- ensuite | kulturagenda | enBlog - https://ensuite.we-are.gmbh -

Die Macht der Kulturpolitik

Von Lukas Vogelsang - Über zwei Jahre lang hat die Pandemie jeg­li­chen öffent­li­chen Diskurs über Kultur end­gül­tig ver­sie­gen las­sen. Jetzt ist Krieg in Europa, und wir und die Medien zei­gen in alle Himmelsrichtungen – nur nicht auf uns. Eine Auseinandersetzung mit unse­rer Kultur im Sinne einer Selbstreflexion fin­det schon lan­ge nicht mehr statt.

Die wich­tig­ste Frage vor­weg: Was ist Kulturpolitik? Kunst ist, was auf der Bühne statt­fin­det. Kultur ist, was VOR der Bühne statt­fin­det. So gese­hen haben wir in der Schweiz – und das sage ich nun seit 20 Jahren – kei­ne Kulturpolitik, son­dern fast aus­schliess­lich eine Kunstpolitik. Radikal wei­ter­ge­dacht gibt es also kei­ne Kulturabteilungen, kei­ne Kulturkonzepte, son­dern das sind Kunstabteilungen, und die Kulturförderung ist eine Kunstförderung. Die rund 3 Milliarden aus unse­ren Steuereinnahmen für die «Kulturförderung» (Stadt und Kantone und Bund) flies­sen in die Kunst, nicht in die Kultur. Wer was ande­res behaup­tet, soll mir die gut sub­ven­tio­nier­ten Kulturbühnen in den Agglomerationen zei­gen, soll auf­zei­gen, wo wir die­se gesell­schaft­li­che Partizipation für unse­re ita­lie­ni­schen oder sri-lan­ki­schen Landsleute ermög­li­chen. Man den­ke an den Röstigraben – es ist schon ein Highlight, wenn eine Vorstellung in fran­zö­si­scher Sprache ermög­licht wird –, und das geschieht nur, wenn Auftragsgeld fliesst. Mit «Kultur» hat das wenig zu tun.

Das BAK (Bundesamt für Kultur Kunst) insze­niert jähr­lich eigen­wil­li­ge Auszeichnungen von Gewinne-rInnen, wel­che auf­grund irgend­wel­cher Leistungen und Bewerbungen zu künst­le­ri­schen NationalheldInnen erko­ren wer­den. Ich habe die­se jeweils schon ver­ges­sen, bevor sie genannt wer­den. Das natio­na­le Interesse dafür ver­hält sich ähn­lich. Interessant ist das für jene KünstlerInnen, die auch irgend­wann mal zu die­ser Gunst kom­men wer­den oder der Szene ange­hö­ren. Andere wer­den nie aus­ge­zeich­net, weil sie nicht gese­hen wer­den. Weil sie sich nicht ins Scheinwerferlicht wer­fen. Erst nach deren Tod, wenn jemand den Nachlass geschickt sicht­bar machen wird, wer­den plötz­lich alle die Kunst sehen und schät­zen.

Diese Entwicklung ist unter­des­sen so weit fort­ge­schrit­ten, dass nie­mand mehr den Mund auf­zu­ma­chen wagt. Die «Kunstpolitik» ist schon längst zum Insiderspiel gewor­den, das nichts mehr mit der Bevölkerung zu tun hat. Wohlverstanden: Kunst ist auch ein Markt – und damit mei­ne ich nicht nur die Hitparaden, die Art-Basel-Messen und die Literatur- und Theaterfestivals. Nur weni­ge Werke oder Aktivitäten erfül­len eine gesell­schaft­li­che Funktion. In der Pandemie ist das Kunstleben prak­tisch still­ge­stan­den – war­um? Weil die Angst um das Geld grös­ser war als das Bedürfnis der Bevölkerung nach Kunstereignissen. Achtung: Vermisst hat­te man aber sehr wohl die sozia­len Events, das gesell­schaft­li­che Beisammensein (eben die Kultur) und sicher auch den einen oder ande­ren künst­le­ri­schen Input – nur steht das in kei­nem Verhältnis zur Bevölkerung. Es geht ganz gut ohne Kunst – ein Statement, das weh­tut. In unse­rer Redaktion war die Reaktion ein­fach: Wir haben noch unge­fähr 5000 Jahre Kulturgeschichte, die wir ver­ar­bei­ten kön­nen. Langweilig war uns nie. Und wo war die Kulturpolitik in der Pandemie?

