Die Frühzeit des Sergiu Celibidache (1912–1996)

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Von François Lilienfeld – Die Karriere des berühm­ten rumä­ni­schen Dirigenten ging unge­wohn­te Wege. 1945, nach der deut­schen Kapitulation, such­ten die Berliner Philharmoniker einen neu­en Chefdirigenten. Wilhelm Furtwängler war mit zeit­wei­li­gem Dirigierverbot belegt, da er «ent­na­zi­fi­ziert» wer­den muss­te. Ihm, als dem Berühmtesten, war eine Sündenbockposition qua­si vor­ge­zeich­net. Er hat­te deutsch­na­tio­nal emp­fun­den und war poli­tisch von sehr gro­ßer Naivität; aber ein Nazi war er nie, und kurz vor Kriegsende flüch­te­te er, um einer dro­hen­den Verhaftung zu ent­ge­hen, in die Schweiz. Zahlreichen Verfolgten hat­te er außer­dem tat­kräf­tig bei­gestan­den.

Die Philharmoniker wähl­ten Leo Borchard. Doch der hat­te kaum sei­ne Position ein­ge­nom­men, als er irr­tüm­li­cher­wei­se von einem ame­ri­ka­ni­schen Wachsoldaten erschos­sen wur­de.

Nun erhielt ein jun­ger rumä­ni­scher Student mit ein biss­chen Dirigiererfahrung sei­ne Chance: Sergiu Celibidache konn­te das Orchester inte­ri­mi­stisch, d.h. bis zu Furtwänglers Rückkehr, über­neh­men. Eine ris­kier­te Sache; doch sei­ne Musikalität, sein feu­ri­ges Temperament und sein weit­läu­fi­ges Repertoire ver­schaff­ten ihm sofort gro­ße Erfolge. Als Furtwängler wie­der am Pult der Berliner ste­hen durf­te, teil­te er sich mit ihm in die Leitung der Konzerte. Furtwängler starb 1954, und Celibidache wäre der logi­sche und idea­le Nachfolger gewe­sen. Doch es kam anders: Ein gewis­ser Herbert von Karajan wur­de gewählt, ein über­zeug­ter Nazi, der auch das Dirigentenpult durch sei­ne Führermentalität prä­gen soll­te und der einen über­wie­gen­den Anteil an der zuneh­men­den Kommerzialisierung des klas­si­schen Musikbetriebes haben wür­de. Diese Wahl war ein per­sön­li­cher Affront gegen den jun­gen Rumänen, außer­dem ein poli­tisch und künst­le­risch skan­da­lö­ses Ereignis.

Celibidache war zutiefst ver­letzt und kehr­te den Berliner Philharmonikern defi­ni­tiv den Rücken. Fortan rei­ste er viel und hat­te feste Stellen in Stockholm, Stuttgart und zuletzt München inne.

Celibidache ver­wei­ger­te sich dem Aufnahmestudio fast voll­stän­dig. Eine gro­ße Menge sei­ner Radio- und Fernsehhauftritte wur­de jedoch mit­ge­schnit­ten und post­hum von sei­nem Sohn ver­öf­fent­licht. Er woll­te das Werk sei­nes Vaters – auch in Dokumentarfilmen – wei­ter­le­ben las­sen, und fand offi­zi­el­le, qua­li­ta­tiv hoch­ste­hen­de Veröffentlichungen bes­ser als die schon früh zahl­reich ver­brei­te­ten Piratkopien. Die Aufnahmen stam­men aus Celibidaches Spätzeit, als sei­ne Interpretationen, nicht zuletzt durch sei­ne phi­lo­so­phi­schen Meditationen, immer lang­sa­mer wur­den. Wie anders er in sei­ner Berliner Zeit musi­zier­te, kann man, dank zwei CD-Sammlungen aus dem Hause audi­te, erle­ben.

Schon 2011 waren 3 CDs mit RIAS-Mitschnitten erschie­nen (audi­te 21.406). Sie ent­hiel­ten haupt­säch­lich Werke des 20. Jahrhunderts, dar­un­ter viel Musik, die im 3. Reich ver­bo­ten war. Besonders erstaun­lich, wie Celibidache die Berliner in Musik ein­führ­te, die ihnen damals total fremd war: Ravels «Symphonie Espagnole» etwa, oder, noch ver­blüf­fen­der, Gershwins «Rhapsody in Blue». Ein von hei­li­gem Feuer gepack­ter Dirigent führt groß­ar­ti­ge Musiker auf neue Pfade! Auch Werke von Heinz Tiessen (1887–1971), Celibidaches Dirigierlehrer, kön­nen wir hören, sowie das lei­der immer noch ver­nach­läs­sig­te, wun­der­ba­re Violinkonzert von Ferruccio Busoni (1866–1924), mit Siegfried Borries, dem Konzertmeister des Orchesters, als Solisten.

