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Der Meister des Augenblicks

Von Julia Richter - Henri Cartier-Bresson gilt als einer der besten Fotografen des 20. Jahrhunderts. In einer Ausstellung im Centre Pompidou wird deut­lich, was den Künstler zum Meister sei­nes Faches mach­te.

Nur einen Sekundenbruchteil spä­ter wäre die Symmetrie, die Gesamtkomposition des Bildes wie­der zer­stört. Hinter dem Bahnhof Saint-Lazare rennt ein Mann über einen Platz, der von Regenwasser über­flu­tet ist. Er spie­gelt sich im Wasser, und sei­ne Bewegung steht damit im dop­pel­ten Einklang mit dem klei­nen Plakat einer tan­zen­den Figur im Hintergrund.

«Derrière la Gare Saint-Lazare» (1932) illu­striert auf ein­drucks­vol­le Art und Weise, war­um Henri Cartier-Bresson als der Meister des «ent­schei­den­den Augenblicks» gilt. Der 1908 gebo­re­ne Fotograf, Maler und Regisseur schaff­te es mit sei­nem Gespür für die rich­ti­ge Bildkomposition, die Lebendigkeit der Realität in sei­nen Fotografien kunst­voll zu kon­ser­vie­ren.

Zehn Jahre nach dem Tod des Fotografen wid­met ihm das Centre Pompidou in Paris eine umfang­rei­che Retrospektive. Sie zeigt mit über 500 Fotografien, Zeichnungen und Dokumenten den Facettenreichtum des Werkes Cartier-Bressons, der im 20. Jahrhundert wich­ti­ge Massstäbe in der Fotografie setz­te.

Der Mitbegründer der Pariser Fotoagentur Magnum inter­es­sier­te sich für das Leben. Alltägliches dien­te ihm als Kulisse, sei­ne Protagonisten waren Obsthändler, spie­len­de Kinder, Handwerker. Dabei agier­te Cartier-Bresson nicht immer spon­tan: er wähl­te einen Hintergrund, der für ihn die rich­ti­ge Symmetrie auf­wies, und war­te­te dann gedul­dig auf den rich­ti­gen Moment für die Bildaufnahme. Ein kur­zer, ent­schei­den­der Augenblick, in dem alles stimmt: Licht, Bewegungen, Formen.

Mit sei­ner Leica-Kleinbildkamera berei­ste Cartier-Bresson unzäh­li­ge Länder und wur­de damit bald zu einem begehr­ten Pressefotografen. Etwa, als er 1948 die Beerdigung Mahatma Gandhis doku­men­tier­te, oder nach Stalins Tod in die Sowjetunion rei­ste um den Alltag der dort leben­den Menschen fest­zu­hal­ten. Letzteres beleg­te das poli­ti­sche Potential der Fotografie, denn die dort gemach­ten Bilder ver­deut­lich­ten der west­li­chen Welt, dass auch die abge­schot­te­te rus­si­sche Bevölkerung – ent­ge­gen der anti­so­wje­ti­schen Propaganda – ein ganz nor­ma­les Leben führ­te.

Das poli­ti­sche Engagement war dem Kommunisten Cartier-Bresson denn auch sehr wich­tig: mit sei­nen Bildern hielt er im Elend der Armut leben­de Menschen fest und ver­stand dies als Systemkritik. Er mach­te Fotos für die kom­mu­ni­sti­sche Presse und dreh­te poli­ti­sche Propagandafilme, bei­spiels­wei­se über den Spanischen Bürgerkrieg («Victoire de la Vie», 1938). Mit sei­ner «Kunst als Klassenkampf» kri­ti­sier­te Cartier-Bresson auch die wach­sen­de Konsumgesellschaft und reflek­tier­te das Verhältnis von Mensch und Maschine.

In Cartier-Bressons Werk ist die Grenze zwi­schen Voyerismus und stim­mungs­vol­len Nahaufnahmen, zwi­schen Neugier und Indiskretion porös. Doch die Ausstellung im Centre Pompidou zeigt, dass Cartier-Bresson zu Recht zu den gröss­ten Fotografen des 20. Jahrhunderts gezählt wird. Denn er reflek­tiert durch sei­ne Gabe, die Flüchtigkeit des Augenblicks fest­zu­hal­ten, ein­drucks­voll die Intensität und die Vielschichtigkeit des mensch­li­chen Lebens.

Ausstellung bis zum 9. Juni. Weitere Informationen unter www.centrepompidou.fr

Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2014