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Corona-Krise: Die Neuerfindung der Diktatur

Von Dr. Regula Stämpfli - Die mei­sten Toten sind noch nicht beer­digt und schon zeigt sich die glo­ba­le Auswirkung der Corona-Krise. Wäre das Virus ein Schlachtfeld, wir wüss­ten schon jetzt, wer auf die­sem gewinnt: die Volksrepublik China.

Noch zu Beginn des Jahres 2020 sahen die mei­sten Intellektuellen die gröss­te Gefahr für die Demokratie in der Person von Donald Trump. Well, they were wrong.

Wie konn­te es dazu kom­men? Derartige Fehlurteile sind kein Schicksal, son­dern sie wer­den von Diskursen, Macht, Medien und Techniken gestal­tet.

Sie erge­ben sich aus dem Zusammenspiel von Fiktion und Wissenschaft. Als Plato in sei­nem berühm­ten Kampf gegen die Sophisten die­sen vor­warf, ihre «Kunst bestün­de dar­in, den Verstand mit Argumenten zu bezau­bern, die als sol­che mit Wahrheit gar nichts zu tun hät­ten, son­dern nur dar­auf abziel­ten und Gültigkeit nur besit­zen, solan­ge sie plau­si­bel erschei­nen» (Hannah Arendt, «Totalitarismus», S. 34), wuss­te er ganz genau, dass Meinungen die viel grös­se­re Überzeugungskraft inne­wohnt als der Wahrheit.

Seit Jahrzehnten zer­fa­sern alle Gewissheiten, wer­den unscharf und neh­men uns Menschen den Boden unter den Füssen weg. Dieses läh­men­de und zutiefst auf­wüh­len­de Gefühl, «da stimmt doch was gewal­tig nicht», ist seit der glo­ba­len Finanzkrise, die in der Struktur eine Datenkrise, die Verrechnung inner­halb der Fiktionen gegen­über der Wirklichkeit dar­stell­te, je län­ger je mehr gewach­sen. Gegen die­se ste­ri­le Datenwelt konn­te man ent­we­der nur anschrei­en, oder man konn­te ven­ti­lie­ren, ver­küm­mern und die viel zu oft als «Verlautbarungsjournalismus» getarn­te Herrschaftskommunikation so lan­ge ver­wur­steln, bis sich auch noch der letz­te Hauch an Urteilskraft voll­stän­dig in Luft auf­ge­löst hat­te.

Diese Weltentfremdung der letz­ten drei Jahrzehnte for­dert ihren Tribut.

Und gera­de die Corona-Krise zeigt, wie schnell Menschen in der Masse bereit sind, sich der Logik, der Verfahrensprozesse, der Verhaltensdominanz wider­stands­los zu unter­wer­fen. Es ist so selbst­ver­ständ­lich gewor­den, gesell­schaft­li­che Vorgänge alter­na­tiv­los zu betrach­ten, als sei­en alle Entscheidungen der Wirklichkeit so weit ent­rückt, dass wir nur noch wie Apparate gut unter­hal­ten, gewar­tet und in Stand gehal­ten wer­den. Der tota­li­tä­rer wer­den­den sinn­li­chen Entrückung ent­sprach die Wollust des Auges, stän­dig Wahrheiten vor­spie­gelnd und gleich­zei­tig Herrschaft legi­ti­mie­rend.

Sie glau­ben mir nicht? Schon gar nicht, weil Sie prag­ma­ti­sche Schweizernde sind?

Im Sommer 2014 explo­dier­te ein Sex-Skandal in den Schweizer Medien. Ein poin­tier­ter Linker und Grüner, ein sehr pro­mi­nen­ter Israel-«Kritiker», Nationalrat und Mitglied einer regio­na­len Exekutive, hat­te offen­sicht­lich Nacktbilder sei­nes besten Stückes ver­sandt. Das Schweizer Fernsehen schal­te­te live zur Pressekonferenz des betref­fen­den Politikers, es wur­de extra eine Talkrunde – betref­fen­den Politiker inklu­si­ve – zum Thema ver­fasst. Viele Schweizer Medien über­nah­men kur­sie­ren­de Verschwörungsszenarien, die sowohl zugun­sten des Politikers als auch zu sei­nen Ungunsten inter­pre­tiert wur­den.

