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Bücher zu weib­li­chen Selfies, Autofiktionen von Frauen und «Geschlecht» als Biografie

Von Dr. Regula Stämpfli - Jennifer Higgie, die ehe­ma­li­ge Chefredaktorin des Kunstmagazins «FRIEZE», webt Frida Kahlo, Amrita Sher-Gil, Modersohn-Becker, Artemisia Gentileschi in Betrachtungen zu weib­li­chen Selbstporträts zusam­men. Dies gelingt manch­mal bes­ser, manch­mal schlech­ter. Ähnlich Flavia Frigeri in ihrem schma­len Band «Frauen in der Kunst». Auf knapp 175 Seiten wer­den die wich­tig­sten Künstlerinnen kurz skiz­ziert und kano­ni­siert. Higgie beschreibt weib­li­che Limitierungen, bleibt sprö­de, was den Wert, die Bedeutung sowie die Umstände der jeweils beschrie­be­nen Malerin betrifft. Ärgerlich ist Higgies Weigerung, über den Tellerrand einer Kunsthistorikerin hin­aus­zu­den­ken. Trotzdem ist «The Mirror and the Palette» lesens­wert. Doch um Frauen in der Kunst zu ver­ste­hen, ver­wei­se ich auf Hulda Zwingli und deren Instagram-Account. Sie lehrt uns, wie es Frauen so geht in der Kunst und anders­wo. Was es denn ist, das Frauen dazu zwingt, unsicht­bar zu blei­ben.
Frauen haben in west­li­chen Demokratien unend­lich viel erreicht, und den­noch hat sich die Art und Weise, Frauen zu sehen, zu kate­go­ri­sie­ren, ein­zu­ord­nen, nie­der­zu­ma­chen, zu unter­drücken, abzu­wer­ten, ambi­va­lent zu the­ma­ti­sie­ren, nicht ver­än­dert. Der Gebrauch von Frauen ent­spricht welt­weit dem Gebrauch von Bildern. Die Sehgewohnheiten haben Frauen glo­bal zu den Beobachteten gemacht, die sich stän­dig selbst beob­ach­ten. Aus der Unfreiheit, im Beobachten gefan­gen zu sein, ohne WIRKLICH zu sehen, hilft kein Pinsel, kein Gedicht, kei­ne Philosophie. Als Gefangene der sich stän­dig sehen­den Sehenden gibt es kei­ne ech­ten Auswege, höch­stens Ansätze der Transformation. Deshalb sind weib­li­che Reflektionen, Selbstbildnisse, Autofiktionen stän­dig im Kontext von aus­sen und innen, aber ohne wirk­li­chen eige­nen Raum. Insbesondere die neue­ren Bücher zu Frauen in der Kunst zei­gen das Dilemma: Es wer­den Uralt-Geschichten von 1968 und den 1980er-Jahren auf­ge­wärmt, schön zusam­men­ge­stellt, kurz rezi­piert und vier­zig Jahre spä­ter wie­der aus der Versenkung her­vor­ge­holt.

Christina von Brauns Biografie «Geschlecht» erzählt von eige­nen und kul­tu­rel­len Räumen, die sie sich geschaf­fen hat. Mal dank ihrer Herkunft, mal dank glück­li­cher Umstände, aber immer auch, weil sie eine der gros­sen Denkerinnen ihrer Generation ist und dabei lei­der viel zu still, zu beschei­den, zu distan­ziert, zu kühl blieb. Ihre Biografie ist etwas blut­leer und hin­ter­lässt die Leserin ohne gros­sen Eindruck, obwohl das Buch sehr klug und gut zu lesen ist. Allein ihre Erklärungen, wie das Geld ent­stand, wie sie mit Interviews gross­ar­ti­ge Filme mach­te und was «Geschlechterforschung» alles ist, sind geni­al. Hier ein Beispiel: «Den Gender Studies wird oft unter­stellt, ‹die Fakten der Natur› zu miss­ach­ten. Eine Kritik, die von Biologen beson­ders gern vor­ge­bracht wird. Sie zeugt von einer bemer­kens­wer­ten Amnesie gegen­über dem eige­nen Fach. Denn die bio­lo­gi­sche Forschung hat die­se Diversität selbst ver­ur­sacht: Es war die Zeugungs- und Reproduktionsforschung des 19. und des 20. Jahrhunderts, die nicht nur für die Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, son­dern auch für die Entstehung der Eugenik, der Genetik und moder­nen Reproduktionsmedizin sorg­te. Erst die­se Neuerungen ermög­lich­ten die varia­blen Definitionen von Vaterschaft, Mutterschaft und sexu­el­ler Identität, mit denen wir es heu­te zu tun haben. Nicht die Gender Studies schu­fen die neue Vielfalt von Geschlecht. Sie wei­sen höch­stens auf die sozia­len Folgen die­ser Entwicklung hin.» (S. 309) Von Brauns Analogien von Feminismus und Antisemitismus sind auch berei­chernd, doch noch­mals: Irgendwas stimmt nicht an ihrer Biografie und ich kann es nicht benen­nen. Vielleicht, weil sie mit «Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen» völ­lig in obsku­re Deutungsmuster gerät? Weil sie den Antisemitismus mit Islamophobie gleich­setzt und das Judentum letzt­lich für alle poli­ti­schen Unwetterlagen ver­ant­wort­lich macht? Sehr selt­sam. Oder könn­te es sein, dass Christina von Braun klu­ge Bücher und span­nen­de Filme macht, aber von Politik, ins­be­son­de­re von demo­kra­ti­scher Politik, ein­fach zu wenig weiss? Das Buch lohnt sich den­noch, da es von einer weib­li­chen euro­päi­schen Nachkriegsgeschichte erzählt, die wohl nur weni­ge ken­nen.

