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Das Kleidertheater

Von Simone Weber – Geht man an einem mil­den Samstagnachmittag durch die über­füll­ten Strassen einer beleb­ten Stadt, fällt auf, in welch unter­schied­li­che Schalen wir Menschen uns hül­len. Bereits der ehr­wür­di­ge Soziologe Erwin Goffman erkann­te, dass mensch­li­che Kreaturen ein Leben lang Theater spie­len. Wir sind die rei­ne Inszenierung unse­rer selbst! So, wie wir ger­ne sein wol­len, möch­ten wir von ande­ren gese­hen wer­den, und schlüp­fen dafür in die ent­spre­chen­den Rollen. Und die Kleidung scheint ein Mittel zu sein, die­se Rolle aus der Distanz erkenn­bar zu machen. Wir unter­lie­gen dem schier unkon­trol­lier­ba­ren Zwang, ande­re nach deren Aussehen zu beur­tei­len. Jedem ist bewusst, das er auf­grund sei­ner Kleidung in eine Schublade gesperrt wird, genau so, wie wir es mit andern tun. Wir bestim­men also gewis­ser­mas­sen selbst in wel­ches Schema man uns pres­sen soll.

Was denkt ihr bei­spiels­wei­se über die­se gros­se schlan­ke Frau, bei der Bushaltestelle? In ihren hohen Schuhen mit dem lan­gen dün­nen Absatz und den schar­lach­ro­ten Sohlen, wirkt sie noch grös­ser und irgend­wie unnah­bar. Dazu trägt sie einen klas­si­schen Zweiteiler, unten Bleistiftrock, oben Blaser, aber nicht, wie ihr viel­leicht erwar­tet, eine Bluse. Nein, unter dem Blaser trägt sie ein Tanktop, weiss. Was ist ihre Rolle? Ist sie Geschäftsfrau? Wahrscheinlich wohl­ha­bend, auf­grund der Markenschuhe. Bank? Nein, geht nicht mit Tanktop! Werbung viel­leicht. Sieht nach Karriere aus, betont locker, hat irgend­wie etwas Stolzes, Dominantes, aber soll unge­zwun­gen wir­ken, so aus dem Ärmel geschüt­telt qua­si. Der Typ, der gera­de an ihr vor­bei gegan­gen ist, fährt ein­deu­tig die «Passt auf: ich bin voll krass drauf»-Schiene. Die Hosen hän­gen in der Mitte des Allerwertesten – «Ich nehm alles voll easy», oder viel­leicht eher: «Leckt mich am Arsch», oder: «Mir ist alles scheiss­egal»? Definitiv gehört er der Hip Hop-Szene an, Käppi auf dem Kopf wie Tick, Trick und Track, irgend­ein prot­zi­ges sil­ber­nes Blingbling-Kettchen um den Hals. Sieht aus als wür­de es ein Kilo wie­gen und soll wahr­schein­lich soviel sagen wie: «Ich hab mas­sen­wei­se Kohle». Blöd nur, dass man selbst auf Distanz erkennt, dass das Zeug dreck­bill­lig war und nur nach Geld aus­se­hen soll. Ja es gibt auch Menschen, die eine Rolle ver­kör­pern wol­len, aber es gelingt ihnen nicht ganz. Wahrscheinlich schmun­zeln wir des­halb über ihre Tarnung, weil wir sie ent­larvt haben. «Ich hab Geld und ich weiss was Trend ist, was man haben muss – und genau das besit­ze ich auch» sagen übri­gens auch sei­ne Sneakers, von Nike, es könn­te nicht grös­ser drauf­ste­hen. Auch inter­es­sant ist der jun­ge Mann etwas wei­ter hin­ten. Er trägt eine wei­te Leinenhose, an den Knien brei­ter als an den Knöcheln, gesteift in den Farben wein­rot, gelb und oliv­grün. Dazu ein hell­blau­es, lang­ärm­li­ges Baumwollshirt. Sandalen. Diese Sorte, die man auch zum Wandern und Baden tra­gen kann, mit den Klettverschlüssen. Sein dunk­les Haar ist wild und unge­zähmt. Was er uns über sich glau­ben las­sen will? Vielleicht: «Eure Mode ist mir egal, ich bin ein Fisch, der nicht mit, son­dern gegen den Strom schwimmt»? «Ich bin ein Subjekt in die­ser rie­si­gen Gesellschaftssuppe, das sei­ne Individualität aus­lebt und sich selbst treu bleibt»? Oder: «Ihr Kapitalisten mit euren unnö­ti­gen Fummeln ver­steht die tie­fe des Lebens nicht. Ihr wer­det nie zu Lebenskünstlern, die sich selbst treu sind. Ihr seid gefan­gen in euerm System und spielt ein Zahnrädchen im Untergang der Welt. Schaut mich an, ich bin eins mit der Natur, dem wah­ren Wesen des Lebens. Ich unter­stüt­ze kei­ne Kinderarbeit, kei­ne Chemie-Industrie, und bezah­le nicht für Markennamen.» Und die Dame in den dun­kel­blau­en Jeans, mit schwar­zem T‑Shirt und den sil­ber­nen Schläfen im sonst brau­nen Haar? Welche Rolle spielt sie uns vor? Die Unscheinbare, nicht gewillt auf­zu­fal­len? Angepasst, brav? Ein Samenkorn in der unend­li­chen Menschenmasse und damit glück­lich und zufrie­den?

Interessanterweise spie­len wir nicht immer die­sel­ben Rollen, son­dern wir wech­seln ab. Nach Lust und Laune sozu­sa­gen, nach Kontext und manch­mal viel­leicht sogar aus Manipulationsmotiven. Weshalb ver­füh­ren wir den Liebsten in ver­füh­re­risch schwar­zer Spitze, und nicht in ver­wa­sche­ner, weis­ser Baumwollunterhose? Weil auf dem Baumwollslip «Langeweile», und auf dem Spitzendessous «Sex» geschrie­ben steht? Ein solch win­zi­ger Fetzen Stoff ver­mag aus uns einen andern Menschen zu zau­bern. Warum die enge Jeans im Ausgang, und die beque­men Baggy-Pants im Job? Wann mit Kravatte, wann ohne? Anscheinend pas­sen wir uns auch vor­ge­ge­be­nen Rollenbildern an. Eine Braut ohne Brautkleid ist kaum vor­stell­bar. Ebenso wenig ein Bäcker in rot, oder ein Banker in Jeans und T‑Shirt, auch wenn er viel­leicht nach geta­ner Arbeit genau dies trägt.

Wir schei­nen unse­re Theaterkostüme bei andern abzu­schau­en, zu erfüh­len, wie sie auf uns wir­ken um dar­aus zu schlies­sen, wie wir auf ande­re wir­ken kön­nen. Dann bedie­nen wir uns für jede Aufführung aufs Neue in unse­rem mal klei­nen, mal gros­sen Fundus, auf der Suche nach dem per­fek­ten Outfit für die­se oder jene Inszenierung.

Foto: zVg.
ensuite, Oktober 2010