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Das rebel­li­sche Kind wird (hof­fent­lich nicht all­zu) erwach­sen

Von Jean-Luc Froidevaux - Die Existenzberechtigung der «Burg» wird kaum mehr in Frage gestellt. Zumindest soviel. Mussten die Reitschülerinnen und Reitschüler in den letz­ten zwan­zig Jahren doch immer wie­der ihr Tun und das­je­ni­ge ihres unfrei­wil­li­gen Umfeldes recht­fer­ti­gen. (Details zur Geschichte im neu erschei­nen­den Buch). Beim heis­sen Berner Beben Anfang der Achziger, miste­te die beweg­te Jugend die alten leer­ste­hen­den und her­un­ter­ge­kom­me­nen Ställe zum ersten Mal aus und befrei­ten sie vom Mief der ver­staub­ten Überreste eli­tä­rer Kultur (u. a. lager­te das Stadttheater dort sei­ne Requisiten) und Bürokratie, konn­te sich aber bloss ein hal­bes Jahr als auto­no­mes Begegnungszentrum hal­ten. Es folg­ten die Auseinandersetzung der Bewegung mit einer damals noch bür­ger­lich domi­nier­ten Stadtregierung, bis nach end­lo­sem Hin und Her, Räumungen, Vertreibungen auch von ande­ren Orten und zahl­lo­sen ille­ga­len Strafbars 1987 die neu for­mier­te Interessengemeinschaft Kulturraum Reitschule (IKuR) end­lich das Zugeständnis zu einer Nutzung aus­han­del­te. Es folg­ten vie­le inter­ne Diskussionen, die damals noch aus­schliess­lich in Vollversammlungen bis zum Konsens aller Beteiligten geführt wur­den der wahr­haf­tig gleich­be­rech­tig­ten Form, wenn man kei­ne Minderheiten über­ge­hen will. Die Reitschule über­stand auch meh­re­re Vorstösse von poli­tisch rechts­ste­hen­den Parteien (in den Anfängen der Nationalen Aktion, abge­löst durch die Schweizer Demokraten und der SVP), die Anfangs den «Schandfleck» jeweils «weg­zu­put­zen» und durch so «ori­gi­nel­le» Alternativen wie ein­ge­zäun­te Grünflächen, Parkhäuser, Sport- und Konsumpaläste zu erset­zen, spä­ter zumin­dest den Spielraum mög­lichst ein­zu­en­gen ver­such­ten. Woher die­se Abneigung? Die Metapher des «Schandflecks» lässt schlies­sen, dass man sich für etwas schä­men müs­se, und dies tut man ja bekannt­lich, wenn es einen selbst betrifft, man es aber lie­ber nicht öffent­lich machen wür­de. Liegt es also dar­an, dass man zu gewis­sen Teilen sei­nes Selbst nicht ste­hen kann, viel­leicht uner­füll­te Sehnsüchte nach einem ande­ren Leben hat (wer hat das nicht, hab ich auch), die­se aber nicht zu ver­wirk­li­chen wagt (fehlt mir oft auch der Mut), weil man Angst vor Ablehnung durch das Umfeld, vor der Unsicherheit hat? Wäre dies ein Motiv, ande­re für ihren Mut zu ver­ur­tei­len, oder wäre es nicht sinn­vol­ler, an sei­nem eige­nen zu arbei­ten?

