Der Live-Ticker – das letz­te gros­se Abenteuer im Journalismus

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(Constantin Seibt) –

Sie brau­chen noch ein Weihnachtsgeschenk? So schnell, so ner­vös wie Sie selbst in der Vorweihnachtszeit sind? Dann ist dies hier mein zweit­be­ster Tipp: Das brand­ak­tu­el­le Buch mit Live-Tickern aus dem Echtzeit-Verlag. Und Sie wol­len eine Party dazu? Morgen, Dienstag 18. Dezember, lesen rund ein Dutzend trink­freu­di­ge Journalisten ihre Ticker ab 20 Uhr im Kaufleuten, Zürich. Von Michèle Roten bis Daniel Ryser, Jürg Halter bis Thomas Meyer, Thomas Wyss bis Gion Mathias Cavelty.

Um zu wis­sen, was Sie im Buch und bei der Party erwar­tet, hier mein Vorwort.

 

Sehr geehr­te Damen und Herren,

dies ist ein Pionier-Buch. Eines, das erst im 21. Jahrhundert mög­lich ist. Eigentlich kann es nur schei­tern.

Denn es ist ein Buch über eine jour­na­li­sti­sche Form, die so viel Stumpfsinn, Zeitvernichtung und Grammatikfehler her­vor­ge­bracht hat wie kei­ne ande­re Form in der gan­zen, an Unfug nicht armen Pressegeschichte. Es ist ein Buch mit aus­schliess­lich Live-Tickern.

Der Live-Ticker wider­spricht allem, was man vom Leben und vom Schreiben weiss. Er ist die radi­kal­ste Form von Aktualität. Eingeführt wur­de er im Online-Journalismus, um des­sen Schnelligkeit opti­mal zu ver­mark­ten: auf der Jagd nach Klicks im Minutentakt.

Wirklich zwin­gend sind die Themen dafür sel­ten. Getickert wird über Ereignisse wie Katastrophen, Wahlen, Sport. Die meist auch par­al­lel im Fernsehen lau­fen. Und über Rituale wie Pressekonferenzen oder Gerichtsprozesse. Bei denen die Welt auch war­ten könn­te.

Ein ver­nünf­ti­ger Live-Ticker ist fast unmög­lich zu schrei­ben. Denn sein Konzept ist die kom­plet­te Überforderung. Des Autors. Des Schreibens. Und der Wirklichkeit.

Das Verhängnis der Echtzeit

Das erste, was der Live-Ticker-Autor tut, ist sei­nen besten Trumpf aus der Hand geben. Der Trumpf, den Schreibende zuvor immer hat­ten: die Zeitverzögerung.

Denn die Ware im Journalismus ist im Kern nicht Nachricht, Unterhaltung oder Kommentar, son­dern das, was jeder pro­fes­sio­nel­le Schreiber ver­kauft: kom­pri­mier­te Zeit.

Die Arithmetik dazu ist sehr ein­fach: Wenn ich als Journalist die grund­sätz­li­chen Fakten für einen Artikel zusam­men­ha­be, rech­ne ich mit einem Schreibtempo von 1000 Zeichen die Stunde. Diese 1000 Zeichen liest ein Leser in knapp einer Minute weg.

Das heisst: Es ist kei­ne gros­se Kunst für mich als Journalist, etwas cle­ve­rer, infor­mier­ter, coo­ler zu sein als der Leser, denn ich habe 60 Mal mehr Zeit, nach­zu­den­ken. Nicht nur zum Schreiben, son­dern auch zum Umschreiben: also um Dummheiten zu strei­chen, Sätze zu kür­zen und Pointen zu polie­ren.

Das Konzept von kom­pri­mier­ter Zeit ist auch das der Grund, war­um Leute gern lesen: Sie machen ein blen­den­des Geschäft. In einer Minute haben sie eine Stunde frem­de Denkarbeit oder mehr gewon­nen.

Diese Vorteile wirft der Life-Ticker-Autor radi­kal über Bord. Sein Vorsprung gegen­über dem Leser ten­diert gegen Null. Oder ins Negative. Er ist, etwa bei Sportreportagen, sogar lang­sa­mer als sein Leser, der die Sache eben­falls auf TV sieht.

Kurz: Ein gelun­ge­ner Liveticker braucht einen Autor in der Form sei­nes Lebens: licht­schnell, supe­rin­spi­riert, feh­ler­frei.

Die Wirklichkeit als Stümper

Und selbst die­ser Autor allein wür­de nicht genü­gen. Denn der Life-Ticker setzt auf ein extrem opti­mi­sti­sches Bild der Wirklichkeit. Im Alltag ist die Realität ein mise­ra­bler Autor, obwohl sie manch­mal wirk­lich ver­blüf­fen­de Ideen hat. Aber sie baut end­los Füllstoffe, Wiederholungen, schlech­te Formulierungen in ihre Stories ein. Selbst die dra­ma­tisch­sten Biographien bestehen zu 99 Prozent aus Routine: Rasieren, Essen, Sitzungen, etc.

Deshalb haben fast alle Künstler Schreiben nicht als Abbild, son­dern als Korrektur der Wirklichkeit begrif­fen. «Ein Drama ist das Leben, aus dem man alle lang­wei­li­gen Stellen her­aus­ge­schnit­ten hat», sag­te etwa Hitchcock.

