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Dass ich ein­mal eine Wiese

Von Peter J. Betts – Dass ich ein­mal eine Wiese, gar eine Magerwiese jäten wür­de, hät­te ich mir als Junge, hät­te ich mir als jun­ger Mann nie vor­stel­len kön­nen. Und was tue ich heu­te? Meine Frau sagt – Ironie liegt ihr –, das sei der Fluch der bösen Tat. Als Junge war ich zu faul zum Jäten: bei vier­und­zwan­zig Gartenbeeten ging es um das Ausreissen von Unkraut in den Kieswegen zwi­schen den den drei acht­be­e­ti­gen Rechtecken und dar­um her­um, sowie in den Erdweglein zwi­schen den ein­zel­nen Beeten, auch um die Blumenbanden rund um das Haus her­um, und noch dar­um, zwi­schen der Fabrik und dem Wohnhaus das Unkraut aus den Fugen zwi­schen den Bögen des aller­dings brei­ten Kopfsteinpflasters mit einem stump­fen Meissel her­aus­zu­krat­zen. Mit mei­nem spär­li­chen Taschengeld kauf­te ich Unkraut-Vertilger und begoss alle Wege und das Pflaster. Unkraut, welch bru­ta­le Wortmonstrosität, so typisch für unse­re Gattung: «das zu Entfernende», «mau­vai­se her­be», «weed». Oder Shakespeare, «Julius Cäsar», aber spie­gel­ver­kehrt: «Den guten Gründen müs­sen bess­re wei­chen»? Ich blick­te mei­ne Pflegemutter schein­hei­lig an, als Lauch, Erdbeeren, Sellerie ein­gin­gen. Sellerie hat­te ich eh nie gemocht. Meine Frau meint – natür­lich hier­zu wie­der­um iro­nisch – dass alle Untaten auf einen zurück­fal­len. Und was tue ich heu­te? Von Mai bis Oktober ver­brin­ge ich alle zwei bis drei Tage ein paar Stunden damit, von Hand Berufkräuter aus­zu­reis­sen (das­sel­be tue ich auch mit Goldruten oder Nachtkerzen); in den Magerwiesen – den Magerwiesen! – des Bachbettes und vor unse­rer Wohnung und jener unse­rer Nachbarn. Nicht mei­ne Untaten als Kind tra­gen die Schuld. Nein, es ist Frau K., unein­ge­schränk­te Herrscherin über die Umgebung unse­rer Siedlung. Invasive Neophyten, nennt sie z. B. (mei­net­we­gen das kana­di­sche) Berufkraut, und es nützt nichts, wenn ich von «Bienentrost» schwaf­le, weil das Meer weis­ser Blüten bis in den Oktober hin­ein den Bienen Nahrung bie­tet. Im sieb­zehn­ten Jahrhundert, etwa zur glei­chen Zeit wie die Kartoffeln, wur­de es nach Europa «ein­ge­führt». Weise Frauen benutz­ten aber schon im frü­hen Mittelalter das (ein­hei­mi­sche) Berufkraut, um böse Geister zu «beru­fen», d.h. zu ver­trei­ben; ein klei­nes Sträusschen davon in die Wiege eines Säuglings gelegt garan­tier­te, dass ihm – wenig­stens sei­tens böser Geister – nichts Schlimmes gesche­hen wür­de. Die kana­di­schen Indianer ver­wen­de­ten Blüten und Pflanzen (zau­ber­haft schön: das Bachbett vol­ler kana­di­scher Berufkräuter!) gegen Durchfallerkrankungen; es gilt hier (noch hat die Pharmaindustrie das ein­träg­li­che Potential nicht ent­deckt) auch als wirk­sa­mes Mittel u. a. gegen Arthritis, Blasenentzündung, Cellulitis, Würmer, Gicht, Rheuma, Asthma, Husten, Akne, Bluthochdruck. Und ich – auf Geheiss von Frau K. und ohne zu mur­ren – zer­stö­re es nach dem Prinzip: «Kill on sight!» Eine eigen­ar­ti­ge Politik der Kultur: Kartoffeln, Mais, Kirschen etwa sind gut (weil wir sie aufessen=ver-essen=fressen kön­nen, ton­nen­wei­se); Goldruten, Berufkräuter in frei­er Wildbahn gehö­ren zer­stört. Biorassismus in Reinkultur? Was uns nicht direkt nützt: weg! Haben Sie schon ein­mal über die Asylpolitik nach­ge­dacht? Wenn man sich bei­spiels­wei­se in der Schweiz men­schen­freund­lich gibt, lässt man AusländerInnen ein­rei­sen, so lan­ge hier nie­mand unter den Einheimischen die Dreckarbeit lei­sten will, und die Fremdarbeiter (sor­ry: «Gastarbeiter») kön­nen ihre Familien erst nach einem Jahr nach­rei­sen las­sen, aber dann wird ihre Aufenthaltsbewilligung eh abge­lau­fen sein, und man hofft, sie hät­ten in dem Jahr genü­gend Geld gespart, um der Nation Ausschaffungskosten zu erspa­ren. Und wer ohne Einreisebewilligung kommt, darf bei tadel­lo­sem