Das gros­se Datenloch

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Von Dr. Regula Stämpfli - Vor eini­gen Jahren habe ich einen bekann­ten Möchtegernintellektuellen gefragt, wes­halb er sich wegen all der Löcher im System kei­ne Sorgen mache. «Welche Löcher meinst du denn?», frag­te er ver­blüfft. «Na, die weib­li­chen Leerstellen!» Übermütig ob sei­nem Interesse begann ich sofort einen gan­zen Katalog run­tezu rat­tern: Grace Hopper, Rosa Parks, Lise Meitner, Marie Curie, Mary Wollstonecraft, Hannah Arendt, Olympe de Gouges, Mary Shelley, Emilie Kempin-Spyri, Rosalind Franklin, Else Züblin-Spiller, Claire Bretécher, Eva Illouz, Naomi Wolf, Élisabeth Badinter und, und, und. Schon nach dem zwei­ten Namen zuck­te er mit den Schultern, mach­te die­se typi­sche Handbewegung der aka­de­mi­schen Elite: «Ach DIE Löcher! Das ist doch nichts Neues. Wart nur ein biss­chen, alles nur ne Frage der Zeit.»

Zwanzig Jahre spä­ter sind bei­spiels­wei­se im SRF die Experten zu drei Viertel männ­lich, gefühlt zu hun­dert Prozent, da sich die Expertinnen schon rein äus­ser­lich nicht von den Moderatorinnen unter­schei­den las­sen. Dies ist so gewollt: Frauen haben, wenn sie in der Öffentlichkeit tätig sind, mög­lichst wenig auf­zu­fal­len. Sind sie zu alt, zu dünn, zu dick, zu gross, zu schön, zu jung, zu gescheit, zu irgend­was, wer­den sie sehr schnell zum Freiwild der männ­li­chen Medien- und Wikipedia-Meute. Experten pas­siert dies nie: Sie über­le­ben selbst die gröss­ten media­len Verrisse. Die ein­fluss­rei­che FAZ schrieb zum Jahresende 2017 eine abwer­ten­de Beckmesserei über Richard David Precht. «Precht könn­te auch eine Matinee über die Schönheit der Aale, einen Workshop über Primzahlen oder ein Wochenendseminar über die Klassiker der alba­ni­schen Literaturgeschichte hal­ten, der Saal wäre voll (…). Precht ist über­all ein Star, das Thema ist egal.» Hiesse Precht Rosemarie, die Kollegen von «Spiegel», «Welt», «Der Süddeutschen», «Des Tages-Anzeigers» und vie­le ande­re deutsch­spra­chi­ge Medienheinis mehr hät­ten den Verriss genüss­lich über Wochen hin­weg in unter­schied­li­cher Färbung gegen Rosemarie Daniela Precht ver­wen­det. Bei Richard hin­ge­gen wur­de das Piece als Gemecker und Nörgelei eines durch und durch nei­di­schen Kollegen gegen den cha­ris­ma­ti­schen Denker unse­rer Zeit ent­larvt.