Schlampt die Wirklichkeit wie gewohnt, hat der Live-Ticker kaum Chancen. Wird bei der Pressekonferenz Quark gere­det, schie­ben die Fussballer sich den Ball nur im Mittelfeld zu, hat man nichts zu schrei­ben. Und dann, wenn etwas pas­siert, wenn die drei ent­schei­den­den Sätze fal­len oder das Tor, dann läuft der Moment oft zu schnell. Und das Schreiben zu lang­sam. Ein atem­be­rau­ben­der Ballwechsel im Tennis wird dann wie folgt zusammengefasst:«15: 40 – tol­ler Backhandpassierball.»

Kurz: Der idea­le Life-Ticker bräuch­te eine traum­haf­te Wirklichkeit, ein ste­tig sich stei­gern­des Drama – das auch noch in schreib­freund­li­chem Tempo abrollt.

Was zum Teufel tun?

Kein Wunder, pro­du­ziert die­se Form so vie­le Scheusslichkeiten. Für einen wirk­lich gelun­ge­nen Ticker muss ein fast per­fek­ter Autor auf ein fast per­fek­tes Stück Realität tref­fen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist fast Null. Da aber der Life-Ticker nun mal exi­stiert, muss man trotz­dem mit ihm arbei­ten. Die Frage ist nur, wie?

Hier ein paar Vorschläge:

  1. Der Entertainer Sammy Davis Junior sag­te: «Du kannst immer impro­vi­sie­ren, wenn du per­fekt vor­be­rei­tet bist.» Tatsächlich lies­se sich viel gewin­nen, wenn man Zitate, Witze, Stories, Miniessays, Links zum Ticker-Thema schon vor der Arbeit zurecht­legt wie der Fernsehkoch die fix­fer­ti­gen Zutaten. Und sie dann nach und nach in die Pipeline jagt.
  2. «Kein Problem ist so ver­wickelt und bedroh­lich, dass man nicht davor weg­ren­nen kann», sagt das Kind Linus in einem Peanuts-Comix. Und hat Recht. Gerade bei Dingen, die der Leser gleich­zei­tig mit dem Autor sieht – etwa Sport oder TV-Shows ­–, lohnt es sich nicht, das Gesehene nach­zu­er­zäh­len. Stattdessen schreibt man lie­ber strickt sub­jek­ti­ve Sachen: Nebendinge, Frechheiten, Kommentare. Die Flucht ins Individuelle lohnt sich: Man lie­fert etwas, was sonst nie­mand lie­fern kann.
  3. Man wech­selt das Ticker-Thema, was in die­sem Buch eini­ge getan haben, und tickert über etwas, wo man halb­wegs die Kontrolle über den Ablauf hat: das eige­ne Leben. Das Baby, Liebeskummer, ein Kinobesuch. Das liest sich über­ra­schend attrak­tiv. So wie Staubsaugen zwar lang­wei­lig ist, jeman­dem in einer gegen­über­lie­gen­den Wohnung beim Staubsaugen zuzu­se­hen aber fes­selnd.
  4. «Betrug», schreibt Ambroce Bierce, «ist die Triebkraft des Geschäfts, die Seele der Religion, der Köder der Liebeswerbung und die Grundlage poli­ti­scher Macht.» Und, so lies­se sich hin­zu­fü­gen, das Rezept eines gelun­ge­nen Live-Tickers – das eben dar­in bestehen kann, nicht live zu sein, son­dern redi­giert und arran­giert. Und also erst mit Zeitverzögerung ins Netz gespeist wird. Damit lie­fert man dem Leser zwar Betrug, aber bes­se­re und des­halb ehr­li­che­re Arbeit.

Die Quellen des Nils

Aber trotz die­sen Hilfskonstrukten: Den per­fek­ten Live-Ticker kennt nie­mand. Weil ihn noch nie­mand geschrie­ben hat. Und gera­de des­halb ist die­se Form reiz­voll. Denn ein wirk­lich guter Live-Ticker gleicht den Abenteuern, über die man in sei­ner Jugend gele­sen hat: der Entdeckung Amerikas, der Erforschung der Nilquellen, der Erstbesteigung des Mount Everest. Er ist – neben einem Finanzierungsmodell für Tageszeitungen – der letz­te weis­se Fleck auf der Landkarte des Journalismus.

Bis es jemand schafft, wer­den noch vie­le schei­tern. Aber eines Tages wird es pas­sie­ren. Jemand wird einen rund­her­um wun­der­vol­len, schlacken­lo­sen Live-Ticker in Echtzeit schrei­ben.

Es wird dann ein gros­ser Tag sein. Der Tag, an dem das bei­nah Unmögliche plötz­lich Wirklichkeit wird. Dann, wenn die per­fek­te Inspiration eines Menschen zeit­gleich auf eine per­fekt insze­nier­te Schöpfung trifft.

Das Protokoll die­ses Tickers wird für die Pressegeschichte das sein, was für einen Menschen manch­mal der erste Kuss, die erste Nacht, das erste graue Haar ist: ein unwie­der­hol­ba­rer Moment.

PS: Das Buch, das ich – aus sehr nahe lie­gen­den Gründen – zu aller­erst als Weihnachtsgeschenk emp­feh­len wür­de, fin­den Sie: genau hier. Wer es etwa auf die­sem Link hier kauft, gehört für mich danach zur Familie.

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Dieser Beitag wur­de auto­ma­tisch per RSS auf unse­re Webseite gestellt. Der Originaltext ist über den Tagesanzeiger, dem Blog von Constantin Seibt – http://blog.tagesanzeiger.ch/deadline – zu fin­den.

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