Neu sind nun 13 CDs auf den Markt gekom­men, unter dem Titel «The Berlin Recordings – 1945–1957» (audi­te 21.423). Sie bie­ten ein sehr breit­ge­fä­cher­tes Repertoire, ein­ge­spielt mit den Philharmonikern und dem Rundfunk-Symphonie-Orchester Berlin.

Schon eines der älte­sten Dokumente – die Vierte Symphonie von Brahms (21. Nov. 1945) – ist eine abso­lu­te Sternstunde. Leidenschaft und Lyrik, gro­ße Bögen und Detailtreue geben sich die Hand; die Philharmoniker klin­gen bes­ser und vor allem inter­es­san­ter als ein Jahrzehnt spä­ter unter H.v.K., und dies obschon das Haus des Rundfunks in die­sem kal­ten ersten Nachkriegswinter wohl kaum geheizt war!

Drei Tage vor der Brahms-Symphonie diri­gier­te Celibidache das Dvorák-Cellokonzert mit Tibor de Machula als Solisten. Hier kom­men zwei tem­pe­ra­ment­vol­le Persönlichkeiten zusam­men, die sich, ins­be­son­de­re im ersten Satz, gegen­sei­tig auf­zu­mun­tern schei­nen. Dies hin­dert sie nicht dar­an, auch dem lyri­schen Teil gegen Schluß des Finales voll­auf gerecht zu wer­den. Der Cellist beein­druckt durch sei­nen gekonn­ten Einsatz des Portamento; aller­dings stört im zwei­ten Satz ein star­kes, stän­di­ges Vibrato.

Es wür­de den gege­be­nen Rahmen spren­gen, alle Werke auf­zu­zäh­len und zu bespre­chen. Erwähnenswert ist jedoch die gro­ße Anzahl Raritäten, vor allem aus Russland und Frankreich, wel­che die­se Sammlung ent­hält. Auch Werke, die wir spä­ter in Celibidaches Programmen sel­te­ner antref­fen wer­den – Haydn, Vivaldi – ermög­li­chen loh­nen­de Begegnungen. Überraschend ist das Fehlen zwei­er Komponisten, die spä­ter in den Mittelpunkt von Celibidaches Tätigkeit rücken wer­den: Schumann und Bruckner.

Eine Kuriosität stellt die Bonus-CD dar: eine unvoll­stän­di­ge Version von Beethovens Siebenter Symphonie. Sie wur­de am 7. Okt. 1957 vom Deutschen Symphonie-Orchester Berlin ein­ge­spielt. Das Original-RIAS-Band wur­de gelöscht; denn der Dirigent stampft, schreit und singt fast stän­dig mit. Im Sender Freies Berlin fand sich jedoch eine Kopie, die die zwei ersten Sätze und einen Teil des Scherzos ent­hält. Eine rät­sel­haf­te Aufnahme: Kann es wirk­lich sein, dass Celibidache so selbst­ver­ges­sen war? Hatte er extrem schlech­te Laune? Er prob­te ger­ne sehr «laut­stark»: han­delt es sich etwa um eine – öffent­li­che – Probe? Wie dem auch sei, die Interpretation ist sehr frag­wür­dig: Das lang­sa­me Tempo im Hauptteil des ersten Satzes klingt wie eine Vorahnung auf Kommendes, wohin­ge­gen das rasen­de Scherzo fast unspiel­bar und gänz­lich unüber­zeu­gend ist. Ein fas­zi­nie­ren­des Dokument … aber nicht unbe­dingt ein Hörgenuss.

Ganz anders Beethovens Dritte «Leonore»-Ouvertüre (10. Nov. 1946). Auch hier sind die Tempi extrem: Nach einer sehr lang­sa­men Einleitung glei­tet Celibidache mit einem Accelerando in einen sehr forsch musi­zier­ten Hauptteil – eine eigen­wil­li­ge Auffassung, die hier jedoch dra­ma­tur­gisch über­zeugt. Die Wucht, mit wel­cher der Dirigent die Berliner Philharmoniker auf­spie­len lässt, ist höchst beein­druckend.

Die tech­ni­sche Qualität der Überspielungen ist aus­ge­zeich­net, und das Beiheft ent­hält genaue Angaben und sehr auf­schluss­rei­che Texte.

Foto: zVg.
ensuite, März 2014

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