Lassen Sie mich von Elisabeth Wehling erzäh­len. Die 1981 gebo­re­ne, attrak­ti­ve Linguistin ver­fügt über einen Master von Berkeley und einen Ph. D. in Linguistik. 2016 wur­de ihr sehr span­nen­des Buch «Politisches Framing» ver­öf­fent­licht, und sie erschien regel­mäs­sig in deut­schen Medien zum Thema «poli­ti­sche Kommunikation». Mit ihrer Klarheit, Präsenz und impli­zi­ten Medienkritik, dass selbst die öffent­lich-recht­li­chen Medien die Antidemokraten und Rechtsaussen mit­tels «Framing» pushen wür­den, muss sie vie­le Journis auf­ge­schreckt haben. Für die ARD erstell­te Wehling 2017 ein «Framing-Manual», das erst 2019, nach vie­len öffent­li­chen Auftritten von Wehling, gele­akt wur­de. Die media­len Reaktionen waren ent­setz­lich und dien­ten aus­schliess­lich dem Zweck, Wehling als «public intellec­tu­al» zu ver­nich­ten. Unglücklicherweise mach­te es die Wissenschaftlerin den Journalisten leicht. Sie benutz­te Reizbegriffe wie «medi­en­ka­pi­ta­li­sti­sche Heuschrecken», um die pri­vat­recht­li­chen Medien zu cha­rak­te­ri­sie­ren, sie rede­te von «ideo­lo­gi­scher Monopolisierung» und von «Informationskapitalismus». Wehling krieg­te einen sei­ten­lan­gen Wikipedia-Eintrag, der sie als Person völ­lig dis­kre­di­tiert. Sie wird fami­li­är ver­or­tet, ihre Diplome wer­den nur «en pas­sant» erwähnt und die aus­schliess­lich männ­li­chen Wissenschaftskonkurrenten aus­schwei­fend zitiert. Dass es hier im deutsch­spra­chi­gen Raum «unter Kollegen» wohl nicht zuletzt dar­um ging, die Konkurrentin aus­zu­schal­ten, war kein Thema. Dabei sind eini­ge Merkmale der deut­schen Unkultur im Wissenschafts- und Medienbetrieb seit den 1930er-Jahren bekannt: Freiheitsangst, Frauenhass, Fortschrittscheu, Bildungsmangel, Kritikunfähigkeit machen aus vie­len beque­men Medienmenschen effek­ti­ve Verleumder, die dank kol­lek­ti­ven männ­li­chen Mehrheitsstimmen nur Frauen hoch­brin­gen, die in ihrem Gestus, ihren Inhalten und ihrer Biografie das Medienbild einer «intel­lek­tu­el­len Frau» nicht stö­ren. Auch Journalistinnen sind Mittäterinnen. So stam­men die übel­sten Kolumnen zu Michelle Obama von Maureen Dowd in der links­li­be­ra­len «New York Times». Schon gegen Monica Lewinsky, Sarah Palin und beson­ders gegen Hillary Clinton ver­ström­te die talen­tier­te Schreiberin Dowd ihr sexi­sti­sches Gift. Ich erwäh­ne sie nur, um nüch­tern fest­zu­stel­len: Frauen wer­den auch von ande­ren Frauen als «das Andere» wahr­ge­nom­men, kom­men­tiert und unsäg­lich oft kri­ti­siert. Politologinnen und Philosophinnen wer­den nach eini­gen Auftritten im TV, im Netz, im Radio – Mainstream wohl­ver­stan­den – sehr schnell eti­ket­tiert, kri­ti­siert und sogar gemobbt. Aktuellstes Beispiel: Die sehr geschei­te Lisz Hirn, deren neu­stes Buch, «Wer braucht Superhelden. Was wirk­lich nötig ist, um unse­re Welt zu ret­ten», die Bestsellerlisten stürmt, wird im «Tages-Anzeiger» am 14. März 2020 als «Männerversteherin» deklas­siert.

Datenlöcher sind eben nicht nur Leerstellen, son­dern ein Puzzleteil in dem sehr viel grös­se­ren Bild der Frauenvernichtungsstrategien gegen­über Menschen mit Menstruationshintergrund, die mit ihrem Denken und Handeln das Potenzial hät­ten, die Welt zu ver­än­dern.

Nehmen wir den Kulturbetrieb unter die Lupe. Wieso, ver­dammt noch mal, ist nicht jeder kunst­sub­ven­tio­nier­te Tag im deutsch­spra­chi­gen Raum von einem lau­ten und unun­ter­bro­che­nen Schreien und Wüten von Frauen beglei­tet? 78 Prozent aller deut­schen Theater wer­den von Intendanten gelei­tet. Das sind schon fast vati­ka­ni­sche Verhältnisse. 78 Prozent aller Inszenierungen auf gros­sen Bühnen wer­den von Männern in Regie betreut. 75 Prozent aller insze­nier­ten Stücke wer­den von Männern geschrie­ben. Die ein­zi­ge Berufsgattung im Theater, bei der Frauen etwas zu sagen haben, dafür aber mög­lichst lei­se blei­ben soll­ten, sind Souffleusen: 80 Prozent weib­lich. Ach ja. Assistentinnen sind auch sehr beliebt: 51 Prozent meist jun­ge Frauen tun für ihre Chefs alles und machen nur bei ganz glück­li­chen Umständen sel­ber mal Karriere. Doch selbst wenn Frauen Theater schrei­ben und machen, wie bspw. die aus­ge­zeich­ne­te Autorin und Schweizer Buchpreisträgerin Sibylle Berg, deren Schreibanfänge in der Frauenzeitschrift «Annabelle» nach­zu­le­sen sind, ver­schwin­den Frauen. Bergs Bücher funk­tio­nie­ren wie klas­si­sche Männerschreibe. Ihre Frauenfiguren sind aus­ge­spro­chen ekli­ge Personen, meist mensch­li­che Wegwerfware, ein­ge­bet­tet in ein Narrativ, das sich zwar ger­ne als Kritik ver­klei­det (und dafür von der Hochkultur beklatscht wird), doch bei nähe­rem Hinsehen Folter- und Vergewaltigungsszenen regel­recht zele­briert.

