- ensuite | kulturagenda | enBlog - https://ensuite.we-are.gmbh -

Der Ernstfall tritt ein

By Christian Felix

Es reg­net in Einem fort, und man ist froh, dass einen die Darsteller des Schauspiels „Rückzug“ in den Zivilschutzbunker bit­ten. Die Begründung: Wir üben den Ernstfall und wir machen uns mit der Bunkeranlage ver­traut. Ernstfall. Das Wort bleibt mit dem kal­ten Krieg ver­bun­den, mit dem immer wie­der her­bei fan­ta­sier­ten Überfall der Sowjetunion auf die Schweiz, mit Atomkrieg, Weltuntergang. Doch unter Tonnen teu­rem Schweizer Beton über­lebt man selbst den. Das beweist die nun fol­gen­de Führung durch die Anlage.

Freiheit in Gefangenschaft

Allerdings über­dau­ern die alten Vorstellungen vom Ernstfall die näch­sten Minuten nicht. In der Eingangshalle ist ein alpi­nes Landschaftsbild mit Geranienkästen davor auf­ge­baut. Ein Trachtenmann spielt Alphorn, eine Trachtenfrau zupft die Zitter. Heimatkitsch vs. Ernstfall. Geschützt wird im Bunker offen­bar das, was man in urschwei­ze­ri­scher Mundart Swissness nennt, bedroht durch deut­sche Invasoren, ame­ri­ka­ni­sche Steuervögte und euro­kra­ti­sche Teufel. Gott sei Dank dür­fen wir bra­ve Schweizer uns durch ein Holzhäuschen in das inne­re des Bunkers zurück­zie­hen.

Wir mar­schie­ren in Einerkolonne, wer­den in einem lan­gen Durchgang ein­ge­schlos­sen. Eine Zivilschützerin erklärt uns, dass es nun dar­um gehe, unse­re Freiheit zu ver­tei­di­gen. Dazu sei­en Disziplin, Gehorsam und Entbehrung not­wen­dig. Sehr ein­leuch­tend: frei sein heisst also sich der Bunkerordnung ganz zu unter­wer­fen, wenn nötig für vie­le Jahre (sie­he Weltuntergang). Um kei­ne fal­schen Sehnsüchte auf­kom­men zu las­sen, müs­sen per­sön­li­che Gegenstände jetzt abge­ge­ben wer­den. Nun ist es nicht mehr lustig. Ein mul­mi­ges Gefühl beschleicht die Eingesperrten. Gefangenschaftssyndrome zei­gen sich. Einige kichern komisch. Überall Panzertüren, Lackfarbe über Beton, Schleusen, Leuchtröhren, Lüftungsrohre. Und es wird ver­dammt eng, wenn, im ern­ste­sten Ernstfalle hier 250 Menschen ein­ge­bun­kert sind.

Ein einig Volk im Bunker

Die vier­zig Besucher machen sich durch ihre Gefühlsregungen selbst zu Darstellern des Bunkertheaters. Das Schauspiel hängt eben so von ihnen ab wie vom Bunkerpersonal. Dieses ver­teilt sich, heisst die Besucher von Raum zu Raum zir­ku­lie­ren, kom­man­diert sie her­um. Alle Anwesenden als Ganzes sind das Theater. Sie spie­len in einem rea­li­sti­schen Stück in einem sehr rea­len Raum mit. In die­sem Punkt gelingt das Unternehmen „Rückzug“. Hier ist das Schauspiel stark, zumal die vor­han­de­ne Anlage dra­ma­tur­gisch geschickt genutzt wird. Aus den Lüftungsrohren erklin­gen Schweizer Heimatlieder (D’Appizöller sönd losch­tig… s’wott es Fraueli z’Märit gah…) – und die Sehnsucht – ver­kör­pert durch einen Geigenspieler kriecht durch die Schächte. Sie erfasst selbst das ener­gi­sche Bunkerpersonal. Eine jede und jeder hat einen per­sön­li­chen Gegenstand hin­ein­ge­schmug­gelt. Damit rücken die Darsteller auf die Stufe der Besucher. Wir sind nun ein einig Volk von frei­en Schweizern. Eine net­te Brasilianerin darf selbst­ver­ständ­lich dabei sein, darf sogar die Tagesordnung vor­le­sen, auch wenn sie nie­mand ver­steht: „Sibene Uhr, Fruggsetick fase…“

Das schwar­ze Schaf

Doch die Einigkeit ist von kur­zer Dauer. Aus einem Schacht kriecht ein abge­wie­se­ner Asylant. Er hat sich hier als ille­ga­ler Bewohner ein­ge­ni­stet. Das geht gar nicht, denn es ist ja der Ernstfall ein­ge­tre­ten. Der Illegale wird, nach hef­ti­gem Streit, aus der Anlage gewie­sen. Bei die­sem und eini­gen wei­te­ren insze­nier­ten Ereignissen geht die Wirkung des Stücks etwas ver­lo­ren. Seine Kraft beruht dar­auf, dass es stets auf der Kippe zwi­schen Schauspiel und Wirklichkeit balan­ciert. Obwohl an sich gut gespielt, wirkt die Asylantenszene in die­sem Zusammenhang zu aus­drück­lich. Dass Asylanten in Zivilschutzanlagen woh­nen müs­sen, haben wir auch ohne die­sen Auftritt begrif­fen.

Die Führung durch den Bunker lohnt sich trotz­dem. Sie macht Lust auf mehr Theater an unge­wöhn­lich rea­len Schauplätzen. Hebt den Hintern von den Theaterstühlen! – möch­te man am Ende aus­ru­fen. Abgesehen davon haben die Beteiligten am Schauspiel die Anlage auf­wän­dig und wir­kungs­voll für das Theaterexperiment vor­be­rei­tet.

: http://www.kulturkritik.ch/2013/ruckzug/