Die Affäre ende­te, wie immer in sol­chen Fällen, Jahre spä­ter vor Gericht. Einige Medienhäuser muss­ten Busse zah­len, der Politiker bleibt pro­mi­nent und die Frau in der Geschichte bleibt unsicht­bar. Für ein schwei­ze­ri­sches Kollektiv war der Skandal völ­lig unwich­tig, aus­ser dass sich da schon abzeich­ne­te, was «Entpolitisierung» der Demokratie und des poli­ti­schen Diskurses wirk­lich bedeu­tet.

Zur sel­ben Zeit näm­lich, und jetzt kommt der Clou, steck­te die schwei­ze­ri­sche Regierung mit­ten in hoch­bri­san­ten Freihandelsverhandlungen mit der Volksrepublik China. Das Boomland, der Grossmotor der Weltwirtschaft, konn­te für die klei­ne Eidgenossenschaft gewon­nen wer­den. Die Schweiz gehör­te zu den ersten Ländern Europas, die den Weg für Chinas Marsch in den Westen frei­räum­ten.

2014 gab es in der Schweiz also poli­tisch wirk­lich genü­gend Stoff, um hef­tig über Freihandel, Technik, poli­ti­sche Partizipation, Menschenrechte und vie­les ande­re mehr zu dis­ku­tie­ren. Doch was geschah?

Statt kri­tisch über den chi­ne­si­schen Drachen und die fau­len Äpfel aus den USA (auch das TTIP war im Entstehen), die den euro­päi­schen Wohlfahrtsstaaten Glyphosat, Chlor, digi­ta­le Überwachungstechnik, Aushöhlung des öffent­li­chen Sektors brach­ten, zu berich­ten, domi­nier­te hier­zu­lan­de ein übler Sex-Skandal irgend­ei­nes Lokalpolitikers. Diese Diskursphänomene ver­gif­te­ten ganz Europa: Skandale statt wirk­li­che poli­ti­sche Berichterstattung mach­ten Kasse. Der Zusammenbruch der west­li­chen Demokratien und die Etablierung von Gesundheits- und Überwachungsstaaten kamen gleich­zei­tig mit einer Mischung von Fortschritt, Datenpaketen, Sex, Entertainment, unan­ge­ta­ste­tem Luxusleben der mitt­le­ren und obe­ren Schichten. Die tota­li­tä­ren Formen von Social Media wur­den kaum bespro­chen – bis heu­te geht es um die Besitzverhältnisse und weni­ger über die inhä­ren­te Verengung des Denkens durch binä­re Codes. Kritik wur­de in den Medien mit Vorliebe gegen das mensch­li­che Subjekt gerich­tet: Film, Literatur, Memes, Musik: Sie alle suhl­ten sich in detail­ver­ses­se­ner Grausamkeit gegen Menschen, zele­brier­ten dys­to­pi­sche Szenarien, mas­kier­ten die­sen nihi­li­sti­schen Schrott als Kultur und geben sich heu­te etwas erstaunt, dass eine neo­to­ta­li­tä­re Fascho-Unwirklichkeit mehr und mehr kon­kret wird.

Seit dem Fall der Mauer, dem «Ende der Geschichte», die­ser Zeit der *Eroberung der Welt als Datenpaket*, gibt es immer weni­ger Wirklichkeit, die sich den glo­ba­len Zahlenfiktionen wider­set­zen kann. *Falsch erzählt, ist Wahrheit nur noch ein Lacher oder ein dunk­ler Tunnel in fort­wäh­ren­der Depression.* Seit Jahren schau­kelt die Umfragedemokratie, die mit poli­ti­scher Teilhabe so viel zu tun hat wie ein Hedgefonds mit volks­wirt­schaft­li­cher Wertschöpfung, uns Bürger und Bürgerinnen vor, irgend­et­was über die Politik zu erzäh­len. Dabei stel­len Umfragen nichts ande­res dar als eine Kalibrierung zwecks Legitimation herr­schen­der Verhältnisse. *Demoskopie ver­misst Politik und wirft die poli­ti­sche Teilhabe aus der Welt.* Der Verlust an gesun­dem Menschenverstand beklag­te Hannah Arendt zutiefst, sah in ihm struk­tu­rell DAS Charakteristikum der Moderne.

