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Alkohol Die mäch­tig­ste Droge der Welt

Von Wolfgang P. Schwelle – Fortsetzung, Teil 3: Vor der Erfindung von Radio, Kino, Fernsehen und Internet war für die mei­sten Menschen das Trinken eines von weni­gen Vergnügen über­haupt.

Alkohol ist damit die am wei­te­sten ver­brei­te­te, die gefähr­lich­ste, die belieb­te­ste und letzt­lich zudem die viel­sei­tig­ste (Alltags-) Droge der Welt – und noch dazu eine der ganz weni­gen, die in den mei­sten Ländern legal sind. Was ihn unterm Strich zur mäch­tig­sten berau­schen­den Substanz der Welt und aller Zeiten macht, ist die Summe all die­ser Eigenschaften.
Zum mitt­ler­wei­le Jahrtausende lang andau­ern­den Erfolg der Droge hat über­dies ein Umstand bei­getra­gen, der gern und oft ver­ges­sen wird: Vor der Erfindung von Radio, Kino, Fernsehen und Internet war für die mei­sten Menschen das Trinken eines von weni­gen Vergnügen über­haupt. Wenig über­ra­schend und durch­aus nach­voll­zieh­bar tat man es daher auch ent­spre­chend exzes­siv.

Gegen- und Rückenwind. Seit ein paar Jahren scheint der Superstar Alkohol aller­dings dort, wo er tra­di­tio­nell gern getrun­ken wird, mehr und mehr in Verruf zu gera­ten. Vor allem das soge­nann­te Binge Drinking, hier­zu­lan­de etwas def­ti­ger als Komasaufen bezeich­net, hat in die­sem Zusammenhang die Schlagzeilen mit­be­stimmt. Es ver­geht mitt­ler­wei­le jeden­falls kaum mehr eine Woche, in der nicht aus irgend­ei­ner Ecke die­ser Welt neue Maßnahmen zur Eindämmung des Alkoholkonsums berich­tet wer­den. So wur­de bereits vor ein paar Jahren etwa in Frankreich die Altersgrenze für den Erwerb von Bier und Wein ange­ho­ben und in Baden-Württemberg ein nächt­li­ches Verkaufsverbot für alko­ho­li­sche Getränke an Tankstellen, in Kiosken und Supermärkten erlas­sen und so hat Schottland erst 2013 einen Mindestpreis für Alkohol ein­ge­führt. Der Kampf gegen das belieb­te Laster wird jedoch auch auf EU-Ebene sowie inter­na­tio­nal mit zuneh­men­der Härte geführt. Aus gutem Grund beson­ders enga­giert zeigt sich übri­gens das bis­lang völ­lig alko­hol­ver­ne­bel­te Russland. Dort wur­de, sehr zum Missfallen vie­ler beherz­ter Säufer, unter ande­rem die Null-Promille- Grenze für Autofahrer wie­der ein­ge­führt und zuletzt etwa der Preis für Wodka mehr als ver­dop­pelt. Aber selbst dort, wo ohne­hin kein oder kaum Alkohol getrun­ken wird, wird die Gangart zuneh­mend ver­schärft. So ist etwa ein paar tau­send Kilometer wei­ter, in Dubai, seit 2010 sogar das Kochen mit Alkohol unter­sagt.

Fazit: Der Gegenwind, mit dem Bierbrauer, Weinbauern, Spirituosenhersteller, Gastronomen und Co. in vie­len Ländern zu kämp­fen haben, dürf­te tat­säch­lich an Stärke gewin­nen. Wobei es nichts ändert, wenn in ein­zel­nen Ländern sogar alko­hol­freund­li­che Maßnahmen beschlos­sen wer­den. Wenn etwa in Kenia, eben­falls 2010, ein Gesetz über die Legalisierung von ein­hei­mi­schen Brauerei- und Destillerie-Produkten in Kraft getre­ten ist, dann ist das die berühm­te Ausnahme, nicht die Regel.