Die eh schon gros­se Mittäterschaft von Frauen gegen Frauen ist in den letz­ten Jahrzehnten unter den Bedingungen glo­ba­len Wettbewerbs noch gestie­gen (sie­he neu­es Buch von Thomas Piketty, «Kapital und Ideologie»). Deshalb ist das Werk von Caroline Criado-Perez, «Invisible Women», unent­behr­lich. Denn sie bringt wie kei­ne ande­re vor ihr mit männ­lich empi­ri­schen Daten die Geschlechtermisere welt­weit auf den Punkt. Sie tut dies etwas gar zu Appeasement-ori­en­tiert, oft macht­blind, doch offen­sicht­lich ist es wich­tig für unse­re Zeit, alle paar Seiten zu beto­nen, dass die teil­wei­se töd­li­chen Datenlöcher nicht absicht­lich frau­en­has­se­risch gegra­ben wur­den: Es sei lei­der ein­fach nor­mal.

Caroline Criado-Perez inter­es­sie­ren die gigan­ti­schen Alltags-Datenlöcher: Frauen müs­sen dicke­re Pullis im Büro tra­gen, weil die Männer nicht so leicht frie­ren. Die Schlange vor dem Frauenklo ist so lang und lang­sam, weil Toi-let­ten ent­lang der Piss-Frequenz von Männern errech­net wur­de. Männer brau­chen bekann­ter­wei­se fürs Pinkeln nur einen Bruchteil einer Frau, die Strumpfhosen, Unterhosen, Leibchen, Rock, Bluse und Mantel trägt und ein­mal im Monat für meh­re­re Tage Periode hat. Letztere führt zu immensen Schmerzen, meist als PMS ver­nied­licht, und beein­flusst Generationen von Frauen in ihrer Leistungsfähigkeit, doch guess what? Es wird fünf­mal häu­fi­ger zu Erektionsstörungen geforscht als zur Periode.

Mögen Sie noch wei­ter­le­sen? Ich merk­te, wie ich nach nur zehn Seiten so aggres­siv wur­de, dass ich rum­zu­schrei­en begann: «Das. Haben. Wir. Schon. In. Den. 1980er-Jahren erkannt, geprüft, ver­öf­fent­licht.» Nach wei­te­ren zehn Seiten schmiss ich «Die Vermessung der Frau» in der Wohnung her­um.

Leute: Warum tut ihr in Deutschland und in der Schweiz alle so, als wäre dies über­ra­schend, schockie­rend und vor allem neu? Hört doch end­lich auf, den uralten Diskriminierungsscheiss wie­der und wie­der als «neu­en Feminismus» zu ver­kau­fen und die belieb­te Kombi «jun­ge Frau, alter Mann» in den TV-Talks auf­zu­backen.

Egal. Caroline Criado-Perez packt kilo­me­ter­lan­ge Bibliotheksreihen zu Frauenthemen auf 411 lesens­wer­ten Seiten mit Anmerkungen. Ich hof­fe, dass «Invisible Women» end­lich als Ausgangspunkt und Standard genom­men wird. Zu befürch­ten ist, dass sich auch die­ses Werk in die lan­ge Liste von klu­gen Studien von Frauen, die alle ver­ges­sen wer­den, ein­rei­hen wird.

Frauen sind im Alter arm, weil die Renten- und Lohnsysteme an männ­li­chen Lebensläufen gemes­sen wer­den (mei­ne Dissertation von 1999). Wer sich um Menschen küm­mert, ver­küm­mert punk­to Einfluss, Geld und Macht (mein «Frauen und ihre Berufe» 2009). Frauen sind Ware, Männer die Käufer (mein «Die Macht des rich­ti­gen Friseurs» 2007). Frauen reden zu Frauenthemen, Männer zu allem (mein «Trumpism» 2018 und «Vom Stummbürger zum Stimmbürger» 2003). Frauen sind in der Medizin «Mängelwesen» (mein «Corpus Delicti» aus «Macht des rich­ti­gen Friseurs» 2007). Frauen sind sexu­el­ler Gewalt beson­ders aus­ge­setzt, in der Prostitution sind zu 80 Prozent Frauen und Transmenschen tätig (mein «Liebe in Zeiten der Grausamkeit» aus «Macht des rich­ti­gen Friseurs» 2007).

