Ansichten eines Nicht-Ortes

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Tindouf ist eine klei­ne und unschein­ba­re Stadt im Westen Algeriens und sie wäre völ­lig bedeu­tungs­los ohne den histo­ri­schen Hintergrund des Westsaharakonflikts. Nachdem 1976 die spa­ni­schen Kolonialherren die Westsahara ver­lies­sen, begann bald die Annexion des Gebiets durch die angren­zen­den Staaten Marokko und Mauretanien. Mauretanien zog sich bald zurück, die mar­ro­ka­ni­schen Truppen hin­ge­gen lie­fer­ten sich mit der ein­hei­mi­schen Befreiungsbewegung einen blu­ti­gen Besatzungskrieg, den sie schliess­lich für sich ent­schei­den konn­ten. Tindouf ist Sitz der Exilregierung der Demokratischen Arabischen Republik Sahara, die zwar de fac­to als Vertretung der Saharauis in Verhandlungen mit Marokko fun­giert, offi­zi­ell von der dor­ti­gen Regierung aber natür­lich nicht aner­kannt wird. Vor allem aber befin­den sich in der Peripherie der Stadt vier gros­se Flüchtlingslager, in denen heu­te ins­ge­samt cir­ca 160 000 Menschen leben – eine Folge der mas­si­ven Migrationsbewegung zu der in den 1970ern jene Bewohner der Westsahara gezwun­gen waren, die sich sei­ner­zeit an den Kämpfen gegen die marok­ka­ni­schen Truppen betei­ligt hat­ten. Seitdem schwelt der Konflikt, hin und wie­der kommt es zu klei­ne­ren Scharmützeln und Protestaktionen, ange­kün­dig­te Referenden wer­den ver­tagt. Der soge­nann­te Arabische Frühling hat­te hier kei­ne nen­nens­wer­ten Auswirkungen. International inter­es­siert man sich kaum für die Westsahara, die Geschichte der Saharauis ist längst nicht so medi­en­taug­lich wie die der Palästinenser; die Auseinandersetzung wird mit­un­ter als «der ver­ges­se­ne Konflikt» bezeich­net.

Artifizielle Realität

Der Schweizer Künstler Gilles Fontolliet besuch­te die­se Flüchtlingslager im Rahmen eines Kooperationsprojekts – mit der Auflage, sei­ne Erfahrungen in ein Werk ein­flies­sen zu las­sen. Er bemerk­te nach eige­nen Angaben jedoch bald, wie unpas­send oder gewollt sei­ne Skizzen wirk­ten; das Übrige taten die restrik­ti­ven Sicherheitsbestimmungen und die Hitze. Schliesslich ent­stand der Film «No com­ment», eine Collage aus Impressionen und Ausschnitten aus einer Lebenswelt, die uns selt­sam irre­al erscheint.

Ein Flüchtlingslager ist letzt­lich ein Nicht-Ort, ein selt­sam hybri­des Produkt aus ver­schie­den­sten – teils gewalt­sam oktroy­ier­ten, teils hän­de­rin­gend gesuch­ten – poli­ti­schen und kul­tu­rel­len Einflüssen. Sogar dann, wenn es seit Jahrzehnten besteht: Es ist für die Identität der Bewohner uner­läss­lich, dass man nicht ver­gisst, dass es sich ledig­lich um ein Provisorium, um eine Übergangslösung han­delt. Das Lager voll­stän­dig als Wirklichkeit anzu­er­ken­nen hies­se, sich mit dem Status quo zu arran­gie­ren, also den Kampf auf­zu­ge­ben. Es ist schwer vor­stell­bar, wie es sich in einer Siedlung lebt, deren Einwohner sich wün­schen, dass sie schnellst­mög­lich wie­der ver­schwin­det. Es ist ein Ort, des­sen Gegenwart negiert wer­den muss. Es gibt, selbst für die, die im Lager gebo­ren sind, dank täg­li­cher Re-affir­ma­ti­on durch Hymnen und Erzählungen nur die Vergangenheit (Heimat und Vertreibung) und eine vage Vorstellung von Zukunft (Rückkehr). Dazwischen liegt eine graue Dämmerung aus Trägheit, Depression und halb­her­zi­gem Arrangement. Es gibt kaum eine eige­ne Wirtschaft, man lebt prak­tisch aus­schliess­lich von Hilfslieferungen. Denn selbst­re­dend muss auch in einem hoch-arti­fi­zi­el­len Setting wie einem Flüchtlingscamp der Alltag orga­ni­siert wer­den.

