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Bach, wie man ihn sich öfters wünsch­te…

Von François Lilienfeld – Eine Besprechung des Weihnachts-ora­to­ri­ums im Januar? Nun ja, Verspätungen kön­nen vor­kom­men; vor Allem aber ist die­se Musik so uni­ver­sell, dass man sie das gan­ze Jahr hören kann, sogar unab­hän­gig von der Glaubenszugehörigkeit.

Der Dirigent Karl Ristenpart (1900–1967) ist heu­te lei­der weit weni­ger bekannt als er es ver­dien­te. Seine Karriere wur­de durch die Machtübernahme der Nazis unter­bro­chen. Zu kei­nen Konzessionen bereit beschränk­te er sich auf stil­le Arbeit mit Kammerorchestern, bis ihm auch dies ver­bo­ten wur­de und die Machthaber ihn, als Truppendirigent, zum Wehrdienst zwan­gen. Nach der Kapitulation wur­de ihm, als Unbelasteten, sofort eine wich­ti­ge Arbeit über­tra­gen: Er soll­te Orchester und Kammerchor des RIAS (Radio im ame­ri­ka­ni­schen Sektor) Berlin auf­bau­en. Damit war er an der Spitze (zeit­wei­se zusam­men mit Ferenc Fricsay) eines der Rundfunkorchester, die von den Besatzungsmächten ins Leben geru­fen wur­den, und die einen unge­heu­ren musi­ka­li­schen Aufschwung in Nachkriegsdeutschland ermög­lich­ten. 1953 zog Ristenpart nach Saarbrücken, wo er das Kammerorchester des Saarländischen Rundfunks grün­de­te.

Sein Repertoire war breit, beson­ders aber lagen ihm Bach und Mozart am Herzen; dazu Mahler, des­sen Musik sei­ne Entscheidung, Dirigent zu wer­den, stark beein­flusst hat­te.

1949 begann der RIAS einen Bach-Kantatenzyklus mit Ristenpart auf­zu­neh­men. Dieses Projekt – es hät­te eine Gesamtaufnahme wer­den sol­len – muss­te lei­der aus ver­trag­li­chen Gründen 1952 abge­bro­chen wer­den. Die 28 exi­stie­ren­den Kantaten hat die Firma audi­te 2012 her­aus­ge­ge­ben (audi­te 21.415, 9 CDs). Vor kur­zem nun ver­öf­fent­lich­te die­sel­be Firma Bachs Weihnachtsoratorium mit Kammerchor, Knabenchor und Kammerorchester des RIAS (audi­te 21.421, 3 CDs). Das Dokument stammt vom Dezember 1950.

Die Aufnahme ist wohl eines der wich­tig­sten Zeugnisse der Bach-Interpretation. Ristenpart hat ein untrüg­li­ches Gefühl für die Klang- und Gefühlswelt des Thomaskantoren, aber auch für sei­nen Stil; dass eini­ge Appoggiaturen feh­len und in da capo-Teilen nicht vari­iert wird, nimmt man in Kauf. Vor allem her­vor­zu­he­ben ist sein Sinn für Tempi, die bei ihm nie ver­schleppt oder gehetzt wir­ken: Jedes Tempo ist dem ent­spre­chen­den Stück (und sei­nem Text) ange­passt. Die Bass-Arie «Großer Herr und star­ker König» ist maje­stä­tisch, die sehr zügi­ge Pastorale klingt nach frei­er Luft, der Chor «Herrscher des Himmels» ist wirk­lich ein Triumph-Psalm.

Die von Bach so herr­lich zusam­men­ge­stell­ten Klangkombinationen (Flöten, Oboen, Oboe d’amore…) kom­men dank der hohen Qualität des Orchesters wun­der­bar zur Geltung. Und die Solisten gehö­ren wohl zum Besten, was Deutschland 1950 zu bie­ten hat­te: Agnes Giebel (Sopran), Charlotte Wolf-Matthäus (Alt), Helmut Krebs (Tenor), Walter Hauck (Bass). Auch die Chöre sind groß in Form; was ab und zu an Delicatesse fehlt, wird durch Sangesfreude mehr als wett­ge­macht!

Die Aufnahmequalität zeugt für das gro­ße tech­ni­sche Können der dama­li­gen Toningenieure. Nur die Hörner im vier­ten Teil dürf­ten etwas prä­sen­ter sein. Für die Überspielung auf CD wur­den die Originalbänder benutzt, was einen wei­te­ren Vorteil bedeu­tet.

Viel Wissenswertes über die Musikerpersönlichkeit Ristenparts und die Hintergründe der Aufnahme ver­mit­telt der hoch­in­ter­es­san­te Text von Habakuk Traber im Beiheft.

Dass das gan­ze Werk (6 Kantaten!) in zwei Tagen auf­ge­nom­men wur­de, ist nicht nur erstaun­lich, son­dern erklärt viel­leicht auch die erfri­schen­de Spontaneität der Aufführung.

Ein Teil der Chöre und Arien im Weihnachtsoratorium stammt übri­gens aus welt­li­chen Kompositionen Bachs. Dieses «Parodieverfahren» war damals gang und gäbe und hat nichts Schockierendes; im Gegenteil, es zeigt die Größe des Komponisten, der Allgemeingültiges schafft. Oder, um einen berühm­ten Bach-Forscher zu zitie­ren: «Dennoch, oder viel­leicht gera­de, weil in die­se Weihnachtsmusik ein so gro­ßer Teil ursprüng­lich welt­li­cher, d. h. volks­tüm­li­cher Weisen Bachs ein­ge­schmol­zen ist, strahlt sie in so unver­gäng­li­cher Frische.» (Arnold Schering, 1922)

Schade, dass solch voll­ende­tes Bach-Musizieren immer sel­te­ner zu hören ist – mit nam­haf­ten Ausnahmen natür­lich…

Foto: zVg.
ensuite, Januar 2014