- ensuite | kulturagenda | enBlog - https://ensuite.we-are.gmbh -

Alphabet

Von Sandro Wiedmer – «Es gibt drei Arten von Menschen. Solche, die unbe­weg­lich sind. Solche, die beweg­lich sind und sol­che, die sich bewe­gen.»

Mit die­sem Zitat von Benjamin Franklin, wel­ches Sir Ken Robinson in sei­nem Vortrag «Changing Paradigms» gebraucht hat, fin­det der neue Dokumentarfilm von Erwin Wagenhofer («We feed the World», 2005 und «Let’s make Money», 2008) einen rela­tiv ver­söhn­li­chen Abschluss. Ausschnitte aus dem Vortrag des inter­na­tio­nal aner­kann­ten Bildungsexperten und Erziehungswissenschaftlers (Schwerpunkt Gesellschaftsentwicklung) aus Liverpool durch­zie­hen den gan­zen Film, bil­den eine Art Klammer.

Der Film beginnt mit Aufnahmen aus dem Death Valley – und Robinson, wel­cher «die­ser aus­ser­ge­wöhn­li­chen Kraft der Vorstellung» her­aus­ra­gen­de Errungenschaften mensch­li­cher Kultur zuschreibt, jedoch zugleich die Befürchtung äus­sert, «dass wir syste­ma­tisch die­se Fähigkeit in unse­ren Kindern zer­stö­ren. Und auch in uns selbst.» Er zitiert die Statistik einer Langzeitstudie, wel­che im Alter von drei bis fünf Jahren 98% der 1’500 Testpersonen den Level geni­al gibt, im Alter von acht bis zehn Jahren 32%, von 13 bis 15 Jahren noch 10%. Bei den über Fünfundzwanzigjährigen sind es gera­de noch 2% – zur Kontrolle wur­den 200’000 Erwachsene über 25 Jahre gete­stet. Den Ursachen die­ser ernüch­tern­den Bilanz will er in der Folge auf den Grund gehen.

Stationen sind dabei zuerst ein­mal China, wohin er den inter­na­tio­na­len Koordinator der OECD für die PISA-Studie beglei­tet. Einblicke in das dor­ti­ge Schulsystem erklä­ren nicht nur das regel­mäs­sig her­aus­ra­gen­de Abschneiden der Schülerschaft Chinas bei den PISA-Tests, son­dern auch die aus­ser­or­dent­lich hohen Suizidraten bei jun­gen Chinesen. Der dor­ti­ge Pädagogik-Experte fasst das auf Leistung aus­ge­rich­te­te System fol­gen­der­mas­sen zusam­men: «Bei uns gewin­nen die Kinder am Start und ver­lie­ren am Ziel».

Es kom­men in der Folge ein Hirnforscher zu Wort, ein Maltherapeut und von der UNESCO aner­kann­ter Pädagoge und Forscher, des­sen Sohn, wel­cher kei­ne Schule besucht hat, ein ehe­ma­li­ger Personalvorstand ver­schie­de­ner deut­scher Grosskonzerne, ein Hartz IV-Empfänger, eine Musterschülerin mit bril­lan­tem Zeugnis, wel­che als 15-jäh­ri­ge einen «Mein Kopf ist voll!» beti­tel­ten Text zum Alltag einer Gymnasiastin auf Zeit online ver­öf­fent­lich­te, wel­cher zu leb­haf­ten Kontroversen führ­te, der Spanier mit Down Syndrom, man­chen bekannt aus «Yó, tam­bién» (2009), der dank der Beharrlichkeit sei­ner Eltern die «nor­ma­le» Schule absol­vie­ren konn­te, in der Folge einen Hochschul-Abschluss mach­te und heu­te als Lehrer arbei­tet.

Neben Interviews gibt der Film Einblicke in die «Olympischen Mathematik-Wettbewerbe» Chinas, oder den alle zwei Jahre abge­hal­te­nen Wettbewerb «CEO of the Future» – und arbei­tet immer wie­der mit Bildern, wel­che nahe an der Grenze zur Poesie ange­sie­delt sind. So kehrt er am Schluss zurück zu den Bildern von Death Valley, par­al­lel geschnit­ten mit den Drachen, wel­che Kinder zu Beginn des Films in China stei­gen las­sen – eine schö­ne Bild-Metapher, die zum erwähn­ten ver­söhn­li­chen Abschluss des Films bei­trägt.

Foto: zVg.
ensuite, März 2014