Die Bilder, die Gilles Fontolliet ein­ge­fan­gen hat, sind, um es direkt zu sagen, im Grunde lang­wei­lig. Weder sind die Motive son­der­lich spek­ta­ku­lär, noch gibt es etwas, das auch nur ent­fernt an eine Handlung erin­nern wür­de. Man sieht Männer, die offen­bar alle Zeit der Welt haben, um Tee zu trin­ken; unter­schied­li­che Autotypen, die auf was auch immer für aben­teu­er­li­chen Wegen nach Afrika gelangt sein mögen; Kamele, die in impro­vi­sier­ten Gehegen gehal­ten wer­den. Die ein­zel­nen Einstellungen sind aus­ge­spro­chen lang, teil­wei­se krat­zen sie an der Schmerzgrenze. Doch gera­de dadurch ver­mit­teln sie eine Stimmung des Wartens und der Apathie, eine atmo­sphä­ri­sche Schwere, die sicher­lich die ein­drucks­voll­ste Wirkung des gan­zen Werks ist.

Auch schei­nen die Menschen nach und nach die Anwesenheit der Kamera zu ver­ges­sen, sie inter­agie­ren kaum mit ihr, was zu merk­wür­di­gen Effekten führt – zum einen zu Momenten, in denen die Authentizität total zu sein scheint; zum ande­ren aber wirkt man­ches gera­de­zu sur­re­al, um nicht zu sagen gestellt. Die Realität selbst ist hier das Artifizielle: näm­lich die Konstruktion einer Kultur und einer Normalität, die offen­sicht­lich die Nachbildung eines Anderen, Abwesenden ist. Dies zeigt sich in all­täg­li­chen Szenen, beson­ders offen­sicht­lich aber bei Kulturdarbietungen. Von grim­mi­gen Männern in Camouflage-Anzügen flan­kiert, zele­briert man hier Formen von Folklore und tra­di­tio­na­li­sti­scher Selbstvergewisserung, denen zwin­gend etwas Gemachtes, Erzwungenes anhaf­tet.

The artist is (near­ly) absent

Wenn heut­zu­ta­ge über etwas Einigkeit besteht, dann dar­über, dass es kei­ne unschul­di­ge, «neu­tra­le» Beobachtung gibt. Gleichwohl gibt es, wenn man so sagen darf, lau­te­re und lei­se­re Beobachtungen. Da der Film sich ganz am lei­sen Ende die­ser Skala ansie­delt, eröff­net er zugleich Reflexionen über den Blickwinkel und die Rolle der Kunst selbst. Trotz der schein­bar «rei­nen» Abbildung lässt sich kaum ver­mei­den, dass auf bestimm­te Bilder sym­bo­li­sche Inhalte pro­ji­ziert wer­den: etwa wenn man sieht, wie ein Zementbau errich­tet wird, obgleich sich sonst vie­les nur in Zelten abspielt. Oder wenn eine blaue Mülltüte von Wind ergrif­fen wird, und ziel­los durch die sand­far­be­ne Kulisse treibt – unweit vom schmut­zig-bei­gen, aber gleich­falls flat­tern­den Fahnentuch der Organisation UNHCR. Es ist dar­um so ver­lockend, Bedeutung in die Bilder hin­ein­zu­le­gen, weil dem Betrachter die­se Aufgabe nicht von einem Off-Kommentar oder einer auf­dring­li­chen Schnitttechnik abge­nom­men wird. Denn erin­nern wir uns dar­an, was ein soge­nann­ter Dokumentarfilm in Wirklichkeit ist: Das Erzählen einer Geschichte anhand von sug­ge­sti­ven Bildern, deren Grundgerüst aus eini­gen aus­ge­wähl­ten Tatsachen besteht. Verglichen damit ist «No com­ment», wenn man an dem Begriff fest­hal­ten möch­te, bei wei­tem doku­men­ta­ri­scher. Man fragt sich mit­un­ter, ob der Verzicht auf eine Stimme oder einen Kommentar tat­säch­lich die rich­ti­ge Entscheidung war. Andererseits: Was kann ein Künstler denn schon sagen über eine so frem­de Form der Vergesellschaftung? Muss er nicht ver­su­chen – gegen alle Widerstände, von denen uns die moder­nen Kunsttheorien berich­ten – trotz allem ver­su­chen, sich selbst so weit zurück­zu­neh­men, wie es nur geht?

Einmal taucht ein Klassenzimmer auf, offen­sicht­lich wur­de gera­de Englisch unter­rich­tet, man hat an einem Satz das Konjugieren, die Zeitformen und die Verneinung geübt, sodass nun an der Tafel steht: «I am wri­ting a sto­ry.» Und dane­ben: «I am not wri­ting a sto­ry. I was wri­ting a sto­ry. I was not wri­ting a sto­ry.» Die Wahrheit liegt – sowohl für die Bewohner der Lager, als auch für den Film selbst – ver­mut­lich irgend­wo dazwi­schen.

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