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Der Journalist als Detektiv

(Constantin Seibt) –

Journalisten sind, falls sie nur etwas Ehrgeiz haben, Detektive. Die Frage ist nur, wo sie suchen sol­len.

Diese Frage stellt sich schon der erste Detektiv der Literaturgeschichte: Edgar Allan Poes küh­ler Logiker Auguste Dupin. Dieser fahn­det in sei­nem letz­ten Fall nach einem gestoh­le­nen Brief. Die Pariser Polizei hat die Wohnung des Erpressers mehr­mals durch­sucht. Ohne Resultat. Dupin fin­det den Brief schliess­lich dort, wo ihn die Polizei nicht sucht: an der sicht­bar­sten Stelle der Wohnung, auf­fäl­lig beschrif­tet, läs­sig hin­ge­wor­fen im Briefhalter. Dazu erklärt er neben­bei fol­gen­des:

«Es gibt ein Rätselspiel», sprach Dupin, «das auf einer Landkarte gespielt wird; die eine Partei ver­langt von der andern, daß sie ein gege­be­nes Wort fin­de – den Namen einer Stadt, eines Flusses, einer Provinz, eines Staates –, irgend­ein Wort, das in dem Durcheinander von Benennungen auf der Karte zu fin­den ist. Ein Neuling in die­sem Spiel sucht gewöhn­lich sei­ne Gegner dadurch zu ver­wir­ren, dass er ihnen Namen von aller­klein­ster Schrift zu suchen gibt, der Erfahrene aber wählt sol­che Worte, die in gro­ßen Lettern von einem Ende der Karte zum andern lau­fen. Diese ent­ge­hen, gleich den über­gro­ßen Plakaten und Schilderaufschriften in den Straßen, der Beobachtung infol­ge ihrer über­trie­ben gro­ßen Sichtbarkeit; und die­ses phy­si­sche Übersehen ist genau ana­log der Unachtsamkeit, mit der der Intellekt jene Erwägungen unbe­ach­tet läßt, die zu nahe­lie­gend sind.»

Damit beschreibt Poe zwei Philosophien des Versteckens und des Suchens. Sie sind bis heu­te leben­dig. Und tei­len jede ehr­gei­zi­ge Zeitungsredaktion in zwei Lager: die Anhänger der Lupe und die Anhänger des Weitwinkels.

Dabei geht es um eine zen­tra­le Frage: die Richtung der Recherche. Also um die Frage, wo die Geheimnisse, also die Storys lie­gen: im Kleinen und Verborgenen oder im Grossen, allen Offensichtlichen. Welchem Lager jemand ange­hört, ist eine Frage des Temperaments. Man hat die Wahl:

Die Frage, wel­che Lager man hier wählt, prägt im Journalismus gan­ze Karrieren.  Oft stär­ker als die Frage, ob man links oder rechts ist. Oder ob man zur Überwältigung des Lesers auf Boulevard oder auf Seriosität setzt.

Garten vs. Kolosseum

Anhänger der Lupe ver­gra­ben sich gern in Dossiers: sat­tel­fest in den Details, respek­tiert von den Spezialisten, miss­trau­isch gegen Eindringlinge. Wer den Weitwinkel bevor­zugt, maro­diert – und wird wie alle Entdecker und Plünderer nie ganz per­fekt über die Umgebung Bescheid wis­sen. Es ist die Frage, ob man den Garten wählt oder die Reise.

Das gilt für Forumszeitungen wie für poli­tisch gefärb­te Blätter. Die WoZ etwa wur­de als lin­ke Zeitung einst unter der Flagge «Gegenöffentlichkeit» gegrün­det. Nur wur­de, jeden­falls so lan­ge ich dabei war, nie die gering­ste Einigkeit dar­über erzielt, was das ist. Die eine Fraktion such­te sie in der Exklusivität der Nische: mit Serien über alter­na­ti­ve Wirtschaftskonzepte, Reportagen über Bio-Bergbauern, Aufsätzen über bul­ga­ri­sche Lyriker, Reportagen über Kuba. Lauter Dinge, die man nir­gends sonst fand. Die ande­re Fraktion ver­such­te sich dort zu schla­gen, wo alle ande­ren Medien auch waren, nur cle­ve­rer: Bundespolitik, gros­se Konzernskandale, Blockbuster wie James-Bond-Filme, Storys über die USA. Die unsicht­ba­re Frage war immer: Wählst du die Nische oder die Arena?

