Das Erstaunen übers Erstaunen

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Von Patrick Etschmayer - Die euro­päi­schen Politiker und Analysten wun­dern sich laut­stark über den Irrsinn des Wladimir Wladimirorwitsch Putin, der einen bru­ta­len Angriffskrieg auf das Nachbarland Ukraine führt. Dabei ist seit zwei Jahrzehnten ersicht­lich, wie der Diktator (ja, Lukaschenko ist nicht der letz­te Diktator von Europa, Putin klam­mert sich genau gleich skru­pel­los an sei­ne Macht) über Leichen geht, um sei­ne Macht zu sichern und sein gekränk­tes Ego zu befrie­di­gen.

So ist es nicht abwe­gig, davon aus­zu­ge­hen, dass ein Blutbad am Anfang sei­ner Amtszeit, 1999, gar nicht wie behaup­tet von tsche­tsche­ni­schen Terroristen, son­dern im Auftrag von Wladimir Putin ver­an­lasst wur­de. Als 3 Wohnhäuser mit Bomben in die Luft gejagt wur­den und 367 Menschen ihr Leben ver­lo­ren, wur­den die­se Anschläge den tsche­tsche­ni­schen Separatisten ange­la­stet und als Vorwand für den zwei­ten Tschetschenienkrieg ver­wen­det. Die blu­ti­ge Farce flog fast auf, als ein wei­te­rer Anschlag ver­hin­dert wur­de und als die Verwicklung von FSB-Agenten dar­in ruch­bar wur­de, behaup­te­te man, es habe sich um eine Übung mit Zuckersäcken gehan­delt. Eine unab­hän­gi­ge par­la­men­ta­ri­sche Untersuchung wur­de ver­hin­dert und Putin hat­te sei­nen Krieg, der sei­ne Position festig­te und es ihm erlaub­te, sei­nen ‹Bluthund› Ramsan Kadyrow zu instal­lie­ren, der jetzt auch Truppen in den Krieg schick­te.

Mit so viel Blut an den Händen vom Erringen der Macht, muss ein Herrscher danach alles tun, um sie zu hal­ten. Sprich: noch mehr Blut mit poli­ti­schen Morden ver­gies­sen. Sei dies an Oppositionspolitikern, Journalisten oder Insidern, die sich vom Regime abge­wen­det und ins Exil ver­ab­schie­det haben. So kann als sicher gel­ten, dass Putin vie­le Morde per­sön­lich auto­ri­siert hat. Dies mit zum Teil spek­ta­ku­lä­ren Resultaten: Der Mord an Alexander Litvinenko und des­sen lang­sa­mes, qual­vol­les Sterben an Polonium, der Novitschok-Anschlag auf Sergei Skripal und sei­ner Tochter (bei­de Anschläge in London) der zwar miss­glück­te, aber ein bri­ti­sches Kollateralopfer for­der­te, der Mordversuch am Oppositionspolitiker Nawalny (auch mit dem che­mi­schen Kampfstoff Novitschok), der Mord an der Journalistin Anna Politskowskaja… was? Dieser Mord an ihr sei nicht von Putin ver­an­lasst wor­den? Wer den Ablauf der Ermittlungen nur kurz anschaut, sieht sofort, was für eine fürch­ter­li­che Farce die­se waren, bei denen alle paar Monate neue Verdächtige, Schuldige und dann doch Freigesprochene prä­sen­tiert wur­den. Politskowskaja war mit ihren Recherchen zu Korruption und Machtmissbrauch ein Stachel im Fleisch Putins. Der Stachel wur­de gezo­gen und als Ex-Geheimdienstoffizier ist Putin Spezialist in sol­chen Dingen. Vor allem, seit er den Sicherheitsapparat eben­so wie die Justiz beherrscht. Ein paar wei­te­re Mordopfer mit Billigung oder gar im Auftrag Putins: Magomed Jewlojew, Paul Chlebnikow, Wladislaw Listew, Stanislaw Markelow und Anastasija Baburowa. Dann Auftragsmord 2019 in Berlin an Selimchan Changoschwili… nur um eine Liste zu begin­nen, die lan­ge fort­ge­setzt wer­den könn­te. Und auch vor aus­län­di­schen Politikern schreckt Putin ver­mut­lich nicht zurück. So deu­tet beim Giftanschlag auf den ukrai­ni­schen Politiker Wiktor Juschtschenko 2004 eini­ges auf eine Verwicklung Moskaus beim Verabreichen des Dioxins und auf einen ersten gewalt­tä­ti­gen Griff Putins nach der Macht in der Ukraine hin.