 Weil es so stimmt Vier Mal stimm­te das Volk in die­sen zwan­zig Jahren über den Weiterbetrieb der Reitschule in der bestehen­den Form ab, vier Mal bewies es die Weitsicht und den Mut, sich für einen Ort der alter­na­ti­ven Kultur und der soli­da­ri­schen Lebensform zu ent­schei­den, auch, oder gera­de in dem Bewusstsein, dass die «Burg» nicht nur bequem ist. Weshalb sie ja auch einen wich­ti­gen Platz ein­nimmt: Im Berner Sozialleben; um der Tendenz zu einer von der Unterhaltungsindustrie als «cool» geprie­se­nen, ego­isti­schen und ego­zen­tri­schen Lebenshaltung eine lebens­wer­te Alternative ent­ge­gen­zu­hal­ten, wo auch die Unangepassten, Nonkonformen vor­be­halts­los akzep­tiert sind, und Leute, die mit­ar­bei­ten, Solidarität und Verantwortungsbewusstsein ler­nen. Lernen, sich auf­grund bes­se­rer Argumente statt Position und Macht durch­zu­set­zen, für ihre Überzeugungen ein­zu­tre­ten. Ich jeden­falls sähe mei­ne Kinder, die jetzt in die­ses Alter kom­men, durch­aus ger­ne in der Reitschule «rum­hän­gen». Bloss nicht so, wie die Kiddies, die ihre Langeweile und ihren Frust dort ablas­sen, Einrichtungen zer­stö­ren, weil es ja ein­fa­cher ist als anders­wo, wo ihnen mehr Sanktionen dro­hen. Gemäss Sandro Wiedmer vom Dachstock, der seit den Anfängen dabei war, gibt es lei­der immer mehr, die lie­ber ihren Frust behal­ten, statt sich kon­struk­tiv ein­zu­brin­gen. Sind sie alle im Konsumrausch auf­ge­wach­sen, ohne je gelernt zu haben, etwas mit sich anzu­fan­gen?

Im Berner Kulturleben; weil inter­es­san­te Kultur nie kon­ser­va­tiv sein kann, immer Sub- oder mit der Zeit Gegenkultur sein soll, immer her­aus­for­dern und in Frage stel­len, zum Denken und Fühlen anre­gen soll. Lieber die Kulturschaffenden sind nett, als dass es ihre Werke sind.

Und in der Berner Politik; meist wird zwar das kul­tu­rel­le Angebot der Burg begrüsst, die poli­ti­sche Arbeit aber in Frage gestellt. Bloss lässt sich dies nicht so ein­fach tren­nen, wie es zum Abbau der eige­nen kogni­ti­ven Dissonanz «gäbig» wäre. Jede Aussage ist poli­tisch! Soll es auch sein. Allerdings sind es ent­ge­gen gewis­ser Ängste durch­aus nicht gewalt­tä­ti­ge Radikale, die hier poli­ti­sie­ren die­se kom­men als Minderheit an die Demos, um ihrer Ohnmacht ein Ventil zu öff­nen und scha­den damit den vie­len ernst­haft Engagierten. Aber die Verantwortung dafür wird ger­ne an die Reitschule abge­scho­ben, die Demonstranten oft­mals gera­de­zu ein­ge­keilt und dort­hin getrie­ben, wie einst­mals wohl die Pferde.

Verdrängungspolitik Das Berner Stimmvolk unter­stütz­te die Reitschule auch in dem Wissen um die Missstände, die auf dem Vorplatz herr­schen; wohl mit der Einsicht, dass die­se nicht «haus­ge­macht», son­dern Resultat einer frag­wür­di­gen Politik in Bezug auf Drogen und Randgruppen sind, mit wel­chen sich die vie­len enga­gier­ten ReitschülerInnen tag­täg­lich abmü­hen müs­sen. Missstände, die von poli­ti­scher Seite auch ger­ne man­gels Lösungen an den gün­sti­gen «Sozialdienst» der Reitschule abge­scho­ben wer­den und dort in Einklang mit den eige­nen Grundsätzen für ein Zusammenleben ohne Gewalt, Rassismus und Sexismus, ohne Bereicherung, ohne Konsumzwang mit bei­na­he über­na­tür­li­cher Geduld ange­gan­gen wer­den.

