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Berlinale 2013 – der Tag danach

«Der Tag danach», heisst ein Film aus den 80er Jahren, der die USA am Tag nach dem Atomkrieg zeigt. Am Tag nach der Berlinale geht es in Berlin eher zu und her wie in einem ande­ren Streifen: «Cabaret» mit Liza Minelli. In den alt­herr­schaft­li­chen Pensionen um den Ku’damm schnap­pen die Kofferschlösser zu, in den Salons des Literaturcafés blei­ben die Plätze leer und am Flughafen tre­ten sich die Passagiere auf die Füsse. Derweil jam­mert die Berliner Tagespresse über ein schwa­ches Programm, über den Bedeutungsverlust des Festivals, spricht von Krise und per­so­nel­len Konsequenzen, kon­sta­tiert eine Verheerung wie «Im Tag danach». Einzig die lin­ke «TAZ» hält tap­fer dage­gen. Das gröss­te Publikumsfestival der Welt, zwei­hun­dert Filme, hun­dert Premieren! Nur schon dies!

Klatsch und Kritik

Eben dar­um waren sie rie­sig, die Erwartungen bei der Ankunft, als der Fernsehturm aus dem Flugzeugfenster zu erken­nen war. So vie­le fil­mi­sche Höhepunkte, so vie­le gros­se Namen im Programm! Und am Ende doch ein Kater, Klagen allent­hal­ben. Anderseits: Wer hat denn schon mehr als viel­leicht zwan­zig Filme gese­hen? Nicht mal die Berliner Kritiker. Wie auf jedem grös­se­ren Festival war man auf Begleit-Veranstaltungen ange­wie­sen, auf Hörensagen, auf mit­ge­hör­te Gespräche, dar­auf was ande­re schrei­ben und auf den all­wis­sen­den Klatsch. So jagt eben so eine Festivalherde bald die­sem Trend nach, bald dem ande­ren. Ab und zu wird ein Film dabei über­rannt. Zum Beispiel «Elle s’en va», mit Catherine Deneuve in der Titelrolle. Der fein­sin­ni­ge Humor die­ser Komödie liegt im Dialog. Nur wird an der Qualität der Untertitel heut­zu­ta­ge mäch­tig gespart. So gehen denn in fremd­spra­chi­gen Filmen Witz und Doppelbödigkeit ver­lo­ren. Von den Werken im Wettbewerb lan­de­te «Elle s’en va» auf dem letz­ten Platz.

Andere Filme wur­den noch vor der Premiere hoch gehan­delt. So etwa «Pardé» (geschlos­se­ne Vorhänge), das Werk des ira­ni­schen Regisseurs Jafar Panahi. Der Film muss­te heim­lich gedreht wer­den und wur­de vom ira­ni­schen Regime umge­hend als «ille­gal» erklärt. Allein schon damit war dem Film eine Auszeichnung sicher. Nun erwies sich Panahi durch­aus als Meister sei­nes Fachs. Besonders das Spiel des Hauptdarstellers Kamboziya Partovi allein im Haus mit sei­nem (eben­falls ille­ga­len) Hund ist umwer­fend. Der Film sta­pelt aber auch Metaphern förm­lich auf­ein­an­der. Viele davon blei­ben ohne Kenntnis der Sprache (Farsi) und des genau­en poli­ti­schen Umfelds für das euro­päi­sche Publikum unver­ständ­lich. Die Geschichte wird so zum Dickicht kaum durch­schau­ba­rer Handlungen. Die Berlinale-Juroren ver­lie­hen dem Film den Silbernen Bären für das beste Drehbuch. Eine Verlegenheitslösung.

Schmuckstücke und Abstürze

Manches Juwel bleibt vom Festivaltross unbe­ach­tet links lie­gen. «La Plaga» (Die Epidemie) zum Beispiel. Erstaunlich, wie nah und glaub­wür­dig die kata­la­ni­sche Regisseurin Neus Ballús den bit­te­ren Alltag im Standrandgebiet dem Publikum ver­mit­telt. Neus Ballús lässt den Laiendarstellern ihre unver­fälsch­te Sprache. Wer etwas Katalanisch ver­steht, lacht allein im Saal.