Schliesslich, noch blu­ti­ger, aber was die Opfer angeht anony­mer, die von ihm ange­zet­tel­ten Kriege, wobei der gegen­wär­ti­ge Ukraine-Konflikt der vor­läu­fi­ge Höhepunkt ist. Doch ver­ges­sen wir nicht den zwei­ten Tschetschenienkrieg, die Konflikte mit Georgien und natür­lich den ersten Angriff auf die Ukraine im Jahr 2014. Wobei damals ganz neben­her ein aus Holland kom­men­des malay­si­sches Passagierflugzeug abge­schos­sen wur­de, ein 298facher Mord, an dem nach rus­si­scher Lesart alle Schuld sein sol­len, aber nicht die rus­si­sche Luftabwehrrakete, wel­che die Boeing vom Himmel schoss oder die rus­si­sche Bedienmannschaft, die auf Geheiss Putins bei dem schmut­zi­gen Krieg in der Ostukraine mit­kämpf­te.

Gleichzeitig hul­digt Putin der abso­lut hem­mungs­lo­sen Korruption, lässt sich Paläste bau­en, kas­siert Unsummen für sich und sei­ne enge Verwandtschaft und ist ver­mut­lich einer der reich­sten Männer der Welt, dank der Frohngelder der von ihm gedul­de­ten, kreml­treu­en Oligarchen, die nun aber erste Absetzbewegungen zei­gen.

Putin zeig­te seit über 20 Jahren, dass er ein macht­gie­ri­ger und abso­lut skru­pel­lo­ser Mensch ist, der ohne Zögern sei­ne eige­nen Bürger in die Luft jagt, ver­gif­tet, bestiehlt, belügt, betrügt, täuscht und mani­pu­liert. Wobei die letz­ten 4 Dinge unein­ge­schränkt auch für vie­le im Rest der Welt gel­ten.

Es war und ist sicht­bar. Für jeden der und jede die wil­lens war, genau hin­zu­se­hen.

Warum also die gros­se Überraschung? Darüber, dass er tat­säch­lich noch einen Schritt wei­ter geht nach den vie­len Schritten zuvor? Dass er nach dem ersten Versuch 2014 nun noch einen wei­te­ren macht? Dass er das Völkerrecht als Klopapier benutzt?

Lag es dar­an, dass ein Deutscher Ex-Kanzler, der mit viel Geld und Gefälligkeiten und Posten in Staatsfirmen ange­füt­tert wur­de, einen, der Auftragskiller in die Welt schickt, als ‹lupen­rei­nen Demokraten› bezeich­net und dafür sorg­te, dass gün­sti­ges Öl und Gas nach Deutschland und Europa kamen?

Liegt es dar­an, statt einer Energiewende zu voll­brin­gen bei uns nur eine Energieabbiegung genom­men wur­de, die sich damit begnügt, die Taschen eines wei­te­ren Despoten (nach den Saudis, Kuwaitern und so wei­ter) zu ver­gol­den, so Putins Hochrüstung zu finan­zie­ren und man den neu­en Energiepusher so lan­ge glück­lich hal­ten woll­te, bis es nicht mehr anders ging?

Liegt es dar­an, dass unse­re Kultur des Wegschauens und Rationalisierens genau wie vor dem zwei­ten Weltkrieg durch Wunschdenken, Gier und Gleichgültigkeit ange­trie­ben wur­de? Gier nach Oligarchengeldern in unse­rer Wirtschaft, Wunschdenken nach einer Weltordnung ohne Widerspruch und Gleichgültigkeit gegen­über dem Stück für Stück zu Kleinholz gehack­ten Zivilgesellschaft Russlands und den Opfern, die auf die­sem Schlachtfeld zurück blie­ben?

Liegt es dar­an, dass wir uns die Welt ein­fach schön­re­den und degou­tan­te Persönlichkeiten wie Putin, Trump, Erdogan, Zuckerberg (der ja nicht unwe­sent­lich dar­an betei­ligt war, Putin zu hel­fen, Trump ins Amt zu brin­gen) etc. bes­ser zu reden, weil es dann ein­fa­cher ist, sich mit die­sen und ihren Untaten zu arran­gie­ren?

Schauen wir nun viel­leicht end­lich hin? Werden wir nun viel­leicht unser Massband nicht mehr nach Opportunität in die pas­sen­de Länge zie­hen, wenn es gera­de in den Kram passt? Oder ist es womög­lich schon zu spät? Ist der Ausverkauf von Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde und Realitätssinn bereits auf den Grabbeltisch ver­scho­ben wor­den? Schauen wir nur noch erschüt­tert die letz­ten trau­ri­gen Überbleibsel an und müs­sen rea­li­sie­ren, dass, nur weil man krampf­haft jah­re­lang weg­sah, sich die Realität lei­der nicht dem Wunschbild anpass­te, son­dern im Gegenteil immer schlim­mer wur­de das Projekt Humanismus geschei­tert ist? Und soll­te die­se Zäsur tat­säch­lich eine Wende brin­gen, dann wäre dies zwar erfreu­lich aber zugleich him­mel­trau­rig: Brauchte es wirk­lich einen blu­ti­gen Krieg vor der eige­nen Haustüre, um die Augen der Politik und Wirtschaft für die Realität zu öff­nen?

Bild: 3D-Modell von Putin, ger­en­dert. https://www.renderhub.com/squir/vladimir-putin-cartoon

 

 

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