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Dem Lapsus ver­schrie­ben

By Carmen Beyer

Etwas unschein­bar wirkt er auf der Bühne «Im Hochhaus»: Grau geklei­det, dane­ben der schwar­ze Klavierflügel. Doch wenn Kabarettist Marco Tschirpke beginnt, mit ver­schmit­zen Lächeln schlitz­oh­ri­ge Verse ins Mikro zu schleu­dern, dar­auf­hin auf dem Piano recht unver­schämt musi­ka­li­schen Selbstverständlichkeiten den Garaus macht und dann ganz bei­läu­fig bemerkt, man kön­ne sich die Suche nach dem Faden im Programm getrost spa­ren, den gebe es näm­lich nicht – spä­te­stens dann däm­mert es dem Zuschauer: Rechnen Sie mit nichts, sei­en Sie aber auf alles gefasst.

Könner der (un)willkürlichen Verfehlung

Dabei hat sich der Berliner für sein vier­tes Soloprogramm «Am Pult der Zeit», mit dem er für zwei Tage auf der Kleinkunstbühne des Migros Kulturprozent gastier­te, dem Rat des Grossmeisters Goethe bedient: Nicht am Sujet über­he­ben sol­le man sich, son­dern lie­ber erst den klei­nen Dingen zuwen­den. Wie wäre es bei­spiels­wei­se mit einem Gedicht übers Staubwischen? Allerhand sol­cher aber­wit­zi­ger Alltagslyrik fin­det sich in Tschirpkes selbst­ge­schrie­be­nen Texten und kom­po­nier­ten Liedern. Seine Lapsuslieder – wie er sei­ne Kurzkompositionen bezeich­net – über­schrei­ten sel­ten die Minutengrenze. In ihrer Kürze sprü­hen sie vor Scharfsinn und Frechheit in Klang und Wort: Virtuos wer­den ange­fan­ge­ne Phrasen zer­stückelt, bricht eine Stimmung in die ande­re. Tschirpkes Spiel ist sel­ten abseh­bar und statt­des­sen durch­setzt vom Zögern und Zaudern. Nicht sel­ten lässt er eine Melodie mit Vollbremsung an der Wand enden und zudem rei­chert er alles durch gewief­te Verse an. Mal mit, mal ohne Reim bringt jedes Wort eine Wendung und reisst dem auf­ge­bau­ten Sinn plötz­lich den Boden weg.

Dabei wir­ken vie­le Details impro­vi­siert und schei­nen aus dem Moment her­aus zu ent­ste­hen. Zum Beispiel, als ihn ein Handyklingeln aus dem Publikumsraum spon­tan zu einer furio­sen Improvisation am Instrument inspi­riert. Doch bei allem Zaudern und all den losen Blättern, die hier und da etwas acht­los auf den Bühnenboden fal­len, der Lapsus (Anm. d. Red.: lat. unge­schick­ter Fehler; Ausrutscher) ist nur bedingt Programm. Sowohl die gekonnt ver­knapp­ten Sprachwitze als auch das Klavierspiel strah­len von einer Präzision, die das Gegenteil beweist und Tschirpkes Expertise ver­rät. Tonsatz und Klavier hat er an der Universität stu­diert, um sich dann eine eigen­sin­ni­ge Mischung zu fin­den, die stark an Freestyle-Jazz-Elemente erin­nert.

Am Pult der Zeit gestan­den

Dabei ist ihm vom klas­si­schen Musikstück zum weich­ge­spül­ten Schlager und vom Staubwischen über Altmeister der Literatur nichts hei­lig. Kleine und grös­se­re Unverschämtheiten streut Tschirpke ins Programm,«verbessert» bei­spiels­wei­se Goethes Gedichte oder lässt in sei­nen Versen Günter Grass und das Kleinkind auf dem Töpfchen beglückt gleich viel «aus­drücken». Dann wie­der­um ver­bin­det er im Witz klei­ne Zufälligkeiten mit gro­ßen Geschichtsereignissen und erklärt auf unmög­li­che Weise das Grosse aus dem Kleinen her­aus. Zum Beispiel, wenn die Erinnerung an einen Wassertropfen, der beim letz­ten Regen in sei­nem Nacken lan­de­te, zur Köpfung Ludwigs IX hüpft.

Das ist kein Humor, der vor­aus­seh­bar ist oder sich in die übli­chen Kabarettthemen ein­ord­nen lässt. Daraus erklärt es sich, dass Tschirpke auch mal fei­xend sei­ne Hilfe anbie­tet und um Fragen bit­tet, wenn der Witz am Unverständnis hän­gen bleibt. Die Pointe steckt genau hier: Im intel­li­gen­ten Umgang mit dem Zuschauer und sei­nen Erwartungen. Fast könn­te man sich als Schüler füh­len, der die klei­nen Sauereien im Scherz des Lehrers geniesst. Dabei nimmt er sich selbst jedoch alles ande­re als ernst und beschei­nigt dem Publikum zutiefst selbst­iro­nisch: «Sie müs­sen nicht alles wit­zig fin­den. Darum geht es schon lan­ge nicht mehr»!

So folgt man Marco Tschirpke amü­siert «Am Pult der Zeit» durch unnüt­zes Wissen und lässt sich ger­ne vom Sprachwitz über die dop­pel­ten Böden hin­weg­füh­ren. Die Welt will er dabei nicht erklä­ren – und tut es auf eine Art doch. So klein die Sujets der Alltagslyrik, so unge­heu­er kurz die Lieder; am Ende ver­rät er uns vie­les über uns selbst – und wür­de das mit einem ver­schmitz­tem Lächeln ganz sicher bestrei­ten.

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