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Agnès Poiriers Roman über die magi­schen Jahre von Paris 1940–1950

Von Dr. Regula Stämpfli - Die fran­zö­si­sche Journalistin Agnès Poirier erzählt von den magi­schen Jahren von Paris 1940 bis 1950. Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre, Lauren Bacall, Janet Flanner, Samuel Beckett, Victor Brauner, Roland Barthes, Henri Cartier-Bresson, Raymond Chandler, Jean Moulin, Henry Miller, Anaïs Nin, Man Ray, Édith Piaf, Juliette Gréco träum­ten, leb­ten, phi­lo­so­phier­ten, schlie­fen mit- und unter­ein­an­der, trenn­ten und ver­söhn­ten sich in Paris. Poirier par­liert von Philosophie, Politik und Sex, die­ser genia­len Dreierkombination, sehr Französisch, natu­rel­le­ment. Die Shoa ist, aller Leichtigkeit, Liebe und Philosophie zum Trotz, immer in die­sem Buch prä­sent, rich­tig so. «Paris 1940 bis 1950» ist unter Nazibesatzung, bleibt aber Antipode zum brau­nen Berlin. Dreckiges Mitläufertum besitzt einen Pass, und immer einen deut­schen. Es gab zwar auch ein paar fran­zö­si­sche Nazimöchtegerns, ein sehr bekann­ter Verleger war dar­un­ter, doch grund­sätz­lich blie­ben die Pariser frei­heits­lie­bend. Was mich zu mei­ner Lieblingsgeschichte bringt, wes­halb Paris nicht, wie von Hitler in den letz­ten Kriegstagen mit kräch­zen­der, schrei­en­der, nihi­li­stisch-deut­scher Wut befoh­len, dem Erdboden gleich­ge­macht wur­de: Paris soll bren­nen, mein­te der Kotzösterreicher aus Braunau. Ein Leichtes wäre dies gewe­sen, denn unter allen Brücken der Seine waren eben­so Sprengladungen ange­bracht wie unter dem Eiffelturm, dem Louvre oder auch der Universität. Die Nazischergen erschos­sen bis zum letz­ten Tag ihrer Besatzung jun­ge Menschen aus der Résistance, depor­tier­ten bis zum Schluss Abertausende von jüdi­schen Menschen, die bis dahin über­lebt hat­ten. Doch Dietrich von Choltitz, der Vernichter von Rotterdam, wähl­te einen Deal, der Paris unver­wü­stet liess, und ging so als «Retter von Paris» in die Geschichte ein. Ein wei­te­res Beispiel dafür, dass Menschen nie ein­fach gut oder schlecht sind, son­dern ein­fach oppor­tu­ni­stisch auch mal das Richtige tun kön­nen.

Am Samstag, dem 26. August 1944, dem Tag nach der Befreiung Paris, radel­te Simone de Beauvoir zur Place de la Concorde, Sartre beob­ach­te­te die Feiern vom Balkon des Hôtel du Louvre und Camus’ Artikel über die Scham und Wut Frankreichs nach vier Jahren Leid macht die Runde. Picasso wird unge­wollt zum Bannerträger des befrei­ten Paris; eine «Orgie der Brüderlichkeit», O‑Ton von Simone de Beauvoir, erfasst alle. Doch lei­der hal­ten der Sieg und die Freiheit der Pariser nicht ewig, son­dern die Einigung der Gegnerinnen der Nazischergen und Vichy-Mitläufer bricht am Totalitarismus der Kommunisten. Eine Tragik, die Weltgeschichte bis heu­te schreibt und, als ob des Elends nicht genug wäre, immer neue Kapitel links­to­ta­li­tä­rer Pogrome hin­zu­fügt.