Daten- und Umfragewerte haben den Zweck, die nicht mehr gül­ti­gen Regeln des Menschenverstands zu erset­zen, die­sen «com­mon sen­se», die­sen Gemeinsinn, der uns als Menschen und Subjekte ver­bin­den kann. Deshalb ver-rück­te die öffent­li­che poli­ti­sche Welt ins Zirkuszelt, des­sen Aufgabe pri­mär dar­in bestand, zu unter­hal­ten. In der gegen­wär­ti­gen Corona-Krise wer­den sicht­bar und spür­bar alle Elemente frei­ge­legt, die sich oft unse­rem zeit­ge­nös­si­schen Blick ent­zie­hen. Seit Februar 2020 sind Lebens- und Freiheitsbedingungen zusam­men­ge­bro­chen, die wir bis vor weni­gen Jahren, ja noch bis vor weni­gen Tagen für unan­tast­bar gehal­ten hat­ten.

Der Sinologe Kai Strittmatter leb­te als Korrespondent für die «Süddeutsche Zeitung» vie­le Jahre lang in der Volksrepublik China. Der Journalist ist einer der besten China-Kenner, ein höchst poli­ti­scher Denker und Verteidiger demo­kra­ti­scher Werte. Sein «Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digi­ta­len Überwachungsstaat auf­baut und uns damit her­aus­for­dert» hät­te jeden Buchpreis gewin­nen sol­len. Doch offen­sicht­lich sind die west­li­chen kul­tur­schaf­fen­den Eliten hand- und geld­zahm: Wer will sich schon mit poli­ti­scher Macht aus­ein­an­der­set­zen, es sei denn, es geht um post­ko­lo­nia­le Opfer- und Empörungsrufe? Als der volks­chi­ne­si­sche Künstler Ai Weiwei es wag­te, die Deutschen und ins­be­son­de­re auch den Kulturbetrieb als «obrig­keits­hö­rig» zu beschrei­ben, sich sogar dar­auf ver­stieg, dass die Deutschen sich ähn­lich wie die Volkschinesen, damit abge­fun­den hät­ten, unter­drückt zu wer­den, wur­de er von der hip­pen Berliner Kunst- und Intellektuellenszene als Paria ver­stos­sen.

«Die Neuerfindung der Diktatur» ist gera­de in Corona-Zeiten ein erschrecken­des Buch und macht extrem wütend. Wütend dar­über, wie sehr bei­spiels­wei­se Angela Merkel, so zau­ber­haft, humor­voll und sta­bi­li­täts­si­chernd die Bundeskanzlerin auch sein mag, die euro­päi­sche Demokratie in Grund und Boden wirt­schaf­tet. Und zwar durch Realpolitik, indem sie bei­spiels­wei­se die glo­ba­le Bankenkrise in eine Staatsschuldenkrise Europas umwan­del­te und Griechenland, Spanien, Italien regel­recht als Wegwerfware an die Volksrepublik China ver­scher­bel­te. Indem sie sich jetzt, nach­dem die euro­päi­sche Mittelschicht und die Selbstständigen durch die Quarantäne regel­recht ent­eig­net wur­den, jeder staat­li­chen Finanzierung, z. B. durch die Eurobonds, wider­setzt.

«Wir hel­fen euch», ver­kün­det «Mutti Merkel» (die Kinderlose kriegt die­ses Attribut von Journalisten stän­dig ange­hängt). Wetten, dass auch dies­mal die Billiardenschulden nach Corona wie­der­um mit mensch­li­chen Konten begli­chen wer­den?

Diese Muster sind die west­li­chen Varianten volks­re­pu­bli­ka­ni­scher chi­ne­si­scher «Harmoniekultur». In Peking wer­den die Menschen mit Hinweis auf Ordnung und Wohlstand unter­drückt, in Berlin reicht ein «alter­na­tiv­lo­ser» Auftritt von Angela Merkel.

Kai Strittmatters Buch war letz­tes Jahr als Warnung an die Adresse der west­li­chen Demokratien gedacht. Dank Corona und dem dadurch erfolg­ten Lockdown sind aber die schlimm­sten Befürchtungen punk­to digi­ta­ler Diktatur schon wahr gewor­den.