Neben den eher harm­lo­sen Heroinabhängigen, die von der «selt­sa­mer­wei­se» gera­de in der näch­sten Umgebung ange­sie­del­ten und stets über­lau­fe­nen Drogenanlaufstelle her­über­fan­den, wer­den auch gewalt­be­rei­te Randgruppen auf den Vorplatz abge­scho­ben: Verlierer in unse­rer post­in­du­stri­el­len Informationsgesellschaft, die über wenig ande­re Artikulationsmöglichkeit als phy­si­sche Gewalt ver­fü­gen, die ihre Ohnmacht durch kur­ze Momente phy­si­scher Überlegenheit kom­pen­sie­ren. Absurderweise kam es, als es das «Stade de Suisse» noch nicht stand und die aus­wär­ti­gen Hooligans über den Nordring zum alten Fussballstadium anrei­sten, öfters zu gewalt­tä­ti­gen Ausschreitungen zwi­schen die­sen und den Dauer-«Gästen», obwohl es viel logi­scher wäre, wenn die­se Benachteiligten, die auch den­sel­ben flüs­si­gen Drogen zuspre­chen, sich ver­bün­de­ten. Die Polizisten, die den Vorplätzlern in Vertretung der Staatsmacht gegen­über­ste­hen, sind nur wenig pri­vi­le­gier­ter und natür­lich auch nicht die Nutzniesser der Macht, der sie die­nen, somit sogar ten­den­zi­ell auch Verbündete. Aber was schreib ich da, das ist ja längst alles klar. Ebenso, wie die Absurdität, dass nach wie vor vie­le Schweizerinnen und Schweizer eher kon­ser­va­tiv ein­ge­stellt sind, obwohl sich die Kluft zwi­schen den weni­gen finan­zi­ell und macht­po­li­tisch Bessergestellten und den vie­len zuneh­mend Schlechtergestellten immer wei­ter öff­net, eine wach­sen­de Mehrheit also für eine schrump­fen­de Minderheit auf­kommt, die­se ihr Kapital längst von der reel­len Marktwirtschaft los­ge­löst an der Börse expo­nen­ti­ell ver­mehrt und damit jeg­li­che Anstrengung in Form von Arbeit Hohn straft. Wie lan­ge lässt sich dies noch durch die Kaufkraft ver­tu­schen, indem die Lohneinbusse inter­na­tio­nal den Verlierern der Globalisierung expor­tiert wird? Immer mehr Leute müss­ten eigent­lich an einer Infragestellung die­ses Systems inter­es­siert und pro­gres­siv sein, schon rein aus ego­isti­schen Motiven, um ihren Anteil in Form von Lebensqualität, etwa an Orten wie der Reitschule, zu for­dern und nicht bloss den bil­li­gen Ersatz davon in Form von res­sour­cen­ver­schleu­dern­den Ersatz-Spielzeugen.

Wem gehört die Stadt? Nicht eher den Bewohnern als dem Kapital? Finanzen benö­ti­gen kei­nen Raum, eig­nen sie aber immer mehr davon an; die paar Quadratmeter Freiraum der Reitschule reprä­sen­tie­ren hof­fent­lich gegen­über den vie­len Quadratkilometern Konsumzone (sind die «Schandecken» nicht eher die welt­weit stan­dar­di­sier­ten Filialen inter­na­tio­na­ler Konzerne, die uns pein­lich sein müss­ten, weil wir ihnen kei­ne eige­ne Kultur ent­ge­gen­zu­stel­len ver­mö­gen?) noch nicht anteils­mäs­sig die Minderheit, wel­che Vorstellungen von Leben hat, die über den Kreislauf von Geldverdienen und ‑aus­ge­ben hin­aus­rei­chen, wel­che noch genü­gend Phantasie hat, sich ein har­mo­ni­sches, aber durch Auseinandersetzung berei­cher­tes Zusammenleben vor­stel­len zu kön­nen, in wel­chem der Einzelne nicht bemes­sen wird an Materie, Status und Macht, son­dern in sei­ner Einzigartigkeit akzep­tiert wird. Der Minderheit, wel­che Unangenehmes nicht ein­fach weg­weist oder ausschaf(f)t (ich sehe übri­gens sel­ten weis­se oder schwar­ze Schafe, öfters aber gefleck­te Kühe in die­sem Land ;-)). Eine Stadt hat Funktionen, wel­che über den rei­nen Marktplatz hin­aus­ge­hen; als sozia­les und kul­tu­rel­les Zentrum, wo die unter­schied­lich­sten Ideen und Vorstellungen auf­ein­an­der­tref­fen, diver­se Szenen und Lebensentwürfe Platz haben und neben­ein­an­der koexi­stie­ren, mit­ein­an­der agie­ren, ein­an­der befruch­ten. Die Urbanethnologie defi­niert Stadt unter ande­rem als: «…die zivi­li­sier­te Lebensform des Menschen», als: «räum­li­ches Forum der gesell­schaft­li­chen Auseinandersetzung».

