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Bienen

Von Dr. Regula Staempfli

«Wie ver­wach­se­ne Vögel balan­cier­ten wir auf unse­ren Ästen, das Plastikgefäss in der einen Hand, den Federpinsel in der ande­ren. (…) Das klei­ne Plastikgefäss war gefüllt mit dem luf­ti­gen, leich­ten Gold der Pollen, das zu Beginn des Tages exakt abge­wo­gen und an uns ver­teilt wur­de, jede Arbeiterin erhielt genau die glei­che Menge. Nahezu schwe­re­los ver­such­te ich, unsicht­bar klei­ne Mengen zu ent­neh­men und in den Bäumen zu ver­tei­len.»

Maja Lunde, Die Geschichte der Bienen

Sie war sich unsi­cher, ob sie über Gift schrei­ben woll­te. Bisher war sie Schriftstellerin mit Naturthemen gewe­sen, soll­te sie sich nun wirk­lich auf den Pfad der Investigativrecherche bege­ben? Sie hat­te sich einen Namen als popu­lä­re Autorin geschaf­fen: Wollte sie dies wirk­lich ris­kie­ren, indem sie sich mit der Industrie anleg­te und sehr poli­tisch wur­de?

Ja. Sie muss­te. Und sie tat es mit einer unglaub­li­chen Präzision, die die Welt ver­än­der­te.
Die Rede ist von Rachel Carson, die Autorin der die Welt ver­än­dern-den Geschichte des «Silent Spring». Sie beginnt mit der Beschreibung, wie ganz nor­ma­le Menschen in einem ganz nor­ma­len Dorf mit ganz nor­ma­ler Natur zusam­men­le­ben und sich ein Einkommen gene­rie­ren. Bis in die­se Wildnis das Böse ein­bricht. Und zwar von innen: «No witch-craft, no ene­my action had silen­ced the rebirth of new life in this stricken world. The peo­p­le had done it them­sel­ves.» (Es war kei­ne Hexerei, kei­ne Feindesaktion, die die Wieder-geburt des Lebens zum Verstummen brach­te. Es waren die Menschen sel­ber.) Carson sprach die Hausfrauen an. Die besorg­ten Bürgerinnen, die nach dem Buch dem Leitungswasser nicht mehr trau­en wür­den. Die Menschen, die ange­sichts des Zustands der Welt sel­ber han­deln wür­den.
Am 4. Juni 1963 sag­te Rachel Carson vor dem Senatsausschuss in Washington aus. Sie hat­te – ohne dass dies die Menschen wuss­ten – eine radi­ka­le Mastektomie über­lebt. In sei­nem Buch «Cancer. The Emperor of Kings» beschreibt Siddhartha Mukherjee, was dies bedeu­te­te: Den Frauen wur­de sprich­wört­lich der Leib weg­ge­schnit­ten. Rachel Carson konn­te kaum rich­tig sit­zen, und da sie nach der Bestrahlung eine Glatze hat­te, trug sie eine dun­kel­brau­ne Perücke.

Rachel Carson war die Autorin des Buches «Silent Spring», das 1962 die Welt ver­än­der­te. Sie prä­sen­tier­te der ame­ri­ka­ni­schen Öffentlichkeit die bit­te­ren Fakten der flä­chen­decken­den Vergiftung der Böden, Pflanzen und Tiere. Ihre Botschaft war ein­fach: Wenn Menschen die Natur ver­gif­ten, ver­gif­tet die Natur alle Lebewesen zurück.

«Silent Spring» bot den Auftakt der öko­lo­gi­schen Bewegungen in den USA. Seither hat es kein Buch mehr geschafft, genug öffent­li­chen Druck auf­zu­bau­en, um Pflanzen-gif­te tat­säch­lich zu ver­bie­ten. Al Gores «Inconvenient Truth» hat zwar den Klimawandel auf die poli­ti­sche Agenda gebracht, aber damit den wirk­li­chen Fortschritten auch etwas gescha­det. Denn Gore war Politiker. Das war Rachel Carson nicht. Wenn die Welt ver­än­dert wer­den soll, wird sie dies nur von unten her tun kön­nen. So wie damals mit Rachel Carson, die wie eine Art Bürgerwissenschaftlerin ihren Mitmenschen er-zähl­te, was DDT tat­säch­lich ist: Ein Gift, das Kinder und Erwachsene sehr lang­sam und sehr schmerz­haft an der furcht­bar­sten aller Krankheiten ohne Heilung ver­en­den lässt.