Die VR China expor­tiert mit­tels Hegemonie in der digi­ta­len Überwachungstechnologie (Stichwort Huawei) auch die damit zusam­men­hän­gen­den tota­li­tä­ren Weltbilder. Was China so unglaub­lich mäch­tig macht, ist die Perversion von Sprache, Begriffen, Narrativen, Kollektiven. Ihr lan­des­wei­tes Kameranetz hat Chinas Polizei auf den Namen «Himmelsnetz» getauft, «wahr­schein­lich ganz ohne Ironie und ohne Anspielung auf die ‹Terminator›-Filme aus Hollywood, wo das Himmelsnetz (‹sky­net›) ein aus­ser Kontrolle gera­te­ner KI-Organismus ist, des­sen Ziel es ist, die Menschheit zu ver­nich­ten». (Kai Strittmatter, S.168) Das Himmelsnetz ist Teil der Polizei-Cloud, die Daten über alle Bürger und Bürgerinnen sam­melt. DNA, Fingerabdruck, Gesicht, Stimme, GPS-Bewegungskoordinaten, bio­me­tri­sche Daten, Krankheitsgeschichten, Essbestellungen, Kurierlieferungen, Supermarkt-Kundenkartennummern, Einkäufe etc. wer­den erfasst, ver­ar­bei­tet und gegen die Menschen für das System ein­ge­setzt. Strukturell ent­spricht dies den Bekämpfungsstrategien gegen die Pandemie in den west­li­chen Demokratien: Allein die Narrative sind anders, auch die Meinungsfreiheit ist garan­tiert, die poli­ti­sche Realität sieht jedoch mitt­ler­wei­le auch in Europa erheb­lich volks­chi­ne­sisch aus.

Der Anfang von Kai Strittmatters span­nen­der Reportage lau­tet: «Dieses Buch ist eine Botschaft aus der Zukunft. Wenns dumm läuft. Aus Ihrer Zukunft. Aus unse­rer Zukunft. Im Moment läuft es gera­de ziem­lich dumm.

Für Sie. Für uns. (…) Die Herrschaft mit­tels der Lüge ist wahr­schein­lich so alt wie die Einrichtung der Herrschaft selbst, und doch schockiert uns im Westen die Rückkehr der Autokraten und Möchtegern-Autokraten und mit ihnen die Rückkehr der scham­lo­sen Lüge als Machtinstrument in unse­rer Mitte. (…) China fiel die Selbstdemontage des Westens wie ein Geschenk des Himmels in den Schoss. (…) Ein Experiment aus Maos Erbe erlebt ein Comeback: Die KP übt sich erneut in lücken­lo­ser Gedankenkontrolle, sie ver­sucht wie­der ein­mal, den neu­en Menschen zu for­men. (…) Der per­fek­te Überwachungsstaat, dem man die Überwachung oft nicht ein­mal ansieht, weil er sie in die Köpfe der Untertanen selbst ver­pflanzt.»
Kai Strittmatters «Neuerfindung der Diktatur» ist kei­ne Zukunft, son­dern Gegenwart. «China ist ein schwar­zer Spiegel für uns: Die in China prak­ti­zier­te Hemmungslosigkeit» beim digi­ta­len Überwachungsstaat, dem Himmelsnetz, das Harmonie für alle her­stel­len soll, «beschert so man­chem CEO in Silicon Valley, London oder Berlin längst feuch­te Träume».
Was wir bis jetzt in der Corona-Krise erlebt haben, zeigt, wie die VR China mehr und mehr den Weltenlenker spielt. China lie­fert dem Westen die not­wen­di­gen Schutzanzüge, Geräte, Instrumente, Gesundheitsmasken etc. und expor­tiert damit gleich­zei­tig die eige­ne poli­ti­sche Vision. Dem rich­ti­gen Ziel, der Bekämpfung der Pandemie, der gesell­schaft­li­chen Harmonie, wer­den sämt­li­che Bürgerrechte, Bürgerfreiheiten, demo­kra­ti­sche, öko­no­mi­sche, kul­tu­rel­le und sozia­le Teilhabe geop­fert.

Alle Himmelsnetze sind unter Chinas Führung «alter­na­tiv­los».

 

* Üble Verschwörungstheorien behaup­ten, die VR China habe das Coronavirus mit Absicht in die Welt gesetzt. Dies ist völ­li­ger Unsinn, Fake News und regel­rech­te Verleumdung gegen China. Dass das Virus indes­sen voll in die Hände der VR China spielt, ist kei­ne Verschwörungstheorie, son­dern Realität.*

Kai Strittmatter: Die Neuerfindung der Diktatur. Wie China den digi­ta­len Überwachungsstaat auf­baut und uns damit her­aus­for­dert. Piper, 6. Auflage 2019.