Der Film, die Welt, die Welt als Film

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Von Patrik Etschmayer – Schon seit mehr als zwan­zig Jahren wird immer wie­der davon gespro­chen, dass der tra­di­tio­nel­le, line­ar erzähl­te Film bald von einem neu­en Format abge­löst wer­de. Die Richtung die­ses neu­en Films wer­de durch das Publikum bestimmt, das an bestimm­ten Punkten jeweils bestim­me, wie es wei­ter­geht, wel­cher der zur Verfügung ste­hen­den Geschichtenstränge ver­folgt wer­de.

Diese Vorhaben schei­ter­ten immer wie­der – sowohl tech­nisch, finan­zi­ell als auch dra­ma­tur­gisch. Wobei natür­lich eine Rolle spielt, dass hier eigent­lich alles geschrie­ben sein muss. Und bei acht Verzweigungen mit je nur zwei Möglichkeiten gäbe es am Schluss 256 Stränge – ein unge­heu­rer Aufwand (selbst wenn man­che Stränge mehr­fach benützt wer­den könn­ten). Ausserdem wer­den Filme ja meist basie­rend auf einem «ele­va­tor pitch» finan­ziert: Wer sei­ne Story nicht im Lift zwi­schen Erdgeschoss und zwölf­tem Stock ver­kau­fen kann, kriegt kein Geld dafür – man ver­su­che das mit 200 unter­schied­li­chen Storys …

Doch der Misserfolg die­ses Konzepts beim brei­ten Publikum liegt woan­ders begrün­det: Die Leute wol­len Geschichten erzählt bekom­men und selbst nur ihre Fantasie zum Ausmalen die­ser Geschichten benut­zen – Interaktion ist gar nicht gefragt. Man beden­ke ein­fach: Der Ursprung aller Bücher und Filme liegt in der Tradition der münd­li­chen Überlieferung, einer Form, die ja gera­de­zu nach Interaktion schrei­en wür­de, wäre dies das Bedürfnis des Publikums.

Doch eben­so wenig wie einst im prä­li­te­ra­ri­schen Griechenland ein gros­ses Bedürfnis bestan­den haben dürf­te, den Erzählern der «Ilias» in die Geschichte zu rufen, dass gefäl­ligst Hektor im Kampf mit Achilles gewin­nen und die Erzähler die Story anpas­sen sol­len, hat heu­te das Film- und Kinopublikum den unwi­der­steh­li­chen Wunsch, die prä­sen­tier­te Geschichte – so sie denn eine gute ist – alle nase­lang zu ver­än­dern.

Denn eine gute Geschichte zieht einen Menschen mit, geht auf eine Auflösung oder die Katastrophe zu und ist in sich schlüs­sig. Eine gute Geschichte bie­tet etwas, was die ech­te Welt einem nie anbie­ten kann: eine Linie, Antagonisten und Protagonisten, eine Konklusion und das Wissen, wo jemand steht. Sogar wenn die Hauptperson mora­lisch frag­lich, nicht klar gut oder böse ist, aber nach­voll­zieh­bar han­delt, weiss der Zuschauer (oder Leser) was geht. Die Linie ist sicht­bar, und selbst Plot-Twists und mutie­ren­de Charakter (z. B. «Breaking Bad») wer­den wil­lig hin­ge­nom­men, wäh­rend der Geschichtenerzähler oder die Geschichtenerzählerin den Zuschauer führt, und das Publikum liebt es. Aus dem ein­fa­chen Grund, weil klar ist, dass es zu einem Abschluss kommt, zu einer wie auch immer gear­te­ten Auflösung. Das ist der gros­se Unterschied zur wirk­li­chen Welt, zu unse­rem Leben – denn in die­sen gibt es kei­ne Auflösungen. Bastarde gewin­nen, und man spielt selbst eine Rolle in einem Stück, das grös­ser und kom­ple­xer ist, als man es begrei­fen kann. Ein Facharbeiter in China kann so plötz­lich dar­an betei­ligt sein, dass zwei Schweizer Fabrikarbeiter ihre Stelle ver­lie­ren. Leute, die sich nie­mals tref­fen wer­den, sind Akteure unzäh­li­ger win­zi­ger Dramen, die zu ent­schlüs­seln unser aller Kapazität klar über­steigt.

