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Der Schnitter

Von Michael Zwicker – Ich tat kein Auge zu. Stattdessen starr­te ich über die im Dunkeln lie­gen­de Gebirgslandschaft mei­nes Kopfkissens hin­weg in die tie­fe Nacht hin­ein. Stille. Nur die Heizung flü­ster­te unun­ter­bro­chen unver­ständ­li­che Worte in mein Ohr. Ich horch­te ange­spannt. Vielleicht kann ich hören, wenn er kommt, dach­te ich. Er kam nicht. Als die Dämmerung lang­sam ihr Gesicht her­vor­streck­te, schlüpf­te ich unter der Decke her­vor.

Die Erinnerung an die letz­te Nacht schlich auf lei­sen Sohlen davon. Währenddessen stieg ich in der küh­len Morgenluft in die Höhe und über­blick­te die Dächer Zürichs. Ich ver­nahm das Klopfen mei­nes Herzens. Leben, dach­te ich. Über mein Gesicht husch­te Zufriedenheit. Der stär­ke­re Ehrgeiz folg­te ihr auf dem Fuss. Ich erhöh­te das Tempo, und damit auch den Puls. Er über­nahm die Führung und zeig­te mir gei­ster­haf­tes Leben. Vor mei­nen Augen spran­gen leuch­ten­de Sterne hin und her. Zu viel Leben kann unge­sund sein, dach­te ich und setz­te mich auf die näch­ste Bank. Die Sterne ver­schwan­den. Sie gin­gen zurück in die Nacht. In mei­ne Augen sta­chen statt­des­sen Kirchtürme. Sie über­rag­ten bei­na­he alle Geschäfts- und Wohnhäuser der Stadt. Wäre ich nicht in die­se Gesellschaft hin­ein­ge­bo­ren wor­den, so müss­te ich anneh­men, dass die Kirche die bedeu­tend­ste und mäch­tig­ste Kraft die­ser Stadt ist. Einst war sie es, ohne Zweifel. Die Kirchtürme sind die rie­si­gen Industriekamine der Vergangenheit, dach­te ich. Ihnen ent­steigt kein Rauch. Ihre Atemwege sind ver­stopft und mit einem Kreuz ver­sie­gelt. Die unzäh­li­gen klei­nen Kamine der Wohn- und Geschäftshäuser hin­ge­gen atmen. Kirchtürme sind Grabsäulen, dach­te ich. Die Toten, mehr noch als die Lebenden, machen aus uns was wir sind. Leben und Tod brau­chen wir für das täg­li­che Leben, aber den Tod allein um zu über­dau­ern. Ich erin­ner­te mich an ein Gebet das mit den Worten «Du bist gebe­ne­deit» beginnt. Ich wuss­te nie, was die­ses Wort bedeu­tet. Ich schloss dar­aus, dass wir nicht gebe­ne­deit sind, nicht mehr; höch­stens, wie ich kürz­lich von einem Strassenprediger auf «YouTube» ver­nahm, «ver­ma­le­deit».

Ein Klick riss mich aus mei­nen Gedanken. Ich zuck­te unmerk­lich zusam­men. Neben mir rag­te eine Säule in die Höhe, die ich zuvor nicht bemerkt hat­te. In ihrer Grösse mach­te sie den Kirchtürmen Konkurrenz. Sie lächel­te mir zu. Ich lächel­te krampf­haft zurück. In die­sem Moment begann ich zu begrei­fen. Ich wuss­te nun was geschah, woher die­ser Klick kam und was er zu bedeu­ten hat­te: Die Frau drück­te den Abzug ihrer Fotokamera, ein Schuss ging los, der Knall drang an mein Ohr und ich zuck­te zusam­men. Sie erschoss die Kirche. Sie töte­te den Moment. Sie töte­te mei­nen Gedanken und schluss­end­lich töte­te sie auch die­ses Bild und die­sen Text. Ich spür­te Schmerz. Ich blick­te an mir her­un­ter. Ich selbst wur­de getrof­fen. Das Ende naht. Das Papier und mein Hemd sogen sich voll mit Blut. Ich wur­de immer unle­ser­li­cher. Sterne hüpf­ten vor mei­nen Augen hin und her. Zuviel Leben kann unge­sund sein, dach­te ich. Massenmörder, dach­te ich. Das also sind Fotografen, nichts als Mörder. Ich atme­te ein letz­tes Mal tief ein, dann starb ich qual­voll. Ächz.

Foto: zVg.
ensuite, Februar 2013