Das Einzige, was kul­tur­po­li­tisch noch «Kultur» hat, sind die Mechanismen, wie die Milliarden unter den Kunstschaffenden ver­teilt wer­den. Eine bekann­te Person hat sich bei­spiels­wei­se auf Facebook zum Fall Pierin Vincenz geäus­sert, dass er den ent­glei­sten Banker gross­ar­tig fin­de, weil die­ser «immer­hin dem Kulturerbprozent Geld ver­macht» habe – das ist unse­re kul­tu­rel­le Moral, die noch was zählt (wobei die Person wohl nicht wuss­te, dass Vincenz viel Geld bereits sei­ner Frau und den Kindern über­wie­sen hat­te).

Das klingt böse, und vie­le wer­den wegen die­ser Einführung auf­schrei­en. Nun, ich darf anmer­ken, dass das auch nicht mein Verständnis davon ist, wie es sein soll­te! Aber so wird heu­te Kulturpolitik prak­ti­ziert, und ohne ehr­li­che Analyse wird sich nie was ändern.

In einer Sendung auf SRF4 («Im Reich Orbans», Teil 1: Zwei Welten / 8. März 2022) über das Leben in Ungarn wur­de ich hell­hö­rig. Der Punkmusiker Tamas Rupaszow erklär­te die Situation und die Problematik im Land. Noch sei das kei­ne Diktatur, aber so wirk­lich Raum für Andersdenkende gebe es nicht. «Man steht auf der Seite von Regierungschef Orban oder man hält den Mund. Sonst ver­liert man Geschäftskunden, Inserenten, Auftrittsgelegenheiten.» Während der Sendung wird mir übel. Meine zen­tra­le Frage war: Wie weit sind wir eigent­lich noch von die­sen dik­ta­to­ri­schen Machenschaften ent­fernt?

Vieles von dem, was Rupaszow hier erklärt, erle­be ich tag­täg­lich in der Redaktion. So wer­den wir über kul­tur­po­li­ti­sche Entscheidungen oder Diskussionen als Redaktion nicht infor­miert. An kul­tur­po­li­ti­sche Veranstaltungen wer­den wir nicht ein­ge­la­den – höch­stens, wenn wir uns auf­drän­gen. Wir erhal­ten kei­ne städ­ti­schen Kultur-Anzeigen, wohl aber zahlt die Stadt der «system­treu­en» Berner Kulturagenda seit Jahren viel Geld und schal­tet auch Anzeigen. In einem Artikel wur­de mal beschrie­ben, wie die Stadt Bern uns aus­trock­nen las­sen woll­te. Der jähr­li­che Tätigkeitsbericht der Kulturabteilungen ist eine Hohlschuld für uns – es gibt kei­ne Pressecommuniqués, und oft­mals weiss nie­mand, dass die­se Berichte eigent­lich öffent­lich zugäng­lich wären.

Für mich wird klar, dass sich in der Schweiz unlängst klei­ne Regimes gebil­det haben, gera­de im Kulturbereich, wo nie­mand Fragen stellt, nie­mand über Sinn und Unsinn oder den gesell­schaft­li­chen Nutzen öffent­lich dis­ku­tiert. Der Kulturjournalismus ist auf eine «Kunst-Berichterstattung» redu­ziert wor­den, in den mei­sten Tageszeitungen kommt die Definition von Kultur dem gesell­schaft­li­chen Unterhaltungsprogramm gleich. Die Inszenierung von Ästhetik.

Dabei wird doch «Kultur» immer als so wich­tig und gesell­schafts­re­le­vant genannt. «Ohne Kultur wird’s still», wur­de in den sozia­len Medien wäh­rend der Pandemie gepo­stet – doch es blieb still.

Unsere Politik ist schon längst nicht mehr fähig, mit plu­ra­li­sti­schen Meinungen umzu­ge­hen. Die Parlamente redu­zie­ren kom­ple­xe Themen auf dua­li­sti­sche Ja-Nein-Entscheidungen, die kaum noch kon­sens­fä­hig sind. Unsere so stolz geprie­se­ne föde­ra­li­sti­sche Schweiz besteht aus vie­len Gebieten mit RegionalfürstInnen, wel­che den errun­ge­nen Machtanspruch für sich und ihre Interessen, Freunde und Freundesfreunde ein­set­zen. Was ist denn die­se «Schweizer Kultur» als gemein­sa­mer Nenner eines gesamt­schwei­ze­ri­schen Volkes? Was ver­bin­det uns? Diese Frage ist alles ande­re als neu, aber mir fehlt noch immer die Antwort.

