist weni­ger die Produktion von Ideen als ihre Popularisierung.

In der gesam­ten Pressegeschichte war das kein ernst­haf­tes Problem. Es gab sta­bi­le Lager mit sta­bi­len Ideen: links, rechts, libe­ral, gegen den Staat oder in sei­nen Diensten, gegen die Wirtschaftsbonzen oder in ihren Diensten. Auf ver­läss­li­chen Herdplatten konn­te man täg­lich Orientierungssuppe kochen.

Doch das waren die fet­ten Zeiten. Heute ist Klarheit die Ausnahme, Unklarheit die Regel. Fast egal, in wel­chem poli­ti­schen Lager man steht: Komplexe Monstren wie Finanzkrise, Eurokrise, Klimawandel, Überwachung, Digitalisierung sind alles ande­re als ein­fach zu fas­sen. Nicht in der Analyse. Und schon gar nicht als Lösung, selbst auf dem Reissbrett.

Die Krise ist eine intel­lek­tu­el­le Krise

Als Reporter stösst man bei jeder zwei­ten Recherche auf das­sel­be Problem: die dra­ma­ti­sche Konzeptlosigkeit der füh­ren­den Akteure. Ob in der Finanzwelt, der Politik, in Kultur oder Medien – es gibt erstaun­lich wenig Leute, die eine Strategie haben. Und noch sel­te­ner: eine Alternative. So mäch­tig der Bankensektor ist, so bewusst­los han­gelt er sich von Euphorie zu Skandal. Im ent­schei­den­den Land Europas, Deutschland, dreh­te sich der Wahlkampf um alles Mögliche: Autobahngebühren, Vegetariertag oder Pädophile. Aber nicht um die neue Rolle als ent­schei­den­des Land des Kontinents. Und in Branchen wie Theater, Werbung oder Kunst domi­niert Dr. Frankenstein: eine Collage von Zitaten. Statt einer neu­en Ästhetik lie­fern sie Ironie.

Ein gros­ses Wursteln hat sich über die Welt gelegt – man macht man­gels Alternative wei­ter, selbst wenn die Zeichen an der Wand ste­hen. Der Journalismus ist hier eine füh­ren­de Branche. Nach 13 Jahren Krise haben die Chefetagen der gros­sen Verlage nicht nur kei­nen Plan, son­dern nicht ein­mal die Melancholie, kei­nen zu haben.

Das Köpfe-Paradox

Dabei wäre Orientierung beweis­bar gefrag­te Ware. Liefert man sie, kann man sogar ohne orga­ni­sa­to­ri­sche Ressourcen erstaun­lich Erfolg haben. Der meist­zi­tier­te Journalist der Welt etwa betreibt die­sen Beruf nur im Nebenjob. Paul Krugman, haupt­be­ruf­lich Ökonomieprofessor, schaff­te es – halb durch Wissen, halb durch einen unver­stell­ten Blick – ein Jahrzehnt lang aktu­el­ler, prä­zi­ser, rele­van­ter als die Profis zu sein. (Hier eine klei­ne Skizze zu sei­nen Methoden.) Und in der Schweiz gelang es einem mit­tel­gros­sen NGO, der Erklärung von Bern, die Debatte über den gigan­ti­schen Rohstoffsektor an sich zu reis­sen: Sie ver­öf­fent­lich­te als Erste ein Buch dar­über. Und hat seit­her das intel­lek­tu­el­le Monopol.

Die Nachfrage ist da, doch erstaun­li­cher­wei­se fehlt das Angebot. Fragt man sich nach den auf­re­gen­den Intellektuellen des Landes, fällt einem kaum jemand ein. Das heisst nicht, dass die Leute düm­mer gewor­den sind. Aber es gibt ein Paradox: Man kennt pri­vat vie­le klu­ge Köpfe, aber nicht in der Öffentlichkeit.

Kurz: Hier gibt es eine Marktlücke. Die mit einem uralten jour­na­li­sti­schen Mittel ange­gan­gen wer­den kann: mit Recherche.