Gefährdet, wirk­lich unter die Räder zu kom­men und viel­leicht sogar das Schicksal der Tabakindustrie zu erlei­den, sind die Vertreter der Alkoholbranche frei­lich trotz­dem nicht. Denn auf inter­na­tio­na­ler Ebene wird die Zahl der Trinker mit an Sicherheit gren­zen­der Wahrscheinlichkeit eben auch künf­tig jeden Tag uner­schüt­ter­lich wei­ter anstei­gen. Was in erster Linie damit zu tun hat, dass die Bevölkerung in vie­len Ländern nach wie vor stark wächst und damit Jahr für Jahr gan­ze Heerscharen von Jugendlichen ins Erwachsenenalter kom­men, aber eben nicht nur. Die stark zuneh­men­de Zahl von Alkoholkonsumenten in Ländern wie China und Indien hat näm­lich auch mit dem Anstieg des Wohlstands und der zuneh­men­den Verstädterung in die­sen Staaten zu tun: Viele Aufsteiger in Schwellenländern pfle­gen zuneh­mend einen ver­west­lich­ten Lifestyle, zu dem ein Drink zur rich­ti­gen Zeit ein­fach dazu­zu­ge­hö­ren scheint; dar­über hin­aus wird in den boo­men­den Metropolen, anders als von der Landbevölkerung, das Trinken nicht mehr als Wurzel allen Übels gese­hen.

Das Potenzial, wel­ches die Alkoholindustrie hier aller Wahrscheinlichkeit nach in den näch­sten Jahren und Jahrzehnten noch aus­schöp­fen wird, ist jeden­falls rie­sig. Zur Illustration: Das welt­be­rühm­te Unternehmen Campari ver­kauf­te im klei­nen Österreich im Jahr 2009 unge­fähr gleich vie­le Aperitifs und Spirituosen wie in China, das frei­lich rund 160-mal so vie­le Einwohner wie die klei­ne Alpenrepublik hat. Und wäh­rend in Indien 2012 immer noch deut­lich unter zwei Liter Bier pro Kopf getrun­ken wur­den, gönn­ten sich die Österreicher im sel­ben Jahr durch­schnitt­lich 107, 7 Liter. Berücksichtigt man, dass Indien 138-mal mehr (und zum gro­ßen Teil jun­ge) Einwohner hat als Österreich und auf dem Subkontinent der Durst schon auf­grund des Klimas sicher nicht klei­ner ist als in Mitteleuropa, spren­gen die mög­li­chen Dimensionen schier jede Vorstellungskraft. Zumal sich die welt­wei­te Bierproduktion zwi­schen 1961 und 2011 ohne­hin schon auf 177 Milliarden Liter ver­drei­facht hat und selbst dann, wenn man alle rela­ti­vie­ren­den Faktoren reli­giö­ser und son­sti­ger Natur mit ins Kalkül zieht.

In den hoch­ent­wickel­ten Gesellschaften der Ersten Welt hin­ge­gen sinkt der Verbrauch pro Kopf seit vie­len Jahren lang­sam, aber ste­tig. Vor allem Restaurants und Bars müs­sen – ganz im Gegensatz zum Einzelhandel – Umsatzeinbußen hin­neh­men, weil sich der Konsum noch dazu mehr und mehr in die eige­nen vier Wände ver­la­gert.

(K)eine rausch­freie Gesellschaft. Der Untergang des Abendlandes oder gleich der gan­zen Welt – und als des­sen Vorboten wer­den Maßnahmen zur Reduktion des Alkoholverbrauchs von vie­len dur­sti­gen Verbrauchern nun ein­mal gese­hen – wird aber trotz­dem noch län­ger auf sich war­ten las­sen.

Zum einen, weil das Trinken von Bier, Wein und Schnaps in vie­len Kulturen im Alltagsleben ein­fach zu stark ver­an­kert ist. Der eige­ne Alkoholkonsum wird dort übli­cher­wei­se als per­sön­li­che Angelegenheit gese­hen, in die sich der Staat mög­lichst wenig ein­mi­schen soll. Wer als Politiker auf Wählerstimmen schie­len muss, weiß das, und wer in repres­si­ven Systemen das Sagen hat, weiß das auch. Kein Wunder also, wenn hier meist Zurückhaltung an den Tag gelegt wird und die wer­te Obrigkeit da wie dort der Versuchung erliegt, den Bogen nicht zu über­span­nen. Zum ande­ren ste­hen ein­schnei­den­den Restriktionen – zumin­dest kurz­fri­stig – zudem ganz mas­si­ve wirt­schaft­li­che Interessen ent­ge­gen, die des Staates natür­lich inbe­grif­fen. Und das ist natür­lich eben­falls kein Geheimnis.

