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Dark Rider in Town

Teflon-Design, Flaggen wie vom apo­ka­lyp­ti­schen Reiter, metal­lisch gül­den, ohne Herz. So prä­sen­tiert sich das Zürcher Film Festival ästhe­tisch. Nichts Fröhliches, kei­ne wirk­li­che Farbe. No Emotion. Eine Veranstaltung vom Reisbrett. Auch das durch­aus freund­li­che Personal gewan­det sich in Schwarz wie auf zweit­klas­si­gen Werbebüroetagen, wo uni­for­mer Gestus feh­len­de Inspiration mimt. So ist man über­rascht, wenn die Moderatoren vor der Leinwand rich­ti­ge Menschen sind, Kompetenz und Wärme, ja Herzblut aus­strah­len. Als wür­den sie ent­ge­gen Order für Augenblicke das Visier lüf­ten, als blick­te man hin­ter die schwar­zen Masken.

Beerdigungs-Schmuck

So ist es schwie­rig, mit dem Zürcher Film Festival warm und dar­in fün­dig zu wer­den. Doch nicht nur eit­le Kritikaster, die ohne­hin immer etwas aus­zu­set­zen haben, die sich als «Weisse Ritter» gegen «Schwarze» in Pose wer­fen, kön­nen so emp­fin­den. Auch Frau S. vom Kiosk in Hottingen erei­fert sich: «Haben Sie die Fahnen gese­hen, ich dach­te, die sind vom Schwarzen Block. Ich geh’ doch nicht an eine Beerdigung!» – Die herbst­li­che Filmmeile ums Zürcher Bellevue scheint auch bei der pro­duk­tiv arbei­ten­den Bevölkerung nicht auf viel Begeisterung zu stos­sen als Ambiente für leben­di­gen Geschichten, für Filme im Dienste mensch­li­cher Wahrheitssuche.

Doch gute Filme las­sen sich durch auf­sit­zen­den Kommerz nicht klein­krie­gen.
Sie zäu­men das Trojanische Pferd von hin­ten auf, brin­gen fast natür­li­ches Licht ins Saaldunkel, spren­gen Korsett und Sattel von denen, die sie zurei­ten wol­len. So über­rascht das ach­te Zurich Film Festival mit einer gan­zen Reihe inten­si­ver Wettbewerbsbeiträge mit star­ken Bildern und berüh­ren­den Inhalten. Es dringt gar Poesie durch die lackier­te Rüstung und schil­lern­de Kulisse für die Massen. Worin besteht denn ihre Disziplinierung? – Es ist die (nicht nur) in Hollywood seri­ell pro­du­zier­te Mythologie einer Scheinwelt von Helden und Stars, wonach die Zuschauer, wenn auch nur kurz­zei­tig, wür­de­voll und breit­bei­ni­ger aus dem Kino schrei­ten. Doch hilft die Mimikry einer frem­den Identität im Alltag wei­ter?

Im Grunde spie­gelt die heroi­sie­ren­de kapi­ta­li­sti­sche Kulturindustrie nur den Sozialistischen «Realismus» wider, der auch kei­ner war, son­dern pure Ideologie zum Zwecke poli­ti­scher Ruhigstellung. Der Mann von der Strasse soll sich als Zuschauer nach erhöh­ten Fantasy-Figuren rich­ten. Popcorn et cir­cen­ses. Wobei in den Arenen des Massenkinos nur der Gladiatoren Siege über ande­re zäh­len, umso mehr, als das eige­ne Leben eher eine Kette von Niederlagen ist, eine kaum defi­nier­ba­re Grauzone an Kompromissen. So dass man gera­de­zu nach Schwarz und Weiss lechzt. Nach Gut und Böse – nach Erlösung.

