Bonjour Moussa – je m’appelle Regula

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Von Dr. Regula Stämpfli - 70 Jahre nach sei­nem Roman «Der Fremde» hat Albert Camus sei­nen wür­dig­sten Nachfolger in Algerien gefun­den.

In «Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung» gibt der gros­se Kamel Daoud dem von Camus «per Zu-fall» erschos­se­nen «Araber» eine un-ver­gess­li­che Stimme. Ist Ihnen «Der Fremde» fremd? 1942 ver­fass­te Camus die Geschichte, die in Frankreich wie eine Bombe ein­schlug. Meursault, der auf sei­ne nack­te Existenz zurück­ge­wor­fe­ne Mann ohne Gottes-eigen­schaf­ten, erschiesst einen «Araber.» Dies aus dem ein­zi­gen Grund, weil ihn die Sonne blen­det. Der von ihm ermor­de­te «Araber» hat kei­nen Namen, kei­ne Geschichte, er ist nur Mittel zum Zweck der Darstellung.

Immerhin lässt Camus in «Der Fremde» sei­nen «Helden» hin­rich­ten, der erst bei der Urteilsvollstreckung ein­mal so etwas fühlt wie eine «zärt­li­che Gleichgültigkeit der Welt.» Die grau­sa­me Welt vol­ler ent­frem­de­ter, auf sich selbst zurück­ge­wor­fe­ner Menschenmonster ist bei Camus per­fekt beschrie­ben. Wie oft doch ste­hen Männer dem Tod viel näher als dem Leben?

Kamel Daoud trans­for­miert den Fremden. Aus dem «Araber» wird ein ermor­de­ter Algerier. Aus dem Namenlosen ein Mensch. Einer, der Moussa heisst, der eine Mutter und einen Bruder nach sei­nem Tod in Rache, Schande, Scham, Trauer und Sinnlosigkeit zurück­lässt. Der «Araber» wird end­lich aus dem lite­ra­ri­schen Kanon der Opferkategorie der Kolonialisten ent­las­sen. Die Unsichtbarkeit von Unterdrückung erhält bei Daoud Sprachkraft, Namen, Bilder, eine Polyphonie, die den Nobelpreis ver­dient. Kamel Daoud ist auch eine grund­le­gen­de Kritik am Islamismus gelun­gen, denn wie Camus am Christentum lei­det, lei­det Daouds Protagonist am Islam. «Der Fall Meursault» ist eine kon­ge­nia­le Weiterführung und Fortschreibung des legen­dä­ren Romans von Camus nicht zuletzt auch des­halb, weil Daoud Camus nicht wider­legt, son­dern den Existentialismus berüh­rend nah und neu wie­der­erzählt.

«Stein um Stein von den ehe­ma­li­gen Häusern der Kolonialherren neh­men, um mein eige­nes Haus zu bau­en, mei­ne eige­ne Sprache zu for­men.»

«Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung» ist einer der wich­tig­sten Romane über das Verhältnis des Westens zur ara­bi­schen Welt und umge­kehrt. Er beleuch­tet Innen und Aussen. In Frankreich wur­de der Roman zunächst gefei­ert, doch es müs­sen wohl Ressentiments unter­drückt wor­den sein. Denn bei der erst­be­sten Gelegenheit räch­te sich die fran­zö­si­sche Elite an dem «Araber». Als Kamel Daoud es näm­lich wag­te, das für ara­bi­sche Gesellschaften kon­sti­tu­ti­ve patho­lo­gi­sche Verhältnis zum weib­li­chen Körper zu benen­nen, war­fen ihm ehe­ma­li­ge Freunde in einem offe­nen Brief «Islamophobie» vor. Offensichtlich darf es einer, der den Stimmlosen Stimme ver­leiht, nicht wagen, eine eige­ne Stimme zu ent­wickeln!

Kamel Daoud ist über die­se Erfahrung in Paris erschüt­tert. An die Verfolgung der Islamisten gewöhnt (er kann sein Haus seit der Fatwa gegen ihn nicht mehr ver­las­sen, er braucht auf all sei­nen Reisen Personenschutz), warf ihn der unsäg­li­che Protest der fran­zö­si­schen Salonlinken und Salonintellektuellen fast zu Boden. Kamel Daoud, der sich als Atheist, Poet, Demokrat und Menschenfreund für das Leben und nicht den Tod enga­giert, wur­de in Paris als «isla­mo­phob» beschimpft – Wahnsinn.

Wo ist hier Freiheit? Ist sie unter den «Antirassisten» doch ähn­lich ein­ge­ker­kert wie das fun­da­men­ta­li­sti­sche Konzept von Glaubensbrüdern? Gibt es eine Diktatur des Narrativs, die sich unter die Haut und in die Sprache euro­päi­scher Intellektueller brennt?

Kamel Daouds Sprache ist für ihn Mittel gegen Ohnmacht und Vergewaltigung. Seine Sprache wen­det sich nicht nur gegen die Kolonialisten, son­dern auch gegen die Ignoranz vor der eige­nen Tür. «Sex ist die gröss­te Misere im Land Allahs», mein­te Daoud im Nachzug der «Kölner Silvesternacht», und wies damit auf eine wich­ti­ge Spur von Religion, Männlichkeit und Vergewaltigung hin.

Die euro­päi­schen Hauptstädter las­sen sich dies natür­lich nicht gefal­len. Nicht von einem, der es wagt, das freie Denken wirk­lich zu befrei­en. Der «Araber» will kein Opfer sein? Er will Namen, Gesicht, Handlung und vor allem Sprache?

Höchste Zeit einen «Fall Paris – eine Gegendarstellung» zu ver­fas­sen und Kamel Daoud zu unter­stüt­zen. Denn kein ande­res Ereignis zeigt, wie tota­li­tär sich aus­ge­rech­net die sub­ven­ti­ons­ver­wöhn­te, arro­gan­te, selbst­ver­lieb­te euro­päi­sche und, beson­ders, fran­zö­si­sche Universitäts-«Elite» auf­führt.

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