Zu beru­hi­gen ver­mag in die­sem Zusammenhang wohl auch, dass das Dionysische als Reaktion auf die Diktatur der Vernunft schon in der Vergangenheit immer wie­der eine Renaissance gefei­ert hat. Die völ­lig rausch­freie Gesellschaft, Traum vie­ler effi­zi­enz­fa­na­ti­scher Bürokraten, war immer schon eine Illusion und wird wohl immer eine blei­ben. Wenn etwa auf dem alten Kontinent heu­te sehr viel weni­ger Alkohol getrun­ken wird als in frü­he­ren Jahrhunderten und immer noch deut­lich weni­ger als noch vor ein paar Jahrzehnten, so ist das durch­aus erfreu­lich und unter ande­rem eine Folge stei­gen­den Gesundheitsbewusstseins; dar­aus aber zu schlie­ßen, dass sich der ent­spre­chen­de Trend fort­set­zen wird, bis die Europäer alle­samt zu rei­nen Wassertrinkern mutiert sein wer­den, ist aller­dings eine Schnapsidee. Die gegen­sätz­li­chen Zugänge ver­schie­de­ner Kulturen zum Thema Alkohol schei­nen sich viel­mehr neu­er­dings inter­na­tio­nal anzu­glei­chen, und die Verbrauchszahlen pen­deln sich offen­bar auf einem ver­gleichs­wei­se ver­nünf­ti­gen Niveau ein.

«Die Allgegenwärtigkeit des Drogenkonsums ist der­art offen­kun­dig, dass er wohl ein grund­le­gen­des mensch­li­ches Verlangen reprä­sen­tiert», schrieb der ame­ri­ka­ni­sche Arzt und Autor Andrew Weil schon Mitte der 1970 er Jahre, und er steht mit die­ser Ansicht nicht allei­ne da. Für sei­nen Landsmann und Kollegen, den Pharmakologen Ronald K. Siegel, ist das Verlangen nach Berauschung sogar nichts ande­res als ein Trieb, der eben­so­we­nig auf Dauer unter­drückt wer­den kann wie das Verlangen nach Sex und Nahrung.

Tatsache ist: Seitdem Menschen wis­sen, wie sie ihr Dasein durch die Einnahme von berau­schen­den und damit bewusst­seins­ver­än­dern­den und ‑erwei­tern­den Substanzen zumin­dest vor­über­ge­hend (ver­meint­lich) erträg­li­cher machen kön­nen, neh­men sie Drogen. Und es ist genau die­ser Wunsch nach einer gele­gent­li­chen Auszeit von all den Problemen, von der oft als bru­tal emp­fun­de­nen Wirklichkeit und von der durch­ra­tio­na­li­sier­ten Nüchternheit des moder­nen Lebens, den man nicht so ein­fach per Dekret zum Verschwinden brin­gen kann. Selbst wenn der Alkohol also sei­ne Bedeutung als Nahrungsmittel, als Desinfektionsmittel, als Kultgut oder was auch immer irgend­wann ein­mal rein gänz­lich ver­lie­ren soll­te, ein preis­wer­ter, lega­ler und im Vergleich mit ande­ren Substanzen gesund­heit­lich harm­lo­ser Fluchthelfer wird er wohl bis auf wei­te­res blei­ben.

Mehr noch: Zwar wur­den von den ver­schie­de­nen Kulturen immer wie­der ande­re Drogen gedul­det oder ver­bo­ten, aber «es gibt kei­ne Belege, dass es jemals in der Geschichte eine voll ent­wickel­te mensch­li­che Gesellschaft gege­ben hät­te, die völ­lig ohne den Gebrauch psy­cho­ak­ti­ver Substanzen aus­ge­kom­men wäre». Schreibt der eng­li­sche Journalist und Autor Stuart Walton im Vorwort zu sei­nem Klassiker Out of it. A Cultural History of Intoxication.
Doch, eine gab es, und die erwähnt er auch sogleich: Die Inuit haben bis zum Eintreffen der euro­päi­schen Eroberer tat­säch­lich ohne Drogen gelebt. Freilich nicht, weil sie so dis­zi­pli­niert und gesund­heits­be­wusst waren, son­dern weil dort, wo sie leben, auf Grönland und im hohen Norden Kanadas, ein­fach nichts wächst, was als Droge hät­te her­hal­ten kön­nen.

Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2013