Turm zu Babel auf Ground Zero

Als am 11. September 2001 in New York zwei Passagierflugzeuge in die Twin Towers rasten, und die­se nach Stunden der Agonie mit Suiziden aus höchst gele­ge­nen Fenstern bar­sten, war das nur die Spitze des Eisbergs. Wie Sichtbares meist das Ende einer lan­gen Entwicklung ist. Doch gilt öffent­li­che Wahrnehmung nur den sym­bo­li­schen Ereignissen, nicht den Prozessen, wel­che vor­aus­ge­hen, nicht den Ursachen. Das liegt auch am zeit­li­chen und intel­lek­tu­el­len Aufwand, was die kon­ti­nu­ier­li­che Wahrnehmung und Analyse der Verhältnisse vor­aus­setz­te. Sowie am ein­ge­schränk­ten öffent­li­chen Zugriff auf Information. Macht fin­det in Hinterzimmern und Wolkenkratzern statt. So galt der Frontalangriff isla­mi­sti­scher Fanatiker aufs World Trade Center denn auch einem Bollwerk west­li­chen Wohlstands in unmit­tel­ba­rer Nähe zur Wallstreet.

In der ersten Zeit nach dem ter­ro­ri­sti­schen Anschlag stand die Bevölkerung von Manhattan wie eine Familie zusam­men. Geeint in der Trauer um 3000 Tote. Es kam zu bei­spiel­haf­ter Solidarität über alle eth­ni­schen und Klassenunterschiede hin­weg. Auch 100’000 Arbeitsplätze waren ver­lo­ren. Man half sich gross­zü­gig. Nach einer ange­mes­se­nen Totenruhe für die Opfer in den Trümmern der Türme, wel­che mit über 400 m Höhe und mehr als 100 Etagen ein Wahrzeichen New Yorks, auch höch­ste Aussichtsterrasse der USA gewe­sen waren, woll­te man ein neu­es Zeichen set­zen. «Das Anlitz einer Stadt ist wie ein mensch­li­ches Gesicht. Wir hat­ten einen Teil unse­res Gesichts ver­lo­ren. Da war ein rie­si­ges Loch. Wir kämp­fen dafür, unse­re Stadt zurück zu erhal­ten!» sagt Christine von Gratstein im Dokumentarfilm 16 Acres (Richard Hankin, USA, 2012).

Aus einer Katastrophe «bibli­schen» Ausmasses ent­stand eine «bibli­sche» Vision von einem noch höhe­ren Turm. Diesmal nicht nur als kapi­ta­li­sti­sche Selbstfeier, son­dern wie die Freiheitsstatue im Hafen als Symbol, dass sich die freie Welt vom Terror gegen ihre offe­ne Gesellschaft nicht unter­krie­gen lässt. Zugleich soll­te das neue Gebäude auch noch in 1000 Jahren als Gedenkstätte von den Opfern von «9/11» erzäh­len. Doch je pathe­ti­scher die Parolen der Politiker und Wirtschaftsführer wur­den, je mehr sie Ground Zero auch zum Steigbügel für ihren Wahlkampf nutz­ten, desto mehr Sachzwänge stel­len sich der Realisierung neu­er Türme in den Weg, desto unter­schied­li­cher zei­gen sich die öko­no­mi­schen Interessen. Der Boden gehört der Hafenbehörde, 24 wei­te­re Institutionen haben Einspruchsrecht. Dazu müs­sen auch die Bürger von New York ange­hört wer­den. Pächter ist der Baulöwe Larry Silverstein – für 10 Mio. Dollar Miete im Monat und 12 Milliarden über 99 Jahre. Der Architekt Daniel Libeskind, Sieger des inter­na­tio­na­len Wettbewerbs, ist längst unfrei­wil­lig vom Baugerüst. Auch die Baukosten lie­fen schon bald aus dem Ruder und betra­gen bereits 7 Milliarden Dollar…

In sei­ner Reportage, span­nend wie ein Thriller, zeigt Hankin fast lehr­buch­mäs­sig das Wortgewirr beim kapi­ta­li­sti­schen «Turmbau zu Babel». Und auch, dass die Entstehung eines sol­chen Symbols, auch vor dem Hintergrund einer Jahrhunderttragödie, packen­der ist als des­sen Symbolkraft. Mit komö­di­an­ti­schem Schluss: Die teu­er­sten «16 Acres» der Welt sind auch 11 Jahre nach «9/11» noch nicht fer­tig über­baut, und der ein­mal so fei­er­lich gesetz­te Findling als Grundstein des geplan­ten 500-Meter-Turms wur­de, bei Nacht und Nebel, damit nie­mand davon erfährt, ent­fernt und ist schliess­lich wie­der beim Graveur von des­sen Inschrift gelan­det…

Was Nomaden wagen

Die Frühgeschichte berich­tet davon, wie Nomaden sess­haft wur­den. In der Spätgeschichte juckt es die Sesshaften wie­der unter dem Hintern und sie schwär­men aus. Aber nicht nur, weil es ihnen an Nahrung man­gelt, so den Migrationsströmen von Süd nach Nord, vom Land in die Banlieues der Städte, son­dern auch aus Sehnsucht nach der Unschuld. Sie wächst gera­de im Regime des Wohlstands. Unter der Last des Alphabets sucht man nach der Freiheit der Analphabeten.