Kunst ist, was AUF der Bühne statt­fin­det.
Kultur ist, was VOR der Bühne statt­fin­det.

Zitat: Lukas Vogelsang

 

Die gewähl­ten PolitikerInnen inter­es­sie­ren sich nicht für Kulturpolitik. Kein Wunder, nach­dem man jah­re­lang nur über Kunst gespro­chen hat, ist das Thema in der Öffentlichkeit schlicht demon­tiert. Und die Politik spricht nicht über Kunst – zu Recht! Aber sie müss­te über die «Kultur» spre­chen, also das Zusammenleben eines Volkes dis­ku­tie­ren. Wir sen­den das ensuite an alle PolitikerInnen von Basel, Bern und Zürich und an alle National- und StänderätInnen, auch an BundesrätInnen. Das bezah­le ich aus mei­ner Tasche, weil das wich­tig ist. Niemand will sich dar­an betei­li­gen.

Im Jahr 2009 wur­de der Vorschlag der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK), einen Kulturrat zu bil­den, im Nationalrat abge­würgt. Gewichtig waren die Argumente vom dama­li­gen Bundesrat Pascal Couchepin, der mein­te, dass sich in der Schweiz Dutzende von Organisationen mit Kultur befass­ten und: «Nicht alle kön­nen in einem Kulturrat Einsitz neh­men, was zu Frustration, Streit und letzt­lich zur Schwächung der Kultur in der Schweiz füh­ren wür­de.»

Das ist kom­plet­ter Unsinn und nur eine Frage der Organisation. Mit glei­cher Argumentation müss­te man auch den Bundesrat, den Nationalrat und jedes Gremium infra­ge stel­len, denn da kön­nen auch nicht «alle» Einsitz neh­men – aus­ser man wird gewählt. Und dem steht ja bei einem Kulturrat nichts ent­ge­gen. Doch man woll­te mit einer dum­men Argumentation einen für die Demokratie wich­ti­gen Vorstoss im Keim ersticken, was tat­säch­lich auch gelang. Damit nie­mand rein­re­det.

Liebe Leserin, lie­ber Leser: Lesen Sie mal einen Tätigkeitsbericht Ihrer städ­ti­schen Kulturabteilung. Darin steht, wofür Geld aus­ge­ge­ben wur­de. Es wür­de mich inter­es­sie­ren, wie vie­le der genann­ten Projekte Sie ken­nen oder sogar besucht haben. Ich mache die­ses Spiel jedes Jahr und bin erstaunt, dass ich von ca. 65 % der Projekte noch nie was gehört habe – und dies in der gröss­ten Kulturredaktion der Schweiz. Deswegen stel­le ich laut die Frage: Wir zah­len pro Jahr 3 Milliarden der gemein­sa­men Steuereinnahmen an die­se «Kunstförderung» und gleich­zei­tig geht ein «Volk» mit Glocken und Trachten auf die Strasse, um gegen eine Pandemie zu demon­strie­ren. Was funk­tio­niert hier nicht? Für die mili­tä­ri­sche Sicherheit kön­nen wir inner­halb von Stunden Milliarden spre­chen – für das Zusammenleben unse­res Volkes, für Bildung oder die gemein­sa­me Weiterentwicklung sind wir nach Jahren noch tief im Streit über den einen Franken. Wir drücken die Löhne jener, die hart kör­per­lich arbei­ten, und beloh­nen jene fürst­lich, die auf dem Bürostuhl sit­zen und dele­gie­ren. Unsere Kultur zeigt sich in Leistung, und Leistung wird als Vermögen, also Geld, defi­niert. Darum wird so viel gelo­gen und betro­gen. Wir beju­beln die Helden, die PR-Agenturen enga­giert haben und Millionenvermögen besit­zen, und las­sen jene in den Spitälern, die die «Gefallenen» pfle­gen, mit Almosen ruhig­stel­len.

Sind wir zufrie­den mit unse­rem Land? Sind wir als Volk zufrie­den mit unse­rem Land? Fühlen wir uns als eine soli­da­ri­sche Gruppe oder sind wir nur vie­le soli­da­ri­sche Grüppchen mit viel Restabfall? Genau die­se Themen gehö­ren zur Kulturpolitik.

La Suisse exi­ste-t-elle?

 

Bild: Ai Weiwei; Grapes, 2011; 40 Holzstühle, Privatsammlung, Foto: Albertina, Wien / Lisa Rastl & Reiner Riedler © 2022 Ai Weiwei