Dafür ist Nicole Seifert poli­tisch prä­zi­se und weist uns für die Literaturgeschichte neue Wege. Ihre Storys sind so gut, dass wir sie alle für künf­ti­ge Genderdebatten aus­wen­dig ler­nen soll­ten – just to shut up all the idi­ots. Seiferts Bestseller «FrauenLiteratur» erzählt von abge­wer­te­ten, ver­ges­se­nen und wie­der­ent­deck­ten Frauen. Ästhetisch betrach­tet gibt es kein «ande­res Schreiben» von Frauen. Frauen kön­nen jedes Genre. Was hin­ge­gen die Rezeption betrifft, so haben Frauen im deutsch­spra­chi­gen Raum kei­ne Chance. Wirklich kei­ne, obwohl sie die­se nut­zen wie vom Wahn beses­sen. Die deutsch­spra­chi­gen Plattformen, so macht es mir den Eindruck, wer­den immer sexi­sti­scher: Je häu­fi­ger die Leerstellen bspw. im Kulturbetrieb auf­ge­zeigt wer­den, umso bru­ta­ler schla­gen die Kulturmänner und ihre wil­li­gen Vollstreckerinnen zurück. Die Gleichstellung, so scheint es, ver­ge­ben uns die Männer und deren ange­pass­te Echos nie.

Als Isabel Rohner und ich genau vor einem Jahr anläss­lich des bit­te­ren 50-Jahre-Frauenstimmrecht-Jubiläums the­ma­ti­sier­ten, dass die feh­len­den poli­ti­schen Rechte eine unglaub­li­che Gewalttat an allen Frauen dar­stel­len, Gewaltakte, die sich bis heu­te vor allem auch in die Kultur hin­ein­zie­hen, wur­den sie vom Feuilletonchef des «Tages-Anzeigers» zunächst beschimpft, dann blockiert. Andreas Tobler hat­te in einem Text zu Annemarie Schwarzenbach gefa­selt, dass es der gros­sen Fotografin «nie um das Frauenstimmrecht» gegan­gen sei, weil «ande­re Dinge» viel wich­ti­ger gewe­sen sei­en. Woher will er dies wis­sen? Solche Aussagen sind urpa­tri­ar­chal. Statt WIRKLICH zu lesen und zu for­schen, was die dama­li­gen Frauen umtrieb, erfin­det Tobler eine ganz eige­ne Version der dama­li­gen Feministinnen: «Lyrik und Exotik» sei­en ihnen halt wich­ti­ger gewe­sen als «Politik». Dies, weil Tobler nicht begreift, dass sich Politik für Frauen immer anders ent­blät­tert. Aber Schweizer Männer sind ja bekannt dafür, dass sie, anders als in ande­ren Ländern, ihren Sexismus auf die Spitze trei­ben dür­fen – bis heu­te. Sonst hät­ten die Innerrhoder Männer sich nie getraut, vor lau­fen­den Kameras auch noch 1990 das Stimmrecht für Frauen abzu­leh­nen. Auch 2021 waren sich die Männer der Universität Bern, der Demokratiestiftung Schweiz und des EDA nicht zu blö­de, einen «Pass für ALLE» zu lan­cie­ren und die Frauen kaum zu erwäh­nen. Die Werbebroschüre für die direk­te Demokratie ver­hunzt die spä­te Einführung des Frauenstimmrechts in der Schweiz mit einem lächer­li­chen Verweis auf ein «Dilemma». Mehr Abwertung geht nicht. Schweizer Wissenschaft und Kultur set­zen auf weib­li­che Nichtexistenzen.