So far, not­hing new. Frauen sind im Winter gefähr­de­ter als Männer: Denn die­se fah­ren Autos, und bei Schneefall wer­den Strassen als Erstes geräumt, nicht die Gehwege. Es gibt weni­ger Pianistinnen, weil Klaviertasten auf männ­li­che Hände genormt sind und nur Menschen mit lan­gen Fingern dem Steinway Töne ent­reis­sen kön­nen. Frauen ster­ben eher als Männer an Herzinfarkten. Dies, weil die Symptome zur Früherkennung nur für Männer gel­ten. Alexa, Siri et al. mögen kei­ne Frauenstimmen, obwohl sie sel­ber piep­sen: Sie sind auf männ­li­che Stimmerkennung pro­gram­miert. Es wer­den bei Tierversuchen kaum weib­li­che Ratten ver­wen­det, da sie auf­grund ihres Hormonhaushaltes schwie­ri­ger zu ver­mes­sen sind. Deshalb sind die mei­sten Medikamente nicht wirk­lich für Frauen ein­ge­stellt.

Caroline Criado-Perez hat recht, wenn sie sagt: «Eine von Daten beherrsch­te Welt igno­riert die Hälfte der Bevölkerung.» Ich wür­de noch «unge­straft» dahin­ter­set­zen. An den Universitäten sit­zen mas­sen­wei­se Männer, die die Hälfte der Bevölkerung igno­rie­ren und gera­de des­halb Karriere machen. Die Missstände las­sen sich belie­big auf­li­sten. Wirklich erschüt­ternd fand ich das Beispiel «Hurricane Katrina», der 2005 über 30000 meist afro­ame­ri­ka­ni­sche Frauen obdach­los mach­te. In der Neuplanung und im Wiederaufbau von New Orleans wur­den die­se Frauen noch­mals ent­eig­net. Die zustän­di­ge Kommission behaup­te­te, die mei­sten Leute woll­ten nach der Zerstörung nicht mehr zurück in ihre alten Wohngebiete, obwohl unter den Betroffenen das Gegenteil der Fall war. Die sozia­le Infrastruktur der ehe­ma­li­gen Gemeinden wur­de zugun­sten gen­tri­fi­zier­ter Business-Interests und Statistiken, die sogar über drei Viertel der Bevölkerung igno­rier­ten, zer­stört. «Big Data» hat die also Macht, Abertausende von Leben zu zer­stö­ren – ein Befund, den ich schon 2007 und wie­der­um 2013 stell­te und dafür von eini­gen Schweizer Journalisten und Journalistinnen mas­siv ange­grif­fen wur­de. Ein wei­te­res poli­ti­sches Versagen fand in Afghanistan statt. Alle Friedensgespräche schlos­sen Frauen aus, obwohl die Frauenrechte die Basis für die Reformation in Afghanistan dar­stel­len. Doch inter­na­tio­na­le Organisationen wie die UNO, die zwar an Geschlechtergleichheit gebun­den ist, sagen sofort «Okay», wenn irgend­wel­che loka­len Patriarchen und Warlords sich wei­gern, gemein­sam mit Frauen am Verhandlungstisch zu sit­zen. «It’s a ratio­na­le that is cle­ar­ly a func­tion of sexism, a sym­ptom of a world that belie­ves women’s lives are less important than ‹human› lives, whe­re ‹human› means male.» (S.295)

Was tun?

«The solu­ti­on to the sex and gen­der data gap is clear: We have to clo­se the fema­le repre­sen­ta­ti­on gap», been­det Caroline Criado Perez ihr erschrecken­des Buch und hört damit genau dort auf, wo der erste Frauenkongress in der Schweiz 1896 begon­nen hat: beim Ruf nach bes­se­ren Statistiken und bes­se­rer Frauenvertretung. Weshalb dies nicht reicht, kön­nen Sie ger­ne in «Trumpism. Ein Phänomen ver­än­dert die Welt» nach­le­sen.

Caroline Criado Perez: Invisible Women. Exposing Data Bias in a World Designed for Men. London 2019.

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