So rei­ste der fran­zö­si­sche Maler Paul Gauguin (1848–1903) Ende des 19. Jahrhunderts von Paris nach Polynesien. In sei­ner Vorstellung war Tahiti ein exo­ti­sches Paradies, wo er, ohne arbei­ten zu müs­sen, ein ursprüng­li­ches und annä­hernd kosten­frei­es Leben wür­de füh­ren kön­nen: «Die glück­li­chen Bewohner des unbe­ach­te­ten Paradieses ken­nen vom Leben nichts ande­res als sei­ne Süße. Für sie heißt Leben Singen und Lieben», schrieb er 1890 an den däni­schen Maler Jens-Ferdinand Willumsen.

Auch der Genfer Schriftsteller Nicolas Bouvier (1929–1998) war von sol­chem Fernweh beseelt und ver­lor sich fast im Fieberdelirium in Sri Lanka, was der Dokumentarfilm Nomad’s Land. Sur les traces de Nicolas Bouvier (CH, 2008) von Gaël Métroz, ein­fühl­sam, aber auch bis an die Schmerzgrenze, nach­voll­zieht.

Dokumentarfilme, so die Erwartung, wen­den sich dem Leben zu, wie es ist. Doch sind auch Träume Realität für die, die ihnen nach­ge­hen. Auch die Auflösung im Licht Marokkos, im Niemandsland der Wüste: «The Sheltering Sky» heisst das Kultbuch des Amerikaners Paul Bowles (1910–1999), über den ein Schweizer Beitrag am Zürich Film Festival urauf­ge­führt wur­de: Paul Bowles: The Cage Door is Always Open (CH 2012) des US-Schweizers Daniel Young. Darin wird das Leben des illu­stren Autoren-Paares Paul Bowles und Jane Auer auf­ge­rollt, das von New York über die Pariser Bohème um Gertrude Stein schliess­lich in Tanger an Land ging, ohne je ihre inne­re Heimat zu fin­den. Auf dem Sterbebett, in sei­nem letz­ten Interview sagt der Schriftsteller, nebst Hemingway einer der wich­tig­sten Erzähler der USA und Epoche: «Meine Heimat ist das Reisen, ich möch­te nie ankom­men.» Bowles war nicht nur ein her­vor­ra­gen­der Autor, son­dern zunächst ein eben­so beach­te­ter Musiker. Zu des­sen melan­cho­li­scher Tonspur fängt das kurz­wei­li­ge Potpourri aus Interviews, Fotomaterial und zeit­raf­fen­den, ästhe­tisch sehr ver­spiel­ten Collagen ein Künstlermekka der Fünfziger und Sechziger Jahre ein als ein Fluchtpunkt für Freiheitssucher: Truman Capote, Tennessee Williams, Gore Vidal, William S. Burroughs, Jack Kerouac, Cy Twombly, die Rolling Stones und wei­te­re Pilger der lite­ra­ri­schen Beatnik‑, der bild­ne­ri­schen Popart- und gar musi­ka­li­schen Rockszene waren da. Dabei leb­ten die Gastgeber als ver­hei­ra­te­tes Paar liber­tär ihre Homosexualität. Beide such­ten sie in ihren marok­ka­ni­schen Geliebten genui­nes Glück und fan­den es nicht. So ist «The Cage Door is Always Open» trotz oszil­lie­ren­der Faszination eben­so ein Dokument der mensch­li­chen und künst­le­ri­schen Einsamkeit von Paul Bowles, der sich sei­nes Vaters als Monster erin­nert, und eben­so von sei­ner Sehnsucht, durch das letz­te Tor zu gehen, weil ihm das Leben selbst ein Gefängnis war.

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