…wäh­rend das das Publikum schon wei­ter hastet, von Ost nach West, von Schlange zu Schlange, vom noblen Fasanenplatz in die frü­her ein­mal Stalin, dann Karl Marx, jetzt wie­der Frankfurter Allee. Traum und Albtraum kreu­zen sich in Berlin schnell ein­mal auf dem­sel­ben Gehsteig. Erst die Stimmung, in der man her­um geschleu­dert wird, macht den Zuschauer, erst der Zuschauer macht den Film. Allem Jammern zum Trotz: Die Berliner Zuschauerinnen und Zuschauer haben an der Berlinale 2013 durch­aus Schätze geho­ben.

Doch es ärgert die Berliner, dass die bekann­ten Regisseure ihnen oft nur ihre Nebenprodukte vor­set­zen. Ken Loach, der in sei­nen Filmen sonst so fan­ta­sti­sche Geschichten erzählt, war mit poli­ti­scher Agitprop ver­tre­ten: «The Spirit of ‹45». Gut gemacht, aber doch schlicht ein Zusammenschnitt aus Archivmaterial und Interviews. Gus Van Sants Beitrag «Promised Land» kann man sogar als Geringschätzung des Festivals auf­fas­sen. Matt Damon über­nimmt in die­sem Film die Hauptrolle, hat das Drehbuch dazu mit­ge­schrie­ben und woll­te selbst Regie füh­ren, bevor er die­sen Part Gus Van Sant über­liess. Das Ergebnis ist so platt und so pfarr­herr­lich, dass es einem die Gedärme zusam­men zieht. Matt Damon spielt nicht mal son­der­lich gut in dem Streifen.

Berlin gestern, heu­te, mor­gen

Statt über den Atlantik blickt die Berlinale zuneh­mend in Richtung Osten. Filme aus dem Europa zwi­schen Ostsee und Ägäis sor­gen fast jedes Jahr für Aufsehen. Der rumä­ni­sche Film «Poziţia Copilului» (Pose des Kindes) des Regisseurs Călin Peter Netzer gewann heu­er den gol­de­nen Bären, der bos­ni­sche Film «Epizoda u živo­tu berača žel­je­za» (Episode aus dem Leben eines Eisenhauers) von Danis Tanović zwei sil­ber­ne Bären. Vor dem Hintergrund der zer­rüt­te­ten Gesellschaften Südost-Europas gewin­nen ehr­li­che Filme offen­bar eine beson­de­re Macht – dies als Ansatz einer Erklärung. Die Berlinale bie­tet aber auch ein Forum für die klei­nen Nachbarstaaten Deutschlands, wie Dänemark, die Niederlande, Österreich und die Schweiz. Die Publikumsgunst neig­te sich die­ses Jahr dem Film «Vaters Garten – Die Liebe zu mei­nen Eltern» des Schweizers Peter Liechti zu. Der Regisseur zeich­net ein zum Teil insze­nier­tes, zum Teil doku­men­ta­ri­sches Porträt sei­ner Eltern und ihrer Generation.

Dazwischen die freie Zeiten. Essen in einer Kneipe, deren Speisekarte stets noch von Ostpreussen träumt – Berlin gestern; im Suff bei Morgendämmerung die per­fek­te Revolution ent­wer­fen – Berlin heu­te; sonn­tags Baby-Besuch weit­ab von Ku’damm, Potse und Alex, wo sich neue Einfamilienhäuser hekt­aren­wei­se aus­brei­ten – Berlin mor­gen. Gestern waren lau­nig-humo­ri­sti­sche Einführungen in die Filme, heu­te gibt’s einen Satz genu­schelt auf Globish, als wür­de eben durch­ge­sagt: «This is a non smo­king air­port». Auch das wird sich wie­der ändern. Darum müs­sen wir immer wie­der hin, zur Berlinale. Krise hin oder her. Dann heisst es wie­der «Willkommen, wel­co­me, bien­ve­nue – im Cabaret!»

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