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Bis zehn Uhr geben wir uns

Von Peter J. Betts – «Bis zehn Uhr geben wir uns roman­tisch», sagt die Moderatorin von Radio DRS2. «Geben wir uns…» Der zeit­ge­mäs­se Schlüsselgedanke von Normverhalten? Kultur aktu­ell? In den Frühnachrichten war glei­chen­tags auf DRS2 zu hören gewe­sen, dass (Ende Januar!) Herr Sarkozy sich noch nicht kon­kret dazu geäus­sert habe, ob er für eine wei­te­re Amtsperiode kan­di­die­ren wer­de. Er gibt sich, als ob er alle Hände voll damit zu tun habe, die Nation vor dem Abgrund zu ret­ten. Eine Pose, die sei­nem Selbstverständnis ent­spricht? Die Rolle ver­langt laut Textbuch: «Es müs­sen die Mehrwertsteuer erhöht, die Arbeitszeiten ver­län­gert,» (die Arbeitslosenquote ins­be­son­de­re jene der Jugendlichen ist sehr hoch in sei­nem gelieb­ten Frankreich) «den Unternehmen Steuererleichterungen ange­bo­ten wer­den, damit – die Arbeitsplätze gesi­chert sind.» (Natürlich auf Kosten der sozi­al Schwachen, der Alten und so wei­ter.) Opfer müs­sen im Interesse aller gebracht wer­den. Die Opfertiere sind bekannt. Die Firmen sol­len sich nicht dazu ver­lockt füh­len, ihre lukra­ti­ve Produktionstätigkeit in Billigländer, wo die unge­straf­te Ausbeutung der Arbeitenden bereits jetzt üppi­ge Blüten treibt, zu ver­le­gen. Er gibt sich – also bis zu den Wahlen, nicht nur bis zehn Uhr – als roman­ti­scher, sich auf­op­fern­der Held, der sich für alle – nur nicht für sei­ne eige­nen Zwecke – ohne Rücksicht auf Verluste ein­setzt. Natürlich erwähnt dabei der fran­zö­si­sche Maximo Leader nicht, wie oder ob das Ausbildungswesen zukunfts­si­chern­der zu sanie­ren, eine für alle Schichten erträg­li­che­re Gesundheits- und Sozialpolitik umzu­set­zen, dem Migrationsproblem, dem zuneh­men­den Fremdenhass mit inhä­ren­ter Gewaltzunahme, der Verelendung von Alten, Behinderten und Jugendlichen, dem Abwürgen der öffent­li­chen Kreativitätsförderung zu begeg­nen wäre. Das Textbuch ver­langt das nicht. Radio DRS2 preist sich als Radio mit Lust auf Tiefgang an; mit Einsichten in Kultur, Wissenschaften und Politik. Und das bie­tet der Sender auch. Das Radio sucht eben­falls einen leben­di­gen Kontakt zu sei­nem Publikum. Die Suche klingt bei Gutwilligen glaub­wür­dig. Das Radio ermög­licht Kontakt durch das Publikum. Bis vor Kurzem gab es in jeder Abteilung – Gesellschaft, Literatur, Musik usw. – bei der Übersicht über das gan­ze Team, bei vie­len ein­zel­nen der Verantwortlichen in jeder Sparte auch eine E‑Mail-Adresse. Bis vor kur­zem. Noch immer gibt es eine fast direk­te Kontaktmöglichkeit: ein Call-Center. E‑Mails direkt an ein­zel­ne Mitarbeitende sind seit kur­zer Zeit nicht mehr mög­lich. Die net­te Stimme am Telefon sagt, man kön­ne Mails an sie schicken, und sie wür­den die­se allen­falls wei­ter­lei­ten. Natürlich kön­nen Sie auch direk­te E‑Mails sen­den: zu ganz bestimm­ten, vor­ge­ge­be­nen Fragen zu ganz bestimm­ten Zeiten, nach ganz bestimm­ten Spielregeln kön­nen Sie sich per E‑Mail betei­li­gen. Sie kön­nen also ein biss­chen mit­spie­len, und es hat für nie­man­den Folgen, weder für Sie noch für sie. Mitspieltheater – in Grenzen – en vogue. Konkret heisst das also: nach wie vor gibt sich Radio DRS2 publi­kums­nah. Kontakt? Um Gottes Willen: nur nicht zu nah! Die RedaktorInnen und ModeratorInnen sol­len unge­stört arbei­ten kön­nen. Sie sind doch kei­ne öffent­li­chen Figuren. Sie haben Anrecht auf Schutz. Ihre Zuschrift ist durch­aus will­kom­men, aber bit­te kana­li­siert! Sie kön­nen sich etwa eine Melodie wün­schen, und sogar Ihr Name, sogar Ihr gesen­de­ter Kurztext wer­den vor dem Erfüllen Ihres Wunsches erwähnt. Was zum Kuckuck wol­len Sie denn mehr? Sie haben eine Spur Glamour erlebt: auf Radiowellen geht Ihre Botschaft ins All – ob es dort Empfangsgeräte gibt oder nicht. Die von Ihnen aus­ge­sand­te Energie geht nicht ver­lo­ren, auch wenn nie­mand je mehr etwas davon mer­ken wird: erin­nern Sie sich an Ihren klas­si­schen Physikunterricht? Das Leben, das Ihnen, auf der Theaterbühne viel­leicht oft sug­ge­riert, es gehe Ihnen direkt unter die Haut, ist