Das glei­che Problem stellt sich auch für die Recherche: Bestehen die wirk­lich inter­es­san­te Neuigkeiten wirk­lich aus Neuem? Oder nur aus einem neu­en Blick?

Wir – die Geheimdienstchefs

Das Dilemma ist uralt. Aber es ist im Journalismus des 21. Jahrhunderts aktu­ell wie nie zuvor.

Denn in ihrer Jugend waren Neuigkeiten ein knap­pes Gut und die Zeitung ihr Lieferant. Dann, in ihrer Blütezeit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, blieb orga­ni­sier­tes Wissen noch extrem teu­er. Reporter, die nicht in einem Weltblatt wie dem «Spiegel» arbei­te­ten, hat­ten meist kein brei­tes Archiv. Das heisst: Sie muss­ten sich auf weni­ge Dossiers kon­zen­trie­ren, um seri­ös arbei­ten zu kön­nen. Denn ohne Archiv hiess die Alternative: Meinung. Also im besten Fall klu­ger Schwurbel.

Doch das Internet hat das gründ­lich geän­dert. Im Prinzip ist heu­te jeder Mensch mit einem Computer ähn­lich gut infor­miert wie 1980 der DDR-Geheimdienstchef. Gigantische Archive ste­hen offen. Sicher, sie sind teils unvoll­stän­dig, teils vol­ler Klatsch, teils durch­setzt mit Fehlern. Aber das war in der Stasi nicht anders.

Das Netz erlaubt es dem heu­ti­gen Reporter, die Themen radi­kal zu wech­seln. Und von Fall zu Fall zu recher­chie­ren, was ihn inter­es­siert: Wahlkampf in den USA, Ästhetik von Comics, Bankenkrise, rus­si­sche Oligarchen, Einbalsamierungen im alten Ägypten.

Watergate – der per­fek­te Film

Die Helden des Recherchier-Journalismus im 20. Jahrhundert waren zwei Lokalreporter: Bob Woodward und Carl Bernstein. In Jahren zäher Recherche zwan­gen sie den Präsidenten der USA, Richard Nixon, zum Rücktritt. Der Fall Watergate hat­te alles, was eine gros­se Recherche bie­ten kann. 1. Endlose, hart­näcki­ge, trick­rei­che Fussarbeit. 2. Ein dunk­ler Informant in der Tiefgarage. 3. Harter poli­ti­scher Gegenwind. 4. Eine muti­ge Verlegerin, Katherine Graham, die auf alle Drohungen mit vier Worten ant­wor­te­te: «I say we print.» 4. Auf der Gegenseite eine Verschwörung bis in höch­ste Kreise, kom­plett mit schwar­zen Kassen, Bestechung, Abhörwanzen. 5. Und zum Schluss: Ein wirk­lich hohes Tier als Ziel – der mäch­tig­ste Mann der frei­en Welt.

Noch heu­te ist es unmög­lich, den Watergate-Film «All the President’s Men» über Woodward und Bernstein zu sehen, ohne  mit­ge­ris­sen zu wer­den von ihrem Mut, ihrem Können, ihrem Hunger. Er inspi­rier­te gan­ze Generationen von hart­ge­sot­te­nen Rechercheuren.

Im Nebenjob

Aber das war damals.