Reitschüler als Vor-Reiter einer neu­en Gesellschaft? Die Reitschule ist ein selbst­or­ga­ni­sier­ter Betrieb, in wel­chem über tau­send Leute regel­mäs­sig das eine oder ande­re tun, in ca. dreis­sig Arbeits‑, Betriebs‑, Bau- und Koordinationsgruppen gleich­be­rech­tigt Konzerte, Diskussionen, Theater ver­an­stal­ten, Filme zei­gen, kochen, wir­ten, poli­ti­sche Arbeit machen, eine Zeitung («Megaphon») her­aus­ge­ben, Flohmärit ver­an­stal­ten, Sport trei­ben, aber auch sel­ber am Haus bau­en, Holz bear­bei­ten, drucken, Leute betreu­en, einen Infoladen betrei­ben, put­zen, auf­räu­men, ein­kau­fen, admi­ni­stra­ti­ve Aufgaben erle­di­gen. Natürlich läuft dies nicht immer har­mo­nisch, gibt es viel aus­zu­dis­ku­tie­ren: etwa, ob jemand, der nichts für die Allgemeinheit bei­trägt, die glei­chen Rechte hat, wann es legi­tim ist, Löhne zu bezah­len (für wenig begehr­te Arbeit), wie man mit Problemen umgeht, die auch vor dem schwe­ren Holztor der Burg nicht halt machen, wie Gewalt, Drogenkonsum und Diebstahl. Die Burg ist weder ein rechts‑, noch ein herr­schafts­frei­er Raum, auch Territorial- und Machtansprüche sind nicht unbe­kannt, und, wenn es kei­ne for­ma­le Macht gibt, weil grund­sätz­lich alle gleich (und nicht man­che glei­cher) sein sol­len, besteht trotz­dem die Gefahr, dass sich auch nicht immer die bes­se­ren Argumente durch­set­zen. Das Ziel des stets ange­streb­ten Konsens ist schwer erfüll­bar, wenn sich Einzelne quer stel­len. Die mini­ma­le Macht des Einzelnen liegt dar­in, den Prozess der Allgemeinheit zu blockie­ren.

Denn, Utopien zeich­nen sich dadurch aus, dass sie, wie der Name schon sagt, kaum an einem Ort je rea­li­siert wer­den kön­nen, und in der zwan­zig jäh­ri­gen Geschichte muss­ten auch eini­ge Idealvorstellungen auf die Höhe der höl­zer­nen Dachbalken run­ter­ge­zo­gen wer­den. Anderes wur­de ein­fach auch pro­fes­sio­na­li­siert, weil die Ansprüche gewach­sen sind: So hat die IkuR heu­te nicht nur einen Miet- und Leistungsvertrag mit der Stadt, eine dop­pel­te Buchhaltung, bezahlt Steuern, ver­langt Eintritt (statt frei­wil­li­ger Kollekten), son­dern sogar eine Hausordnung und zeit­wei­se einen Sicherheitsdienst. Einige aus der ach­zi­ger Bewegung sehen die Autonomie ver­wäs­sert und füh­len sich dar­in bestä­tigt, dass sich eine Bewegung durch etwas Statisches, wie ein Gebäude eben, bis zum Stillstand run­ter­bremst. Aber wie damals geht es doch viel­leicht mehr dar­um, «die Mauern in Euren Köpfen ein­zu­reis­sen». Die Mauern, die ver­hin­dern, wei­ter­zu­den­ken. Die Mauern, die aus die­ser Angst gebaut wer­den, die so gut poli­tisch instru­men­ta­li­siert wer­den kann. Die Mauern, die ver­hin­dern, die Reitschule zu besu­chen, sich in der Reitschule zu betä­ti­gen. Willkommen sind alle, die sich Gewalt, Kriminalität Diskriminierung und Drogendeal ent­hal­ten, egal, wie ange­zo­gen, egal wie alt, egal woher. Beinahe täg­lich fin­den sich inter­es­san­te Veranstaltung im Dachstock, im Frauenraum (auch Männern zugäng­lich), im Tojo, im Kino, in der gros­sen Halle oder ein­fach ein gün­sti­ges öko­lo­gi­sches Essen im Restaurant Sous le pont. Die «Burg» ist schon lan­ge zur festen Institution gewor­den, zur Festung soll sie aber nie wer­den.

www.reitschule.ch

Bild: zVg.
ensuite, Oktober 2007