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Das Januarloch

Von Luca Zacchei – Dr. Prof. Rosenberg, renom­mier­ter Quanten-Physiker und Forschungsleiter beim CERN, war in die­ser Januarnacht ganz allei­ne im Hauptlabor des Traktes G. Sein halb­lee­rer Pappbecher ent­hielt noch kal­ten Kaffee und der Professor war unzu­frie­den. Die Forschung ging stockend vor­an. Eine anti­quier­te Wanduhr zeig­te gera­de auf Viertel nach zwei. Sie stand im kras­sen Gegensatz zur tech­no­lo­gisch inno­va­ti­ven Ausrüstung, wel­che das Labor zum teu­er­sten Arbeitsplatz auf Erden mach­te. Seit sei­ner Trennung ver­brach­te der Physiker noch mehr Zeit auf der Arbeit. Das bedeu­te­te: 18 Stunden pro Tag, inklu­si­ve Wochenenden und Feiertagen. Seine Frau war mit einem eso­te­ri­schen Schriftsteller durch­ge­brannt. Einem mit einem fran­zö­si­schen Namen: Bodeau, Bordeleau oder so was in der Art. Dr. Prof. Rosenberg tipp­te auf sei­nem Rechner den Benutzernamen «Schroedinger» und das Passwort «Grinsekatze» ein. Dann setz­te er sein rech­tes Auge auf ein Guckloch. Die Iris wur­de durch­ge­scannt und das System hoch­ge­fah­ren. «Gute Nacht, Professor Rosenberg. Willkommen beim Projekt ATLAS II. Wie kann ich Ihnen die­nen?». Der Professor ant­wor­te­te pikiert: «Sie könn­ten bei­spiels­wei­se damit die­nen, in dem Sie mich mit Herrn Doktor anspre­chen wür­den, Sie dum­me Maschine». Jetzt war er zu weit gegan­gen. Der Professor wuss­te zu genau, dass ihm die intel­li­gen­te Maschine dies zurück­zah­len wür­de. Athena, so hiess sie, hat­te vor kur­zer Zeit ein Emo-Update erhal­ten: ein emo­tio­na­les Software-Modul der letz­ten Generation. Dies war not­wen­dig gewor­den, damit Athena die Konsequenzen ihrer Handlungen bei der Beurteilung künf­ti­ger Szenarien empa­thi­scher ein­schät­zen konn­te. Die Maschine piep­ste und zeig­te auf ihrem Bildschirm in schnel­ler Reihenfolge unzäh­li­ge Aufnahmen von ver­är­ger­ten Menschen, wel­che sie auto­ma­tisch mit einer Suchmaschine gene­riert hat­te. Dann ant­wor­te­te Athena metal­lisch: «Sie Monster. Kein Wunder, dass Ihre Frau sie für die­sen gut­aus­se­hen­den Schriftsteller ver­las­sen hat». Herr Doktor Professor Rosenberg schluck­te leer. Der Gegenschlag war hef­ti­ger gewe­sen als erwar­tet. Er schwank­te zunächst wie ein ange­zähl­ter Boxer. Dann dees­ka­lier­te er aber die Situation indem er sich hüstelnd ent­schul­dig­te. Nachdem sich die Maschine eini­ger­mas­sen beru­higt hat­te, frag­te der Quanten-Physiker nach: «Liebe Athena, wie sehen die Resultate der letz­ten Matrix-Berechnungen des Colliders aus?». Die Maschine quen­gel­te zwar noch ein biss­chen, füg­te aber schliess­lich hin­zu: «Die Resultate der Simulation sind viel­ver­spre­chend. Die Fehlermarge liegt im infi­ni­te­si­ma­len, unde­fi­nier­ba­ren, unaus­sprech­ba­ren Nichts». Der Professor sprang auf. Stellte die­sel­be Frage noch­mals und erhielt die glei­che Antwort. Die Zeit war end­lich gekom­men. Jahrzehnte