Doch auch in Deutschland ist die Situation nicht wesent­lich bes­ser. Antonia Baum erzählt Nicole Seifert, wie sie vor zehn Jahren zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb nach Klagenfurt ein­ge­la­den wur­de. Während des Wettbewerbs wur­de sie ange­grif­fen, lächer­lich gemacht, abge­wer­tet, und jemand mein­te sogar, der Juror, der sie nach Klagenfurt gebracht habe, sei in sie ver­liebt, als ob dies der ein­zi­ge Grund wäre, wie­so Baum preis­wür­dig erschien. Dies geschah im Jahr 2011. Antonia Baum dazu: «Das Interessanteste war, dass ich mich dar­über über­haupt nicht wun­der­te.»

1895, so erzählt uns die klu­ge Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert wei­ter, gab es zwei Bestseller. In bei­den spie­len unglück­li­che Protagonistinnen, die an den unmensch­li­chen Umständen ihrer Zeit zer­bre­chen, die Hauptrolle. Der eine war «Effi Briest» von Theodor Fontane, der ande­re «Aus guter Familie» von Gabriele Reuter. Beide wur­den durch die­se Romane berühmt und fan­den sowohl bei den Lesenden als auch den Literaturschreibenden gros­se Beachtung. Sigmund Freud emp­fahl den Roman als «die besten Einsichten in das Wesen und die Entstehung von Neurosen», Thomas Mann mein­te zu Gabriele Reuter, sie sei «die sou­ve­rän­ste Frau, die heu­te in Deutschland lebt». Gabriele who? An Reuters statt mach­te Theodor Fontane das Rennen: Er wur­de kano­ni­siert bis zum Abwinken. Sie hin­ge­gen: ver­ges­sen, ent­sorgt mit dem Insignie der Frauenliteratur und «ästhe­ti­scher Voreingenommenheit», d. h. die Verurteilung und Abwertung durch Männer. Behandelt ein Roman näm­lich das Frauenleben, so gilt er von vorn­her­ein als min­der­wer­tig. Dadurch wird die Kanonisierung der Autorinnen bis heu­te ver­hin­dert. Frauen sind nicht ein­fach anders, sie sind nicht ein­fach Paria oder Parvenü, nein, sie sind, ganz ehr­lich: NICHTS: Ab und zu gibt es Frauen, die ihren weib­li­chen Niemandsstatus ein bit­ze­li über­win­den, aber die kol­lek­ti­ve Wortlosigkeit von Frauen als Frauen und als Individuen bleibt. Jung wer­den Frauen nur gese­hen und nicht gehört, alt wer­den Frauen weder gese­hen noch gehört. Tun sie dies den­noch, näm­lich spre­chen, auf­tre­ten, gestal­ten, sich zei­gen, den­ken, schrei­ben, kom­po­nie­ren, sin­gen, tan­zen, Musik machen, her­stel­len, schmie­den, poli­ti­sie­ren, wer­den sie schnell zum Skandalon.

Denn Frausein wird Künstlerinnen, Denkerinnen, Müttern, Grossmüttern, Schwestern, Freundinnen, Feindinnen, Bäuerinnen, Näherinnen, Pflegerinnen, Erfinderinnen, Sorgerinnen etc. übel genom­men: Frausein ist eine Beleidigung. Im Feuilleton wer­den nur auf den ersten Blick ein­zel­ne Frauen abge­wer­tet, belei­digt, patho­lo­gi­siert; gemeint sind in den öffent­li­chen Hinrichtungen jedoch alle Frauen. Tätigen Frauen wird somit die Message wei­ter­ge­reicht, dass, wenn ihr Werk von den Mächtigen ver­ris­sen wird, sie NICHTS mehr sind. Dass die Mächtigen selbst im Zeitalter der theo­re­ti­schen Gleichstellung ein­zel­ne Frauen immer noch wie Hexen hin­rich­ten kön­nen. Sie brau­chen dazu kei­ne Kirche – es rei­chen Zeichen in Form von auto­ma­ti­sier­ten Codes, repe­tier­ten Vorurteilen und ein Hyperlink. Im Interview mit der «Zeit» lässt der geschass­te «Bild»-Chefredaktor Julian Reichelt bspw. klar erken­nen, dass er nie jemals irgend­was zu sexu­el­ler Gewalt, Männer-Macht und Übergriffen ver­stan­den hat oder jemals ver­ste­hen muss. Er wirkt ehr­lich, sym­pa­thisch und ist strin­gent in sei­ner Verständnislosigkeit. Es ist depri­mie­rend, vor allem weil die­se Haltung vie­len Männern im Kulturmilieu eigen ist. Sie geben in ihren Editorials ger­ne mit Feminismus und Diversität an, wer­den aber mör­de­risch, wenn es dar­um geht, eine Konkurrentin aus dem Weg zu räu­men.
Deshalb hier mein Wunsch für 2022: Lesen Sie Frauen. Sie kön­nen ja mit einem mei­ner Bücher begin­nen.