Bengel oder Engel?

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Von Luca Zacchei – Der Busfahrer stoppt unsanft. Die hin­ter­ste Türe geht auf. Eine Grossmutter und ihr etwa vier­jäh­ri­ger Enkel stei­gen ein. «Noah, pass’ bit­te auf!» moniert die älte­re Frau. «Jaaaa, Grossi!» ant­wor­tet das Kind. Noah läuft unko­or­di­niert durch den Gang und schwankt wie ein Boot auf stür­mi­scher See. Es gibt nur noch einen frei­en Sitzplatz, der vom Kleinen direkt ange­steu­ert wird. Das Kind macht sich auf dem Polstersessel bequem und blickt ver­träumt durch die Fensterscheibe. Seine Grossmutter bleibt neben ihm ste­hen und stützt sich auf ihren Gehstock. Zwei älte­re Damen begin­nen in mei­ner Nähe zu tuscheln: «Unglaublich, der Bengel! Anstatt den Sitzplatz sei­ner Grossmutter zu über­las­sen, sitzt er selbst dar­auf.» Eine pein­li­che Stille macht sich breit. Einzelne, zischen­de Wortfetzen hän­gen immer noch in der Luft. Mir kommt eine Geschichte in den Sinn, wel­che ich als Kind von mei­nem Vater mehr­mals gehört hat­te:

Ein Bauer und sein Sohn gin­gen an einem son­ni­gen Morgen arbei­ten. Ein paar Kilometer vom Dorf ent­fernt besass der Bauer ein Stück Land, genug gross, um sei­ne klei­ne Familie ernäh­ren zu kön­nen. Vater und Sohn wur­den bei ihrer Arbeit von einem Maulesel tat­kräf­tig unter­stützt. Nach dem ersten Arbeitstag fühl­te sich der schmäch­ti­ge Sohn müde. Da sag­te der Vater: «Sohn, du hast heu­te wie ein gros­ser Mann gear­bei­tet. Deshalb sollst du für die Rückreise den Maulesel rei­ten.» Dankbar klet­ter­te der Sohn auf das Tier und die Drei mach­ten sich auf den Rückweg.

Im Dorf ange­langt wur­den sie von einer Gruppe Menschen ange­hal­ten und scharf kri­ti­siert: «Schaut her! Ein jun­ger Mann rei­tet das Tier, wäh­rend der Alte neben­an lau­fen muss.» Der Sohn schäm­te sich, bekam einen hoch­ro­ten Kopf und stieg sofort hin­un­ter.

Am näch­sten Tag wur­de der Acker wie­der gepflügt. Und als sich der Abend näher­te, sag­te der Bauer: «Sohn, wir wur­den gestern beschimpft. Heute wer­de ich den Maulesel rei­ten und du kannst neben­an lau­fen.» In die­ser Konstellation erreich­ten die Drei das Dorf und tra­fen die­sel­be Gruppe von Menschen des Vortages an. Auch die­ses Mal hat­ten die Menschen etwas zu meckern: «Schaut her! Der kräf­ti­ge Bauer lässt sei­nen schmäch­ti­gen Sohn hart arbei­ten aber nicht den Maulesel rei­ten.» Der Bauer wur­de grim­mig, stieg aber prompt vom Tier.
Am Folgetag war die Hitze auf dem Feld uner­träg­lich. Der Maulesel war an die­sem heis­sen Tag beson­ders wider­spen­stig und woll­te nicht arbei­ten. Der Bauer und sein Sohn schuf­te­ten hart. Und als die Sonne lang­sam unter­ging, sag­te der Vater: «Mein Sohn, heu­te haben wir viel gear­bei­tet. Deshalb stei­gen wir jetzt bei­de auf das bocki­ge Tier.» Als die Reisegruppe das Dorf erreich­te, waren bereits die ersten nega­ti­ven Stimmen zu hören: «Schaut her! Das arme Tier hat den gan­zen Tag gear­bei­tet und muss das Gewicht zwei­er Menschen tra­gen. Das ist uner­hört!» Der Bauer und sein Sohn ver­stan­den die Welt nicht mehr. Sie stie­gen trotz­dem ab und mach­ten sich zu Fuss auf den Nachhauseweg.

Am vier­ten Arbeitstag weh­te ein küh­ler Wind. Die Arbeit ging flott vor­an. Da ent­schied der Bauer: «Sohn, heu­te war die Arbeit ange­nehm. Wir gön­nen doch unse­rem Maulesel eine Pause und lau­fen bei­de neben­her.» Da lie­fen sie, der Bauer rechts vom Esel, der Sohn links davon, bis sie den Dorfeingang erreich­ten. Und prompt wur­den sie laut aus­ge­lacht: «Schaut her! Diese zwei Tölpel besit­zen einen Maulesel, rei­ten ihn aber nicht.» Da sag­te der Vater zum Sohn: «Mein Sohn, wie du fest­stel­len kannst: den Leuten kannst du es nie recht machen! Sie urtei­len all­zu leicht, obwohl sie nicht ein­mal die hal­be Wahrheit ken­nen. Ab sofort wer­den wir uns so ver­hal­ten, wie es uns gera­de passt.» Und so zogen sie davon, wäh­rend das Geschwätz der Leute vom Wind weg­ge­tra­gen wur­de.

Noahs Grossmutter hat das Tuscheln im Bus mit­be­kom­men. Sie nähert sich den Damen und sagt mit ruhi­ger Stimme: «Ich wur­de vor ein paar Wochen an der Hüfte ope­riert. Wenn ich absit­ze, kann ich nur mit Mühe auf­ste­hen.» Der Bengel dreht sich um, und lächelt wie ein Engel. Und die Moral von der Geschicht‘? Urteile so vor­schnell nicht!

Illustration: Rodja Galli / www.rodjagalli.com
ensuite, Oktober 2013

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