Ai Weiwei: Die chi­ne­si­schen 1000 Jahre

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Von Dr. Regula Stämpfli - 1966 begann «Die Proletarische Kulturrevolution» in der Volksrepublik China und dau­er­te bis zum Tod des «Grossen Vorsitzenden» Mao Zedong zehn Jahre spä­ter. Die Jugendrevolte in der VR China hetz­te Kommunisten gegen Kommunisten, Junge gegen Alte, StudentInnen gegen ProfessorInnen und ver­nich­te­te 1000 Jahre chi­ne­si­sche Kultur. Mao Zedong wird trotz die­ser Hitler-Qualitäten bis heu­te in der VR China wie ein Heiliger ver­ehrt.

Im Westen wur­de die Kulturrevolution mit der «Mao-Bibel» ver­nied­licht und brach­te den Personenkult um Mao nach Europa. In der Volksrepublik lern­te die Jugend die hass­erfüll­ten Zitate Maos aus­wen­dig und skan­dier­te die­se wäh­rend ihrer fana­ti­schen Jagd auf Klassenfeinde.

Dies erin­nert an 2022: Wer die Auseinandersetzungen von Transaktivisten und Transaktivistinnen inklu­si­ve deren Sternchen auf Twitter ver­folgt, fühlt sich sehr bedroh­lich an die Szenen der chi­ne­si­schen Kulturrevolution erin­nert: Sprache wird nicht nur ver­än­dert, son­dern ideo­lo­gisch mon­tiert, Gewalt wird umge­kehrt: Die TäterInnen wer­den in völ­lig per­ver­ser Art – der tota­li­tä­ren Propaganda intel­lek­tu­el­ler Pogrome kon­sti­tu­tiv – zu Opfern ver­kehrt. «Reaktionäre Autoritäten» von 1966 sind 2022 die «TERFs»: Eine völ­lig fana­ti­sier­te west­li­che und aka­de­mi­sche Jugend tobt sich in den sozia­len Medien gegen Frauen aus und fin­det Unterstützung bei den weis­sen, homo­se­xu­el­len und alten hete­ro­se­xu­el­len Männern. In der chi­ne­si­schen Kulturrevolution stan­den im Zentrum der Vernichtung auch die ehe­ma­li­gen kom­mu­ni­sti­schen Weggefährten und nicht die wirk­li­chen Feinde sozia­ler und demo­kra­ti­scher Ideen. 2022 ken­nen wir der­ar­ti­ge Vorgänge, Sprechakte und Radikalisierungen auch: So wur­de am 8. März 2022 der Begriff «Frau» im inter­na­tio­na­len Frauentag aus­ge­löscht zugun­sten des «femi­ni­sti­schen Kampftages», und wer immer sich dage­gen wehr­te, wur­de in den sozia­len Netzwerken gede­mü­tigt, beschimpft und an den Pranger gestellt.

Es ist die­se Aktualität, die die Geschichte «1000 Years of Joys and Sorrows» von Ai Weiwei so erschüt­ternd macht. Ai Weiwei erzählt nicht nur die Geschichte Chinas, sei­nes Vaters, ansatz­wei­se auch die sei­ner Mutter, von sich sel­ber und sei­nem Sohn, son­dern er erzählt auch davon, was geschieht, wenn Kulturgarden, wenn Intellektuelle, wenn Narrative die Wirklichkeit so per­ver­tie­ren, dass sie Verleumdung, Demütigung, Folter und Mord als völ­lig fol­ge­rich­tig erschei­nen las­sen. Bis heu­te lie­fern die Roten Garden Vorbilder für ideo­lo­gi­sier­te Jugendbewegungen, deren mör­de­ri­sche Hetzjagden immer mit Linguistik, Rhetorik und ideo­lo­gi­schen Sprechakten begin­nen. Die Kulturrevolution ist war­nen­des Zeichen dafür, was alles gesche­hen kann, wenn eine ideo­lo­gi­sier­te Jugend mit­tels Massenbewegung in die Lage ver­setzt wird, Politik zu machen. Eine der­ar­ti­ge Jugend ist sprich­wört­lich zu allem fähig – vor allem wenn sie von einer alten Männerbürokratie nach den revo­lu­tio­nä­ren Anfangsmonaten zusätz­lich gepuscht wird.