Dann kam im Jahr 2012 ein klei­ner gros­ser Schweizer namens Markus Imhoof. Nicht nur ist sein Dokumentarfilm «More Than Honey» der beste Schweizer Dok aller Zeiten, der Film geht um die Welt. Markus Imhoof zeigt in ein­drück­li­chen Bildern, was das Bienensterben von Kalifornien bis China bedeu­tet. In den USA ist das Colony Collapse Disorder – das mas­sen­haf­te Verenden der Bienen-stäm­me – schon längst doku­men­tiert, wis­sen­schaft­lich erho­ben und steht selbst­ver­ständ­lich direkt im Zusammenhang mit den Pflanzengiften und der gräss­li­chen indu­stri­el­len Haltung von Tieren all­ge­mein, aber natür­lich auch von den Bienen. «More Than Honey» ver­än­dert die Lebens- und Weltsicht von allen Menschen. Einzige Voraussetzung: Der Film muss über­all gezeigt wer­den und die Me-dien müs­sen stän­dig dar­über berich­ten.

Die EU hat end­lich am 1. März 2018 vor den drei weit ver­brei­tet­sten Insektiziden gewarnt. Die «Neonics» ver­ur­sa­chen das Insektensterben und töten Bienen schon ab zwei Milliardstel Gramm. Nur das umstrit­te­ne Glyphosat wird noch häu­fi­ger ein­ge­setzt.

Das Bienen-Thema bie­tet also genug Stoff für die Welterzählung des 21. Jahrhunderts. Deshalb war ich über­glück­lich, dass Maja Lunde einen Roman über «Die Geschichte der Bienen» geschrie­ben hat. Das Buch ist ein Bestseller und wird teil­wei­se hym­nisch bespro­chen. In die­sen Ta-gen kam ich end­lich dazu, den Ro-man zu lesen und war furcht­bar ent­täuscht. Zwar ist die Idee, drei Gene-ratio­nen über meh­re­re Jahrhunderte zu erzäh­len, sehr geschickt, das Buch ist durch­aus klug kon­zi­piert, allein es fehlt das Herz und die Politik der Ge-schich­ten. Lunde macht alles rich­tig. Sie hat sogar den rich­ti­gen Instinkt, für ihren dys­to­pi­schen Teil die Volks-repu­blik China zu wäh­len, die schon jetzt in Sichuan die Fruchtbäume von Hand bestäubt: Menschen sind dort Billigware. Der Bestseller wur­de u. a. auch des­halb gerühmt, weil nicht die Umwelt-Botschaft im Vordergrund steht, son­dern das Schicksal von drei Familien erzählt wird, die mit Bienen zu tun haben.

Genau dies krei­de ich dem Ro-man an: Er ist mir zu wenig poli­tisch, zu wenig bri­sant, zu wenig klar und viel zu wenig poe­tisch. Bienen sind Leben und Tod – dar­aus las­sen sich gros­se Mythen und Geschichten stricken. Lunde hat viel­leicht einen An-fang gemacht, doch das Thema Natur und Mensch war­tet schon lan­ge auf gros­se Erzählungen. Dann müss­ten wir uns auch nicht stän­dig von den ame­ri­ka­ni­schen Familienschicksalen lite­ra­risch bebrab­beln las­sen, die an-gesichts der Weltpolitik unfass­bar wohl­stands­ver­wahr­lo­send ermü­dend sind und schon längst ihre gesell­schafts­po­li­ti­sche Dringlichkeit ver­lo­ren haben.

Maja Lunde:
Die Geschichte der Bienen ISBN 978–3‑442–75684‑1