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Die Bühne als Welt: «The Performer» von Richard Sennett

Von Dr. Regula Stämpfli - Zwanzig Folgen flim­mer­ten über den Bildschirm, bevor ich vom «Zürich-Krimi» in der ARD-Mediathek erfuhr. Die zwan­zig­ste Folge erreich­te näm­lich im Dezember 2024 Topquoten, fast sechs Millionen, da muss­te ich doch auch mal rein­gucken. Nach der ersten Folge wur­de die Protagonistin ersetzt, nach der drit­ten der Kommissar. Zürich halt: Da wer­den Menschen ohne gros­ses Aufheben hin- und her­ge­scho­ben, man erfährt nichts über die Gründe, but the show goes on. Christian Kohlund trägt den «Zürich-Krimi» und bedient die mäch­ti­ge Generation 50 plus. Es ist väter­lich rüh­rend, den fast 75-jäh­ri­gen Kohlund für Gerechtigkeit in Action zu sehen: Wirtschaftskriminalität, alba­ni­sche Mafia, die unsäg­li­che Kesb – sie alle wer­den allein in der ersten Staffel the­ma­ti­siert. Was Borchert im «Zürich-Krimi» dem deutsch­spra­chi­gen Publikum, ist «Yellowstone» den USA – mit unter­schied­li­chen poli­ti­schen Folgen. Der schwei­ze­ri­sche Borchert ist selbst im hohen Alter links-grün, John Dutton in «Yellowstone» rechts-repu­bli­ka­nisch; bei­des sind fil­mi­sche Umsetzungen von Zerfall. In «Yellowstone» ist die Landwirtschaft zum glo­ba­len Pharmakapital umge­wan­delt wor­den, im «Zürich-Krimi» herr­schen Banker, Anwälte und Bitcoins über die rea­le Welt. Beide Serien sind schmerz­haf­te Fiktionen für unse­re Zeit. Die alten Patriarchen sind noch voll da, und den­noch hat sich irgend­wie alles ver­än­dert. Nur bei den Frauen tut sich nichts; es gibt immer eine ein­zi­ge, die wich­tig ist, qua­si als jun­ge Maria die Männergeschichten trägt. Alte Frauen, die ihr Leben schick­sals­haft, wür­dig, mäch­tig und mit einer Sippe, die es zu kon­trol­lie­ren gilt – ich sage nur Nancy Pelosi in den USA – füh­ren, gibt es auch in den heu­ti­gen Fiktionen nicht. Obwohl alles Schauspiel gewor­den ist, feh­len trotz­dem eini­ge ent­schei­den­de Wirklichkeiten, die als Kultur Demokratie for­men könn­ten.

Davon erzählt auch Richard Sennett in sei­nem neu­en Buch «The Performer. Art, Life, Politics». Sennetts «Schauspieler» im Licht von Leben, Kunst und Politik führt uns durch Jahrhunderte west­li­cher Kultur, ohne sie expli­zit so zu benen­nen. Im 15. Jahrhundert ist Sennett stramm Universalist, um die Kurve fürs 21. Jahrhundert Richtung Identitätspolitik, in der Worte nichts mehr, Körper indes­sen alles bedeu­ten, ein­zu­schla­gen. Sennett gehört zu den stramm lin­ken Boomern – eini­ge Sätze sind schon fast Copy/Paste Richard David Precht (von dem Sennett sicher nichts weiss). Als säku­la­rer, anti­zio­ni­sti­scher Jude liebt er die Toten sei­nes Stammes, um den heroi­schen Kampf gegen den Faschismus zu bele­gen. Mit den leben­den Juden am ein­zi­gen Ort, an dem sie nicht in regel­mäs­si­gen Abständen ent­eig­net, ver­trie­ben und ermor­det wer­den – Israel –, hat Sennett sei­ne gros­se Mühe. After all ist er Ami – und als sol­cher kommt ihm die Idee einer Vertreibung, selbst ange­sichts sei­ner schar­fen Amerikakritik, völ­lig absurd vor. Vielleicht ist dies die Definition von ech­ter Demokratie: dem eige­nen Staat grund­sätz­lich zu miss­trau­en, laut­hals über ihn her­zu­zie­hen, dafür aber weder ins Gefängnis gewor­fen zu wer­den noch aus­wan­dern zu müs­sen. Wie habe ich es schon beim Buch «Café Marx» for­mu­liert? Links kann Kritik, kann aber kei­ne Konstruktion. Die letz­ten hun­dert Seiten sind bei Sennett des­halb unles­bar. Er mäan­dert zwi­schen Gefühlsduselei und Identitätspolitik. Doch die zwei­hun­dert Seiten davor sind unbe­dingt zu emp­feh­len.