Die Eltern des in der Volksrepublik heu­te regie­ren­den Xi Jinping, der das Vermächtnis Maos in per­ver­ser Weise hoch­hält, wur­den öffent­lich durch die Strassen gejagt und gemäss eini­gen Quellen war es sogar Mao hims­elf, der den Hungertod von Xi Jinping Stiefschwestern anord­ne­te. Weshalb Xi Jinping den­noch Maos Vermächtnis hoch­hält, erklärt Ai Weiwei in sei­nem Buch. Selbst sein eige­ner Vater, von der Kommunistischen Partei schi­ka­niert und geschän­det, kri­ti­sier­te die kom­mu­ni­sti­sche Führung nie offen, son­dern nur eini­ge Verhaltensweisen der­sel­ben. Das feu­da­le Prinzip der chi­ne­si­schen Kultur nach Konfuzius, des­sen Ziel des Überlebens alles geop­fert wird, bil­det bis heu­te den Kitt Chinas.

«Die Gedanken sind frei» war in der Volksrepublik noch nie eine Option: Die Gedanken sind jetzt in digi­ta­len Apps – Maos Bibel ist eine die­ser Killerfunktionen – ein­ge­ker­kert. Deshalb hier mei­ne Warnung an den Westen: Sprechakte wer­den in der VR via Codes sank­tio­niert oder belohnt: Dies wird von JugendaktivistInnen im Westen auch gefor­dert. Perfekte Gefängnisse bedür­fen heut­zu­ta­ge eben kei­ner Mauer mehr, es rei­chen digi­ta­le Applikationen. Auch dies eine Lehre der Kulturrevolution, zu deren Verständnis Ai Weiwei Buch so viel bei­trägt.

Die Historiker ver­su­chen bis heu­te, die Motive Mao Zedongs zu ent­schlüs­seln, als ob die Tatsache, dass Totalitarismus nihi­li­sti­scher Natur ist, des­sen Begründungen nach Hannah Arendt eben gera­de kei­nen Sinn erge­ben soll­ten, kei­ne Rolle spielt. Mao Zedongs Wirken war seit sei­ner Erscheinung immer ambi­va­lent im Sinne der Modernisierung, kon­se­quent im Sinne der Mordpolitik – dies wur­de mir nach der Lektüre von Ai Weiwei ein­mal mehr klar.

1000 Jahre «Joys and Sorrows» ist ein gross­ar­ti­ges Buch. Es erzählt Weltgeschichte, ist vol­ler kul­tu­rel­ler Hinweise, lehrt und regt an zum eigen­stän­di­gen Denken und ver­zau­bert den eige­nen Geist. es ist wirk­lich umwer­fend und umso ver­werf­li­cher, wie sehr die­ses Werk im deutsch­spra­chi­gen Raum igno­riert, lächer­lich gemacht und kaum rezen­siert wird. Keine Literatursendung bespricht Ai Weiwei, es ist, als hät­te die volks­chi­ne­si­sche Propaganda gesiegt. Denn Ai Weiwei Buch hat das Potenzial, die Welt zu ver­än­dern, nicht zuletzt des­halb, weil wir erken­nen, wie gefähr­lich Kultur sein kann: sowohl im posi­ti­ven als auch im nega­ti­ven Sinne. Gleichzeitig ent­larvt das Werk die Macht von Sprache: Sprechakte sind nie unschul­dig und als insti­tu­tio­na­li­sier­te Propaganda, wie dies momen­tan auch in den west­li­chen Akademien der Fall ist, für alle frei­heit­li­chen Systeme lebens­ge­fähr­lich. Keiner zeigt dies so ein­drück­lich wie der gros­se Künstler Ai Weiwei.