Fragt man sich, wer heu­te der meist zitier­te US-Journalist ist, so trifft man auf das kom­plet­te Gegenteil der bei­den Profis: einen bär­ti­gen Gelehrten in Gesundheitsschuhen mit rie­si­gen Kinderaugen. Einer, der nie das har­te Handwerk der Recherche lern­te. Und für den Journalismus nur der Nebenjob ist. Weil er im Hauptberuf Professor, Ökonom und seit 2007 Nobelpreisträger ist: Paul Krugman. Er wur­de von der «New York Times» 2000 als Kolumnist ver­pflich­tet. Eigentlich zu exo­ti­schen Themen wie Globalisierung und Wirtschaftsgeographie. Stattdessen schrieb er die gesam­te ame­ri­ka­ni­sche Presse an die Wand.

Wie schaff­te er das? Seine eigent­li­che Leistung war die eines Kindes. Er sah hin. Und schrieb, was er sah. Das genüg­te, um regel­mäs­sig schnel­ler, prä­zi­ser und siche­rer als alle Vollprofis in Politik- und Wirtschaftsressorts zu sein. Krugman beschrieb das Platzen der Blase der New-Economy, die unmög­li­che Mathematik der Busch-Steuerkürzungen, den Betrug mit den Massenvernichtungswaffen des Irak, die Fehler des Notenbankchefs und Orakels Alan Greenspan, spä­ter die Schneeballsysteme der Banken und die ver­hee­ren­de Sparpolitik Europas. Er war mit sei­nen Thesen anfangs erstaun­lich oft allein. Aber lag fast immer rich­tig. (Etwa in die­sem Kommentatorentest: Siehe Seite 18.)

Das Verblüffende dabei war, dass Krugman sei­ne Neuigkeiten nicht im Verborgenen fand, son­dern im Offensichtlichen; in Artikeln und Statistiken, die jedem zugäng­lich waren. Zu sei­nen Methoden sag­te er etwa:

Tu dei­nen Job und fin­de raus, was die­se Leute wirk­lich wol­len. Und damit mei­ne ich nicht tief ver­gra­be­ne Pläne; nor­ma­ler­wei­se sind sie ohne Aufwand zu fin­den. Man muss nur lesen, was die Leute gesagt haben, bevor sie es dem brei­ten Publikum zu ver­kau­fen ver­su­chen.

Ein paar Reporterkatastrophen

Das klingt nicht nach Zauberei. Die Frage ist, war­um dann fast alle Profis oft über Jahre blind blie­ben: gegen­über der Bush-Regierung, gegen­über der New-Economy- und der Häuser-Blase. Was lief schief?

Das Geheimnis des Offensichtlichen

Krugman schaff­te sei­ne besten Scoops mit sehr ein­fa­chen Mitteln. Weil er ein wenig in der Vergangenheit nach­las.  Weil er die Statistiken prüf­te. Die Fachliteratur kann­te. Und weil er nicht die Nähe der Verantwortlichen such­te, um off-the-record Geheimnisse zu erfah­ren. Sondern Distanz. Er sah sich die Zahlen aus der Nähe an und das Theater aus der Ferne.

Denn die Sorte Lüge, die Krugman recher­chier­te, war zu gross und zu offen­sicht­lich, um von den zu nahen Journalisten gese­hen, geglaubt, geschrie­ben zu wer­den. Diese hat­ten in ihren Artikeln meist alle Details gegen­ge­checkt, aber das Ganze nicht. Zu vie­le Profis über­sa­hen in der Jagd nach den klei­nen Skandalen den Skandal, der im System liegt: dem Finanzsystem, der Bush-Regierung, den Mechanismen der Sparpolitik.

Und vie­le tun es noch immer.

Kein Wunder, dass ein Professor in sei­nem Studierzimmer, belä­stigt von zwei Katzen, die sich gern auf die Tastatur legen, seit über 10 Jahren regel­mäs­sig die kalt­blü­tig­sten Profi-Rechercheure der USA schlägt. Und das in Teilzeit-Arbeit.

Das ist nur gerecht. Denn ehr­gei­zi­ge Journalisten sind alle Detektive. Und Paul Krugman ist schlicht der beste unter ihnen. Er ist der legi­ti­me Erbe von Auguste Dupin.

 

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