Das Buch des fast 80-Jährigen beginnt mit Klatsch und Tratsch über das Theater der 1960er-Jahre – köst­lich. Es tre­ten auf: das ver­lo­re­ne Happy End, eine 60-jäh­ri­ge jid­di­sche Ophelia, die das Publikum zu Tränen rührt, Goyas «Sense Saturns» als Metapher von Theatralität und Gewalt und natür­lich Hannah Arendt, Sennett war ihr Schüler. Laut Sennett ist Performance als Kunst eine die­ser Künste, die dreckig sind. Wir soll­ten kei­nes­falls ver­su­chen, das krum­me Holz begra­di­gen zu wol­len, aus dem die Bretter der Bühnen gebaut sind. Schon Rousseau mein­te, Theater sei nur dann Kunst, wenn die Darstellungen nicht an «die rich­ti­gen sozia­len Werte ket­ten», denn «Tugend» sei zutiefst repres­siv. Kein Wunder, führt Rousseaus Theorie so oft aufs Schafott oder zur Guillotine! Das Theater, so Sennett hul­di­ge dem Gott Janus – sei dop­pel­ge­sich­tig, sei Übergang pur, Möglichkeit, Transition und habe bei den Römern hoch in Gunsten gestan­den. Sie fei­er­ten ihn im Januar, brach­ten an Türen und Toren Plaketten mit dem Januskopf an, um den Schritt von der Strasse ins Innere zu ebnen. «Darstellende Kunst, im guten janus­köp­fi­gen Geiste aus­ge­führt, kon­zen­triert sich auf den Prozess statt auf ein fest­ge­leg­tes, fer­ti­ges Ergebnis. (…) Gute Künstler suchen stets nach Möglichkeiten, ein Werk mit neu­er Frische zu erfül­len, es einen Schritt wei­ter zu trei­ben, es anders zu machen.» Das, was Sennett auf der Bühne liebt, ver­ach­tet er dann bei den gröss­ten zeit­ge­nös­si­schen Schauspielenden, bei­spiels­wei­se bei Donald Trump. Schauspieler und Schauspiel, Bühne und Welt – seit der Moderne kaum mehr zu tren­nen. Quentin Dupieux fasst dies in sei­nem für die Viennale kon­zi­pier­ten Film «Yannick» von 2023 zusam­men. Der Inhalt? Am Theater wird ein lang­wei­li­ges Kammerspiel zum Besten gege­ben. Mittendrin mel­det sich laut­stark ein Zuschauer und beginnt zu schimp­fen. Er habe echt die Schnauze voll von der­art schlech­ter Kunst. Er sei hier, um sich zu unter­hal­ten, habe sich den Theaterabend von sei­nem klei­nen Einkommen abge­spart und sich auf Glamour und Schönheit gefreut und krie­ge nun die­sen Scheiss ser­viert! Es ist zum Schreien, Lachen und Weinen gut und the­ma­ti­siert, was denn eigent­lich mit der Wirklichkeit pas­siert ist.

War frü­her das Theater bes­ser? Wenn man Sennett liest, erhär­tet sich die­ser Verdacht. Das New Yorker Theater der 1960er-Jahre und dar­über hin­aus muss legen­där gewe­sen sein. Heute hört man bei uns kaum mehr etwas zu den Produktionen am Broadway, doch damals konn­ten Theaterstücke die Welt ver­än­dern. «The American Dream» von Edward Albee, urauf­ge­führt im Januar 1961 im Playhouse, schaff­te es im sel­ben Jahr noch ans Schillertheater in Berlin – so etwas kommt kaum mehr vor. Dieser ame­ri­ka­ni­sche Traum ist so böse, dass man nur noch lachen kann: ein Paradestück des Absurden mit vie­len klas­si­schen Motiven, die bis heu­te gel­ten. Die Männer sind unbrauch­bar, die Frauen kon­troll­süch­tig, nur «Grandma» ist sta­bil in ihrem Sarkasmus, die Weltenbühne zum Ende zu brin­gen.