wis­sen­schaft­li­cher Forschung, die uner­müd­li­che Arbeit und der Schweiss unzäh­li­ger Experten und Spezialisten kul­mi­nier­ten in die­sem Augenblick. Dr. Prof. Rosenberg rich­te­te sei­ne Krawatte gera­de und ver­kün­de­te mit Stolz die fol­gen­den Wörter: «Athena, star­ten Sie den Countdown. Und möge Gott, was immer es ist, uns bei­ste­hen». Die Maschine zeig­te auf dem Bildschirm 42 Sekunden an und begann mit dem Rückwärtszählen. Das Surren des Colliders liess den Pappbecher vibrie­ren. Die Aufregung des Professors stieg ins Unermessliche: Fünf-vier-drei-zwei-eins… Am Schluss der Zählsequenz hör­te der Professor nur das Geräusch eines ein­zel­nen Popcorns, das gera­de auf­geht. Ein klei­nes schwar­zes Loch, von der Grösse einer Murmel, ent­stand aus dem Nichts. Und plötz­lich fin­gen die Strings an zu tan­zen, Elektronen und Protonen wur­den unschlüs­sig (Neutronen waren es schon), Up- und Down-Quarks tausch­ten die Plätze aus. Das Seiende wur­de nicht-exi­stent, das Nicht-Seiende exi­stier­te. Zeit und Raum ver­lo­ren die Orientierung. Heilige Kühe lan­de­ten auf dem Grill. Grillmeister ver­schlan­gen Quorn-Cordon-Bleus. Vollmilch ent­rahm­te sich auf der Stelle, wäh­rend Miley Cyrus an Gewicht zunahm. Das Ying spiel­te Ping-Pong mit dem Yang. Christoph Mörgeli und Roger Köppel teil­ten sich einen Joint mit Christian Levrat in der Binz. IKEA-Möbel bau­ten sich pro­blem­los von selbst auf. Bankiers und Financiers ris­sen sich in guter St. Fanziskus-Manier ihre Kleider vom Leibe und irr­ten durch die Zürcher Bahnhofstrasse. Der BSC Young Boys war plötz­lich Schweizer-Meister. Robidogs wur­den zu Doggybags. Silvio Berlusconi sag­te die Wahrheit. Die Preiszonen der SBB ver­schwan­den aus den Ticketautomaten. Polizisten betrie­ben Bordelle. Ueli Maurer eröff­ne­te auf dem Rütli ein Minarett und setz­te fei­er­lich die Burka auf. Gott war in 3D in den Kinos erleb­bar, das Wirkliche konn­te hin­ge­gen ledig­lich erahnt wer­den. Wladimir Putin war als Greenpeace-Botschafter unter­wegs. Ein Riesenchaos! Unten war oben, kalt wur­de zu heiss. Die letz­te CD von Justin Bieber wur­de zum UNESCO-Welterbe erklärt. Millionäre lan­de­ten in Lampedusa. Das war wirk­lich nicht aus­zu­hal­ten. Das Virtuelle war real, die Realität eine traum­haf­te Vision. Patienten ope­rier­ten Chefärzte. Mindestlöhne wur­den zu Maximallöhnen. Der Lärm stieg kon­ti­nu­ier­lich an. Die Farben ver­misch­ten sich in einem Karussell von Formen und Objekten. Das Universum atme­te kurz auf. Bis das schwar­ze Loch im Labor geräusch­los implo­dier­te. Doktor Professor Rosenberg stand reg­los vor dem Computer. Er kratz­te sich am Kopf und betrach­te­te die rau­chen­de Athena. Was war hier gera­de pas­siert? Seine Erinnerungen waren gänz­lich aus­ge­löscht. Der Pappbecher war hin­ge­gen noch halb­voll und heiss. Der Professor nahm einen Schluck und war grund­los zufrie­den.

Illustration: Rodja Galli / www.rodjagalli.com
ensuite, Januar 2014