Benehmen viel­leicht vor der Ausschaffung unent­gelt­lich Sozialarbeit lei­sen. Gnadenfrist? Den guten Gründen… Dabei gibt es wohl kei­nen ein­zi­gen ein­ge­bo­ren Schweizer, auch kei­ne ein­ge­bo­re­ne Schweizerin: bevor ihre erfolg­rei­che Invasion begann, gab es hier Buchenwälder, und dann gab es Hannibal, Suworow, die Franzosen, die auch alle gene­tisch ihre prä­gen­den Spuren hin­ter­las­sen haben wer­den. Ich töte die Schnecken, die mei­ne lie­be­voll gezo­ge­ne Clematis fres­sen wol­len. Interessenskonflikte kön­nen halt für die eine oder die ande­re Seite töd­lich aus­ge­hen. Ich habe mich aber (noch) dage­gen weh­ren kön­nen, den Sommerflieder aus­zu­rot­ten, weil ich sag­te, die ver­schie­den­sten vom Aussterben bedroh­ten Schmetterlinge fän­den hier eine Überlebenschance; Frau K. ist vor allem an Botanik inter­es­siert… Invasive Neophyten. Lieben Sie die schö­ne Natur, wenn Sie durch den Tannenwald – es hat immer weni­ger Weisstannen, die wach­sen lang­sa­mer – fla­nie­ren? In den Niederungen nörd­lich der Alpen hat­te es einst, auch hier rege­ne­te es damals wohl häu­fi­ger, dich­ten Buchenurwald (in Norddeutschland bereits zum (Kultur)erbe erklärt), bevor wir, die inva­si­ven Neophyten, ein­dran­gen, nach und nach schnell­wach­sen­des Holz in Reih und Glied ein­pflanz­ten, und mit schwe­ren Raupenfahrzeugen rasch das ern­te­rei­fe Holz ent­fern­ten, den Waldboden auf­wühl­ten und fest­stampf­ten (letz­te­res hier erst in den letz­ten paar Jahren), dass sich die Biotope unter der Erdoberfläche via Mutationen wer­den anpas­sen müs­sen. Invasive Neophyten. Das Aussterben der Mammuts kann dem Klimawandel oder einem Klimasturz in die Schuhe gescho­ben wer­den, das Aussterben des Bengal-Tigers nicht. Bei wel­cher Vorkommensdichte von spe­ku­la­ti­ons­träch­ti­gen Rohstoffen wer­den in Nordamerika den weni­gen noch übrig­ge­blie­be­nen Indianerstämmen die letz­ten zuge­si­cher­ten Reservate weg­ge­nom­men? Wann wei­chen die letz­ten Regenwälder unse­rer Gefrässigkeit? Würde der Westen – Menschenrechte hin oder her – die auf­stän­di­schen Libyer je unter­stützt haben, gäl­te es nicht, die Erdölquellen mög­lichst lan­ge zu sichern – Kohlendyoxydausstoss hin oder her? In Zimbabwe? Wann kommt Mugabe in Zimbabwe oder Den Haag vor Gericht? Wie gewinn­brin­gend ent­wickeln sich die Monokulturen im Amazonasgebiet? Bei unse­ren «grü­nen» Bemühungen geht es, aller­dings ohne dass es den mei­sten KämpferInnen bewusst wäre, ja nicht um die Rettung des Planeten, son­dern um den ver­zwei­fel­ten Versuch, unse­re Arbeitsbewilligung dar­auf ein biss­chen zu ver­län­gern. Und wie wir es gegen­über Asylanten bewei­sen: Weg, was über­flüs­sig ist oder scheint! Gut so, im Falle unse­rer Spezies. Frau K. Ist schuld? Wir alle? Die Schuldfrage ist in der Geschichte des Planeten nicht von Bedeutung. Die glei­che Intelligenz, die uns Neophyten die Invasion hier ermög­licht hat, das Ausrotten oder zum Teil Unterjochen ande­rer Kulturen und Völker, vie­ler Pflanzen- und Tierarten, die Trampelpfade durch Autobahnen, die Artenvielfalt durch lukra­ti­ve Kreatur-Normen zu erset­zen (was für eine Kultur der Politik!), wird es ermög­li­chen, dass der Planet und das Leben dar­auf sich ohne uns erho­len kön­nen wird, etwas ver­än­dert viel­leicht, mutiert, durch Neues ergänzt. Vielleicht trö­sten sich dann die Bienen am Meer der kana­di­schen Berufkräuter? Wie gesagt: Interessenskonflikte kön­nen halt für die eine oder die ande­re Seite töd­lich aus­ge­hen. Und ich ent­fer­ne wei­ter­hin ohne Widerrede Unkraut auf der Magerwiese. Frau K. gefällt es. Unkraut, welch bru­ta­le Wortmonstrosität, so typisch für unse­re Gattung: «das zu Entfernende», «mau­vai­se her­be», «weed». Dass ich ein­mal eine Wiese, gar eine Magerwiese jäten wür­de, hät­te ich mir als Junge, hät­te ich mir als jun­ger Mann nie vor­stel­len kön­nen.

Foto: zVg.
ensuite, September 2011