In der Glanzzeit des Journalismus ver­such­ten Reporter, das Unfassbare fass­bar zu machen, indem sie die Komplexität der Welt zwar ver­ein­facht dar­stell­ten, aber nicht vor­ga­ben, dass alles so ein­fach gewe­sen wäre, wie man es gern gewollt hät­te. Das Publikum akzep­tier­te, dass immer nur Ausschnitte der Realität dar­ge­stellt wer­den konn­ten, die Protagonisten Teil eines noch grös­se­ren Spiels waren. Die Unübersichtlichkeit der Welt war eine akzep­tier­te Realität, mit der es sich zu arran­gie­ren galt.

Dann kam die Storyfizierung der News. Natürlich hat­te es auch in der ech­ten Welt schon immer «Bösewichte» gege­ben. Aber für eine gewis­se Zeit beschränk­te sich dies auf Politiker, die ganz klar die min­de­sten Normen der Zivilisiertheit bra­chen. Oder jene, die in die Geschichte ein­ge­gan­gen waren. Denn die Vergangenheit wird in der Regel immer in ein Narrativ ein­ge­bet­tet, eine all­ge­mein akzep­tier­te Geschichte. Wenn mit­un­ter neue Informationen zur Vergangenheit ans Licht kom­men, kann dies dazu füh­ren, dass die Geschichte umge­schrie­ben wer­den muss. Dies trifft meist auf gros­sen Widerstand, ja es kann sogar zu Staatskrisen und ernst­haf­ten Konflikten füh­ren. Als der Genozid der Türkei an den Armeniern in den Geschichtsbüchern Europas end­lich als sol­cher bezeich­net wur­den, führ­te das zu ernst­haf­ten diplo­ma­ti­schen Verwerfungen zwi­schen den Türken und den Nationen, wel­che die neue Geschichte aner­kann­ten.

Warum die­se Besessenheit mit der Vergangenheit, sogar durch die Mächtigen? Weil Geschichten mäch­tig sind. Die Geschichte eines Volks defi­niert, ob die­ses sich als Sieger oder Verlierer sieht. Die Geschichte eines Kriegs kann aus schmäh­li­chen Verlierern ver­ra­te­ne Helden machen (sie­he «Dolchstosslegende»), und die Geschichte und ihre Akzeptanz defi­nie­ren weit­hin, wie man sich in der Gegenwart benimmt. Die Aufarbeitung der Nazi-Zeit in Deutschland ist daher einer­seits bei­spiel­haft (unter allen, die Freiheit, Recht und Demokratie schät­zen) und ande­rer­seits ver­hasst wie die Pest (unter Alt- und Neu-Nazis), weil die­se Geschichte ganz klar von den Gefahren und den Schrecken einer Rechtsdiktatur spricht. Aus genau den glei­chen Gründen ist es so desa­strös, dass in Ländern wie Russland, der Türkei oder auch China die Geschichte nie auf­ge­ar­bei­tet wor­den ist und des­halb jeder Blödsinn und jede Grausamkeit zur Staatsdoktrin erklärt wer­den kann.

Immerhin war in unse­rem Kulturraum die­se Geschichte lan­ge Zeit prak­tisch unbe­strit­ten, da durch kri­ti­schen Journalismus die Fakten immer noch als Richtschnur des Alltagsdiskurses gal­ten.

Dies ist nicht mehr der Fall.

Die Geschichten besie­gen nun die Geschichte.

Es wird viel vom post­fak­ti­schen Zeitalter gespro­chen. Doch «post­fak­tisch» ist nichts als eine zeit­lich defi­nier­te Version von «nicht fak­tisch». Und «nicht fak­tisch» ist nichts ande­res als «fik­tiv».