Der Salon im 21. Jahrhundert

Es wird Zeit, dass die Zeitung etwas wie­der eröff­net, was an ihrer Wiege stand: den Salon des 18. Jahrhunderts. Damals, zu Beginn der Aufklärung, zeich­ne­te sich ein Salon dadurch aus, dass er die inter­es­san­ten Köpfe sam­mel­te, unab­hän­gig von Titel und Stand.

Die Gastgeber der bedeu­tend­sten Salons waren nie die Mächtigen; es waren die Aussenseiter: meist Frauen oder Juden. Gerade ihr Aussenseitertum gestat­te­te ihnen, das zu bie­ten, was ein Salon bie­ten muss: neu­tra­len Boden für die ver­schie­den­sten Hierarchiestufen, Professionen, Temperamente.

Zum Eröffnen eines erfolg­rei­chen Salons muss man ein guter Gastgeber sein, nicht der beste Kopf. Jemand von Neugier und Geschmack, aber nicht von erdrücken­der Brillanz; von Ehrgeiz, aber nicht mit domi­nie­ren­der Stellung.

Zu die­ser Rolle passt die Zeitung bes­ser denn je. Denn sie gleicht einem ver­arm­ten Adligen: Mit den Verlusten an Auflage hat sie auch viel an Respekt, an Droh- und Definitionsmacht ver­lo­ren. Und ihre Angestellten hat­ten schon immer einen zwei­fel­haf­ten Status. So schrieb etwa der Philosophieprofessor und Zeitungsherausgeber Andrew Potter:

Das Wichtigste, was man über Journalisten wis­sen muss, ist, dass sie Intellektuelle der unter­sten Rangstufe sind. Also: Mitglieder der intel­lek­tu­el­len Klasse, aber mit dem klein­sten Ansehen. Deshalb haben sie auch tra­di­tio­nell die Manieren des Proletariats ange­nom­men: das Trinken und Fluchen, die Anti-Establishment-Reflexe und den Stolz, dass Journalismus kein durch Diplome erlern­ba­rer Beruf ist.

Kurz: Die Zeitung hät­te sowohl genug wie auch genug wenig Prestige, die wirk­lich cle­ve­ren Köpfe der eige­nen Stadt zu recher­chie­ren, aus ihren Nischen zu zie­hen, sie zusam­men zu set­zen und zu befra­gen: aus den Universitäten, den Hightech-Start-Ups, den Theatern, den Konzernen, dem Beamtenapparat, den Blogs, woher auch immer. Nach dem ein­fa­chen Selektionsprinzip, dass Titel und Position im Salon nichts zäh­len, nur die Lebendigkeit der Köpfe selbst.

Einsamkeit als Angelhaken

Zwar betrei­ben Zeitungen schon seit lan­gem Schrumpfformen des Salons, nur unsy­ste­ma­tisch und viel zu indi­vi­dua­li­siert. Bereits vor­han­den sind:

  • Das Künstlerporträt (sel­te­ner: Wissenschaftlerporträt)
  • Das Wie-wur­den-Sie-so-gross­ar­tig-Interview (Jemand Erfolgreiches erzählt, wie die­ser Jemand zu sei­nem Erfolg kam)
  • Das Experteninterview (Wissen – oder im schlech­ten Fall: Meinung – wird abge­mol­ken)
  • Das Duell (Klimaforscher vs. Klimaskeptiker; Austeritätsanhänger vs. Keynesianer, Linker vs. Rechter, etc.)

So legi­tim die­se Gefässe sind, so unge­nü­gend lösen sie das Hauptproblem der mei­sten klu­gen Leute – ihre Einsamkeit. Denn die mei­sten intel­li­gen­ten Leute sind ein­sam: die glück­lo­sen in ihrer Unbekanntheit, die erfolg­rei­chen im Erfolg. Denn eine ange­se­he­ne Marke zu sein, ist zwar ein Luxusgefängnis, aber dafür garan­tiert aus­bruchs­si­cher.