nicht das Leben der Schauspielerinnen und Schauspieler, nicht jenes der Theaterautorin oder des Theaterautors oder des Bühnenbildners oder der Bühnenbildnerin, auch nicht der Regie, der Souffleuse, nicht der Dramaturgie, der Direktion, der Subventionsbehörde. Deren Leben spielt sich hin­ter den Kulissen ab: in der Garderobe, der Maskenbildnerei, der Malwerkstatt, der Kantine, in den Büros, in Konferenzräumen, auf der Fremdenpolizei, im Steuer‑, Betreibungs- oder Pfandleihamt, im Schlafzimmer, auf der Intensivstation, vor dem Scheidungsgericht, in der Trinkerheilanstalt. Man gibt sich als Faust und fürch­tet sich zugleich vor den Ergebnissen der näch­sten Computertomographie. Bei einer guten Vorstellung ist das Ergebnis der Zusammenarbeit aller Beteiligten – das Publikum ein­ge­schlos­sen! – durch­aus glaub­wür­dig, viel­leicht. Nach dem Konzert sind die Stühle ver­las­sen, die Blas- und Streichinstrumente viel­leicht in Kästen und Säcken, die Notenständer ohne Partituren, die MusikerInnen am Rauchen in der Kälte, das Foyer leer. Die bele­ben­de Musik lebt viel­leicht in den Hörenden und Spielenden wei­ter, wäh­rend sie ihrem Leben nach­ge­hen. Herr Sarkozy braucht kei­nes­wegs glaub­wür­dig zu sein. Nur sei­ne ihm zuge­dach­te Rolle hat er glaub­wür­dig zu spie­len. Selbst wenn er den Rollentext sel­ber ver­fasst haben soll­te. Die Publikumsnähe von DRS2 ist nicht glaub­wür­dig, aber pro­fes­sio­nell. Die Moderatorin gibt sich bis zehn Uhr roman­tisch: jemand ande­res hat das Programm zusam­men­ge­stellt – Musik aus der Zeit der Romantik (Wie roman­tisch waren die fran­zö­si­sche Revolution oder der Russlandfeldzug? Wie roman­tisch ist es den Musizierenden in den Aufnahmestudios zu Mute? Wie roman­tisch geprägt ist das Kalkül der Marketingverantwortlichen für die näch­stens abge­spiel­ten Tonträger?); die glaub­haft fröh­lich klin­gen­de Moderatorin: steht bei ihr der Haussegen schief? Ist die Bewerbung für einen ande­ren Job miss­glückt? Gelingt ihr der Sprung in die Redaktion? Das Publikum soll die publi­kums­na­hen Programmgestaltenden in Ruhe arbei­ten las­sen, sonst kön­nen sie nicht publi­kums­nah gestal­ten. Wo kämen wir hin, wenn die fast tau­send begei­ster­ten Zuschauerinnen und Zuschauer, statt ein­fach fre­ne­tisch zu klat­schen, die Bühne erstürm­ten, die DarstellerInnen umarm­ten, so dass nie­mand von ihnen die innig ersehn­te Toilette auf­su­chen könn­te? Wenn der Vorhang end­gül­tig fällt, ist die Welt wie­der in Ordnung. Nein, nein, ein Call-Center hat nichts mit einem Callgirl zu tun. Oder doch? Wenn ihr Kunde genü­gend Vorstellungsvermögen hat, ver­mag er Leidenschaft, Nähe, Liebe, Zärtlichkeit, oder wonach er sich immer zu seh­nen wähnt, zu erle­ben, sofern sie ihre Rolle pro­fes­sio­nell spielt. Wenn Sie ein Versandhaus in Zürich, Schaffhausen, Winterthur, Zug anru­fen, kann es durch­aus sein, dass Ihnen unter vier ver­schie­de­nen Nummern immer die glei­che Person lie­bens­wür­dig und höchst kom­pe­tent ant­wor­tet, ihnen ver­ständ­nis­voll und ein­fühl­sam ver­si­chert, der Erfüllung Ihrer Wünsche Vorschub zu lei­sten. Vielleicht lebt die Dame im Oberwallis und hat noch nie eine der vier inter­na­tio­na­len Firmenniederlassungen in natu­ra gese­hen, hat kei­ne Ahnung, wor­an Sie was bean­stan­den. Sie kennt aber Ihre Kundennummer und die Rechnungsnummer der bean­stan­de­ten Lieferung. Und das Schicksal nimmt den – wenn Sie Glück haben – für Sie befrie­di­gen­den Lauf. Ihre Stimme hat ja glaub­wür­dig geklun­gen. Sie hat sich pro­fes­sio­nell inter­es­siert gege­ben. DRS2? Herr Sarkozy? Das Stadttheater Bern? Die Versandfirmen? Welchen Stellenwert hat die so genann­te Realität? Auch Realität ist letzt­lich in der gel­ten­den Kultur das Produkt Ihrer per­sön­li­chen Sichtweise oder Phantasie. Durchaus auch im glo­ba­len Kontext. Sich glaub­wür­dig geben, ist zuneh­mend der Schlüsselgedanke unse­res Normverhaltens. «Sich geben» ist der Inhaltsträger. Wie lan­ge ist es her, dass Sie «Des Kaisers neue Kleider» gele­sen haben? Höchste Zeit, die Geschichte wie­der ein­mal zu lesen.

Foto: zVg.
ensuite, April 2012