Wunderbar sind Sennetts Ausführungen auch dort, wo er über Architektur nach­denkt. Als «gebau­te Macht» hat sie nicht nur im Theater die Möglichkeit, «Fantasie» regel­recht ein­zu­sper­ren. Shakespeares Globe bspw. wur­de 1599 erbaut und gehör­te fast ein Jahrhundert lang den Schauspielern. Seit 1680 gibt es die Staatstheater bei uns in Europa. Zuerst tauch­ten sie in Paris auf, um von dort die eigent­li­che Welt auf der Bühne fest­zu­zur­ren. Es war Louis XIV., der mit­tels Bühne die Aristokraten in die Knie zwang. Dreizehn Stunden dau­er­te das «Ballet roy­al de la nuit» – kon­zi­piert vom mäch­ti­gen Kardinal Jules Mazarin für den Prinzen und spä­te­ren König, der sehr früh die Rollen sei­nes Lebens schuf. Stundenlang wur­den die anwe­sen­den Aristokraten gequält mit der Botschaft, dass ihre Ambitionen auf eige­ne Regentschaft und Ländereien von oben, von die­ser Bühne her­ab, beer­digt wer­den. Die ful­mi­nan­te Schlussszene mit der auf­ge­hen­den Sonne, der wer­den­de König als eigent­li­cher Gott – well, seit da sind Bühne und Politik untrenn­bar gewor­den.

Es gibt gera­de für den Künstler «kei­ne hart­näcki­ge­re und qual­vol­le­re Sorge als die, mög­lichst schnell jeman­den zu fin­den, den er anbe­ten kann» – meint der Grossinquisitor in Dostojewskis «Brüder Karamasow». In die­ser legen­dä­ren Szene lässt der Patriarch Jesus Christus, der ihn besu­chen kommt, sofort in den Kerker wer­fen und hält ihm die gan­ze Nacht hin­durch eine Standpauke dar­über, dass Christus das mit dem Christentum ganz falsch ver­stan­den habe. Macht – nicht Liebe – schmie­de die Menschen anein­an­der. Eine Kulturlektion vom Feinsten: Echte Kultur, ech­te Religion, ech­te gute Regentschaft kön­nen eben nur Schauspieler … Das Spiel zwi­schen Theater und Strasse ist schon längst kein Spiel mehr. Es gibt kei­ne Unterscheidung zwi­schen dem, der so tut, und dem, der das So-Tun ertra­gen muss. Friedrich Dürrenmatt erzählt dies in «Die Schweiz ist ein Gefängnis». Seit der sozia­len Digitalisierung mit aso­zia­len Wirkungen, histo­risch seit der Wahl von Wohlfühlpräsident Barack Obama, leben wir im Panopticon von Sprechakten. Algorithmen ermög­li­chen gleich­zei­ti­ge Überwachung vie­ler Menschen durch ein­zel­ne Programmcodes: Nichts ist mehr wirk­lich und doch all­ge­gen­wär­tig.

Richard Sennetts Buch ist anre­gend, bleibt aber vol­ler Lücken. Vor allem sein Versagen betref­fend Frauen und die­se rea­le Welt von Frauen als Frauen schmerzt. Frauen durf­ten im anti­ken und im moder­nen Theater bis weit ins 19. Jahrhundert weder sin­gen, dich­ten, tan­zen noch spie­len. Dass Frauen über­haupt eine Bühne haben, wur­de von ihnen über Jahrhunderte hart erkämpft. Frauen bespie­len die Bühnen aber immer noch nicht wirk­lich, und im Islam ist Frauen das Singen und Tanzen in der Öffentlichkeit bis heu­te ver­bo­ten. Doch für Sennett ist die­ses Darstellungsverbot, das in der wirk­li­chen Welt der isla­mi­schen Hochkultur die bru­ta­le Geschlechter-Apartheid auf­recht­erhält, kein Thema. Und zwar so kein Thema, wie sein theo­re­ti­sches Gemüse von Identität und Wortlosigkeit sein Geschichtsbuch über die Weltbühne domi­niert. Fürchterlich, schreck­lich, und war­um fällt das Sennett nicht sel­ber auf?

«Künstlichkeit ist Natürlichkeit», behaup­tet Richard Sennett zum Schluss und plä­diert für Gefühl, aus­ge­drückt ohne Worte. So been­det Richard Sennett sein Buch: sen­ti­men­tal. Dennoch emp­feh­le ich Sennetts Buch wärm­stens. Denn noch sel­ten habe ich im Widerstand gegen einen Text so viel über Kunst, Theater, Politik und Kultur gelernt. Und es zeigt sich: Wie so oft ist es das Gegenteil der eige­nen Überzeugung, das Erkenntnis schafft.

 
Richard Sennett: Der dar­stel­len­de Mensch. Kunst, Leben, Politik. Hanser-Verlag 2024