Interessante Leute zusam­men­zu­brin­gen, mit ande­ren inter­es­san­ten Leuten, mit inter­es­san­ten Fragen – das ist der Job, den eine Zeitung fast exklu­siv lei­sten kann. Denn die digi­ta­le Konkurrenz kann den Job nur halb machen. Die Link-Kuratoren oder die Organisatoren von Ted-Talks fei­ern stets den ein­zel­nen Wurf oder das ein­zel­ne Individuum: Deren Einsamkeit aber bleibt.

Doch Vereinzelung ist gera­de das Problem. Wenn es einen Vorteil von Unklarheit und Krise gibt, dann ist es der: Es stei­gert das Bedürfnis der guten Köpfe mit wem auch immer zu reden, da sie die Lösung auch nicht haben.

Welche Formen?

Um einen Salon im Blatt zum Laufen zu brin­gen, braucht es neue Gefässe. Solche, die die tra­di­tio­nel­len Leitplanken ver­las­sen und das Ergebnis offen las­sen. Also etwa:

  • Das Duett (Erstaunlicherweise sind die Debatten zwi­schen zwei Leuten fast immer span­nen­der, wenn sich die Diskutanten im Grundsatz einig sind. Bei einem Duell wer­den schon aus Vorsicht meist nur die Standardkeulen aus­ge­packt. Sind die Leute einig, reden sie frei­er: über die wah­ren Motive, Probleme, Hoffnungen und Ängste. Ausserdem lernt man nicht zwei kon­trä­re Positionen, son­dern etwas viel Interessanteres ken­nen: zwei kon­trä­re Denkstile.)
  • Das Triple-Interview zu umstrit­te­nen Themen, mit drei Leuten aus völ­lig unter­schied­li­chen Berufsfeldern. (Hier als klei­nes Experiment ein epi­sches Kaminfeuergespräch zum Rauchen, geführt mit einem Tabakfabrikanten (an der Zigarre), einem Soziologen (an der Zigarette) und einem Psychoanalytiker (mit Pfeife).)
  • Das ver­rück­te Interview. Kennzeichen des ver­rück­ten Interviews ist, mit einer ganz kon­kre­ten Frage zu begin­nen und dann weiss Gott wo in der Weltgeschichte zu enden. Also ein Interview zu füh­ren, wo kei­ner der Beteiligten am Anfang weiss, wo es am Ende lan­det – wes­halb es vor­zugs­wei­se spät nachts und mit Alkohol geführt wird. (Hier als Beispiel ein Interview mit Professor Imhof über Botellones, mit dem päd­ago­gi­schen Titel «Jugendliche, macht Massenbesäufnisse! Ihr könn­tet viel Dümmeres tun.»)

Das als erste rohe, noch unsy­ste­ma­ti­sche Skizze.

150000 Franken Kopfgeld

Jedenfalls wäre nach dem Wegfall der Nachrichten der Betrieb eines Salons ein neu­es Geschäftsfeld für eine Zeitung. Und eine ech­te, zeit­ge­mäs­se Aufgabe. Nur muss man sie nicht punk­tu­ell, son­dern pro­fes­sio­nell betrei­ben: also mit Investition von Geld.

Denn das syste­ma­ti­sche Entdecken, Testen, Angeln, Mischen, Bemuttern, Befragen von cle­ve­ren Köpfen braucht Personal. Zwar nicht viel, nur ein, zwei Stellen. Aber die­se not­wen­di­ger­wei­se. Schon allein, weil die Aufgabe etwas schwie­ri­ger ist als im 18. Jahrhundert. Damals wim­mel­te es von bril­lan­ten Köpfen. Heute wim­melt es von bril­lan­ten Problemen.

Kurz: Die Eröffnung eines Salons ist ein unter­neh­me­ri­scher Entscheid.

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Dieser Beitag wur­de auto­ma­tisch per RSS auf unse­re Webseite gestellt. Der Originaltext ist über den Tagesanzeiger, dem Blog von Constantin Seibt – http://blog.tagesanzeiger.ch/deadline – zu fin­den.

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