Die west­li­che Enttäuschung über Ai Weiwei, der es wag­te, sein kri­ti­sches Denken auch gegen sei­ne Gastländer in Kunst und Veröffentlichungen umzu­set­zen, passt übri­gens per­fekt zur Propaganda der volks­chi­ne­si­schen Diktatur, die sehr geschickt dar­in ist, Ai Weiwei, der dem Regime gefähr­li­cher wer­den könn­te als alle Bomben, als Person, als Künstler, als Aktivisten zu des­avou­ie­ren. Mithilfe der Kunstschaffenden ist es den volks­chi­ne­si­schen Propagandisten gelun­gen, den Provokateur, den Dadaist, den Unangepassten abzu­wer­ten. Ai Weiwei sel­ber lei­ste­te die­ser Tragik Vorschub, indem er sich bspw. für die Werbung eines deut­schen Baumarktes zur Verfügung stell­te und sich u. a. auch zur Burka-Initiative äus­ser­te in Worten, die nur so vor Dummheit und Unkenntnis über die schwei­ze­ri­sche Situation strotz­ten. Doch die­se Petitessen sind es nicht wert, einer der wich­tig­sten poli­ti­schen Künstler und des­sen Werk so zu behan­deln, dass die VR China sich beru­higt zurück­leh­nen kann. Die west­li­che Entsorgung des chi­ne­si­schen Ausnahmekünstlers im Kanon als «Aktivist» ist ver­werf­lich und passt in den anti­de­mo­kra­ti­schen Geist der Kultureliten in den west­li­chen Institutionen.

Eindrückliche Buch-Episoden:

1)  «Wie unter­ge­hen­de Gespenster krümm­ten sie sich in der Hitze.» Die Verbrennung der Bibliothek soll den «Rechtsabweichler» Ai Qing vor den Roten Garden schüt­zen. In die­sen Flammen wur­de Ai Weiwei zum Künstler.

2)  Die Familie wur­de nach Xinjiang ver­bannt, eine unwirt­li­che Gegend, ein Auffangbecken für die «fünf schwar­zen Kategorien» der Roten Garden, von Mao Zedong und der Kulturrevolution: Grundbesitzer, rei­che Bauern, Konterrevolutionäre, schlech­te Elemente und Rechtsabweichler. Diese schwar­zen Listen erin­nern an die gegen­wär­ti­gen Diskussionen, nicht wahr?

3)  «Zerschlagt das Alte, bom­bar­diert die Hauptquartiere», sag­te Mao Zedong, und sie folg­ten ihm. «Wir wur­den so erzo­gen, dass Mao uns näher sein soll­te als unse­re Eltern. Er galt uns als Gott, jeder ande­re war nichts. Jeder soll­te auf ihn hören. Es war bru­tal. Wir woll­ten unse­re Feinde schla­gen und sie aus­lö­schen.» Yu Xiangzhen im Deutschlandfunk vom 12.5.2016 anläss­lich fünf­zig Jahre Kulturrevolution.

4)  «Der Westen spielt Schach, China spielt Go», mein­te Ai Weiwei in Berlin. Daniel Kehlmann ver­stand den Satz nicht und mach­te aus «Go» Golf. Damit ver­pass­te er die Message von Ai Weiwei: Bei «Go» ist das Brett am Anfang leer. Erst nach und nach kom­men schwar­ze und weis­se Steine irgend­wo aufs Feld. Die Möglichkeiten der Entwicklung sind schon nach dem ersten Zug bei über 130 000, bei Schach ledig­lich bei 400. China, so die Lehre, ist mil­lio­nen­fach viel­fäl­ti­ger und gefähr­li­cher, als jede west­li­che Idee dies je sein wird. Deshalb: Erst wenn Ai Weiwei Biografie in China zum Bestseller wird, wis­sen wir, dass Demokratie und Freiheit gewon­nen haben.

Ai Weiwei: 1000 Years of Joys and Sorrows, London 2021.

Auf Deutsch falsch über­setzt: 1000 Jahre Freud und Leid, Erinnerungen. Denn Freud und Leid sind was ande­res als tau­send Jahre vol­ler Freuden und Kummer – aber egal, denn wir haben uns ja schon öfter über die deut­sche Titelgebung ent­setzt, die daher stammt, dass Deutschland ein ein­spra­chi­ges und damit auch eher ein ein­äu­gi­ges Land ist, wenn es um Literatur und Kultur geht.

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