Ein guter Teil der Politik von heu­te ist Fiktion, gescrip­tet von Agenturen und Marketing-Spezialisten. Fakten sind dabei nur noch Beigemüse, das belie­big ange­passt wer­den kann, wenn es denn not­wen­dig ist. Vorreiter in die­ser Art der hem­mungs­lo­sen Lüge war Fox News, und durch die Effizienz der Verbreitung von Memes in sozia­len Netzwerken ist die Scripitisierung der Gegenwart für vie­le Menschen zur Realität gewor­den. Verschwörungstheorien pas­sen eben­so in die­ses Schema wie die Verbreitung von hane­bü­che­nen Lügengeschichten über poli­ti­sche Gegner (Kinderpornoring in Pizzeria, Obamas Geburt in Kenia, Diskreditierung der Klimaforschung).

Ein Beispiel: Flüchtlinge wer­den zu Invasoren. Die Logik dahin­ter ist strin­gent: Flüchtlinge sind Resultat des Schicksals, von Umständen, Opfer des Kriegs, Menschen, die in den Malstrom des Chaos gewor­fen wur­den und ein­fach ver­su­chen, davon­zu­kom­men. Eine Invasion hin­ge­gen erfor­dert geziel­tes Handeln, Vorsatz, Aktoren, die den Krieg mit Vorsatz her­bei­be­schwo­ren und pro­vo­zier­ten, um nach­her eine Ausrede für die Flucht zu haben. Plötzlich haben wir eine Geschichte, haben Täter und Opfer.

Diese Art der Geschichte wird nun immer häu­fi­ger in den Trollfabriken von Russland gestrickt und in den sozia­len Netzwerken von «besorg­ten Bürgern» ver­brei­tet. Die Verschwörung – sei es durch das FBI gegen Trump, durch die Presse gegen die Wahrheit, durch die Plutokraten gegen das ein­fa­che Volk – ist all­ge­gen­wär­tig. Vor allem die Letztere hat sogar einen wah­ren Kern: denn Vermögen fliesst tat­säch­lich nach oben. Doch aus­ge­rech­net die Parteien der Milliardäre – sei­en dies nun die SVP oder die Republikaner – pro­fi­tie­ren von dem Gefühl, bestoh­len zu wer­den.

Dies, weil die für vie­le attrak­ti­ve­ren Geschichten – die Geschichten, in denen sie sich selbst als unschul­di­ge Opfer sehen und die VOLKS-Parteien als Retter auf­tre­ten – so ein­fach und strin­gent sind. «Wenn ihr uns wählt, wird alles gut, und alle ande­ren lügen – und die Geschichte geht gut aus»

Doch in Realität geht nichts ein­fach aus. Es geht immer wei­ter, und die Verlierer sind immer noch da, die ange­häuf­ten Schulden ver­schwin­den nicht, das Unrecht ist nicht ein­fach weg und wird nicht ein­fach durch einen Abspann über­blen­det.

Der Niedergang der Demokratien wie in Polen, Ungarn und der Türkei zeigt, dass vie­le Menschen lie­ber ein­fa­che, schlech­te Geschichten mit für sie befrie­di­gen­den Inhalten als Leitfaden für ihre Regierung als die Realität haben. Dass jene, die als Spielverderber auf­tre­ten und – basie­rend auf recher­chier­ten Fakten – «Stimmt nicht!» rufen, in der Folge als Lügenpresse und Fake News bezeich­net wer­den, ist da nur logisch.

Doch wer die Realität zugun­sten einer Geschichte, die ihm bes­ser gefällt, igno­riert, wird irgend­wann eine unschö­ne, über­ra­schen­de und womög­lich kata­stro­pha­le Kollision mit der Wirklichkeit haben. Denn die Realität passt eben mal nicht in einen «ele­va­tor pitch» – dar­an müss­ten wir uns jetzt ein­fach mal wie­der erin­nern.

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