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Arbeiten! Rausch! Gehirn zer­schmet­tern!

Von Julia Richter – Mit der Ausstellung «Von Matisse zum Blauen Reiter» lädt das Kunsthaus Zürich zu einer umfang­rei­chen Gesamtschau expres­sio­ni­sti­scher Kunst ein.

Das Bild wirkt, als ob es die Kraft hät­te Gläser zu zer­spren­gen: Modjesko, der trans­se­xu­el­le Opernsänger, gemalt von Kees van Dongen, scheint sich die Seele aus dem Leib zu sin­gen. Es ist, als könn­ten die Vibration und der Klang mit den Augen gehört wer­den. Ein sin­gen­der Transvestit, dar­ge­stellt in unver­brüch­li­cher Erotik und inten­siv-abstrak­ter Farbgebung, Ausdruck der avant­gar­di­sti­schen Pariser Bohème, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Impressionismus über­win­den und die Kunstszene revo­lu­tio­nie­ren woll­te.

Paris ist denn auch Ausgangspunkt der Ausstellung «Von Matisse zum Blauen Reiter» (Kuratorin: Cathérine Hug), die gegen­wär­tig im Zürcher Kunsthaus zu sehen ist. Die fran­zö­si­sche Hauptstadt galt als Mekka der Kunstszene um 1900. Wer sich in der Künstlerwelt eta­blie­ren woll­te, kam nicht dar­um her­um, sich dort Eindrücke und Inspirationen für künst­le­ri­sches Schaffen zu holen. Das brach­te Kandinsky, Pechstein, Feininger und vie­le mehr dazu, sich auf die Reise nach Frankreich zu bege­ben.

Mit über 100 hoch­ka­rä­ti­gen Werken wird nun im Kunsthaus der Einfluss des Postimpressionismus in Frankreich auf die Entstehung des deut­schen Expressionismus und des fran­zö­si­schen Fauvismus dar­ge­stellt. Ziel ist, die land­läu­fi­ge Vorstellung zu kor­ri­gie­ren, Expressionismus sei eine rein deut­sche Strömung.

Van Goghs erup­ti­ver Malstil und Cézannes künst­le­ri­sche Umsetzung der inne­ren Wahrnehmung wur­den denn auch zur mass­geb­li­chen Inspirationsquelle der 1905 gegrün­de­ten Dresdener Künstlervereinigung «Die Brücke». Die Gruppierung rund um Kirchner, Bleyl, Heckel und Schmidt-Rotluff woll­te inne­ren Empfindungen durch ihre Kunst Ausdruck ver­lei­hen und sich, auf der Suche nach Authentizität, von allem Alteingesessenen, Konventionellen lösen. Max Pechstein, der der «Brücke» 1906 bei­trat, brach­te die expres­sio­ni­sti­sche Stimmung auf den Punkt: es ging um «Arbeiten! Rausch! Gehirn zer­schmet­tern!»

So ver­fehlt die Ansammlung expres­sio­ni­sti­scher Kunstwerke im Zürcher Kunsthaus ihre Wirkung denn auch nicht. Der Gang durch die Ausstellung wird zum veri­ta­blen Sinnesrausch. Dies liegt vor allem an der beson­de­ren Bedeutung, die der Farbe im Expressionismus zukam. Sie wur­de nicht mehr län­ger nur als Mittel zum Zweck, son­dern als ein zen­tra­les Ausdrucksmedium, ein Statement ange­se­hen. Eindrücklich zeigt sich dies bei Ernst Ludwig Kirchner, der mit gross­zü­gi­gen, leuch­ten­den Farbflächen und abstrak­ter Farbgebung ver­deut­licht: es geht nicht dar­um, die Natur durch die Malerei zu kopie­ren. Vielmehr ist es die Aufgabe der Kunst, etwas Neues und Eigenständiges zu schaf­fen.

Um Eigenständigkeit und Intensität ging es auch den Mitgliedern des «Blauen Reiters». Die Künstlervereinigung rund um Wassily Kandinsky und Franz Marc zele­brier­te zudem die Integration der Musik in die Malerei, und ori­en­tier­te sich an ori­en­ta­li­scher Volkskunst.
Letzteres kam in Deutschland nicht gut an: Der auf­stre­ben­de Nationalismus, gekop­pelt mit Hegemonialphantasien, liess Kritik an der «Internationaliserung» der deut­schen Kunstszene auf­kom­men. Dies führ­te zum «Bremer Künstlerstreit», der die Kunstwelt in Vertreter des kos­mo­po­li­ti­schen, welt­ge­wand­ten künst­le­ri­schen Austauschs und in eine natio­na­li­stisch aus­ge­rich­te­te Strömung spal­te­te.

Damit ver­deut­licht die Ausstellung im Kunsthaus vor allem eines: Keine Kunstströmung kann ohne ihre Wurzeln ver­stan­den wer­den – genau­so wenig wie ein Künstler los­ge­löst von sei­nem histo­ri­schen Kontext betrach­tet wer­den kann. Diesem histo­ri­schen Kontext fiel der deut­sche Expressionismus denn auch zum Opfer: Die Zeit der radi­ka­len, auf Emotion, Ausdruck und Farbe fokus­sier­ten Kunst fand zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 ein abrup­tes Ende.

Foto: zVg.
ensuite, März 2014