Agnès Poirier erzählt viel packen­der, viel zusam­men­hän­gen­der als der viel­ge­rühm­te Florian Illies, des­sen Formate «Gala für Intellektuelle» bie­ten. Poirier fügt nicht ein­fach eine Kette von Anekdoten zusam­men, son­dern trans­por­tiert die Leserin mit­ten in die Story hin­ein. Umso erstaun­li­cher, obwohl män­ner­bün­disch im deut­schen Literaturkanon durch­aus üblich, dass Agnès Poirier in der Schweiz, in Deutschland und Österreich nur wenig bespro­chen wur­de. Selbst die Feministin Nina Kurz vom «Magazin» schwärmt von Illies neu­stem Storytelling-Book, ohne wahr­schein­lich von Agnès Poirier gehört zu haben, wie denn auch, wenn Medien eh nur noch über sich selbst und die Männerkollegen berich­ten! Ohne die «Frau und Kunst»-Abteilung im Museumsshop der Albertina wäre selbst ich nie auf das zau­ber­haf­te Buch gestos­sen. Ein über 500 Seiten star­kes Werk vol­ler phi­lo­so­phi­scher, poli­ti­scher und künst­le­ri­scher Hinweise. Agnès Poirier schafft es sogar, uns allen die Marshallplanhilfe für die Kultur nach einem Krieg zu erklä­ren. Ein erleuch­ten­des Kapitel, das mir ein­mal mehr klar­ge­macht hat, wie drin­gend wir der­art auch für Pandemiezeiten bräuch­ten!
«Paris 1940 bis 1950» zeigt eine Dekade, die in vie­ler­lei Hinsicht der uns­ri­gen gleicht. Vor dem Hintergrund welt­ge­schicht­li­cher Verwerfungen fällt es Paris leicht, sich als intel­lek­tu­el­le und künst­le­ri­sche Metropole immer wie­der neu zu ent­wer­fen. Die Pariser Menschen prä­gen das Lebensgefühl bis heu­te, doch sel­ten kom­men die wich­tig­sten und krea­tiv­sten Köpfe so zusam­men wie damals, als man genau wuss­te, wer der Teufel und wer die Menschlichkeit war. Was nach Kitsch klingt, war damals kei­ner: Im Café de Flore kon­zen­trier­te sich wirk­lich die gei­sti­ge Öffentlichkeit. Unzählige Liebschaften inspi­rier­ten Geliebte und Eifersüchtige glei­cher­mas­sen zu gros­sen Werken in Kunst, Politik und Literatur. Was ist nur mit uns in Europa seit­dem gesche­hen? Überall domi­nie­ren US-ame­ri­ka­ni­sche Konsumgefühle – es ist so ätzend. So wie Simone de Beauvoir, die mit über 40 Jahren unzäh­li­ge Liebschaften bei­der­lei und drei­er­lei Geschlechts pfleg­te ohne Besitzansprüche, mit dem Resultat der Befruchtung für genia­le Werke aller Beteiligten – ach, das macht wäh­rend der Lektüre melan­cho­lisch. Was haben wir doch alles ver­lo­ren, alas! Die Ausrottung des euro­päi­schen Judentums, die­se unsäg­lich Leerstellen schmer­zen bis heu­te.

Poirier erläu­tert Grösse und Niedergang der dama­li­gen Zeit. Das beste Beispiel dafür stellt Dominique Aury. Die unter meh­re­ren Pseudonymen agie­ren­de Kommunistin brach nach dem Krieg erzürnt mit der Partei, für die sie in der Résistance den Tod in Kauf genom­men hat­te. Politisch hei­mat­los gewor­den, wand­te sie sich der Pornografie zu. Sie umge­ben unzäh­li­ge Legenden, eine lau­tet, dass sie die «Geschichte der O» nur des­halb notiert habe, um ihrem Ex-Liebhaber eins aus­zu­wi­schen. So oder so: Die fran­zö­si­schen Kommunisten zer­stö­ren eigent­lich alles, Aury genau wie alle ande­ren. Der Bruch mit der Mörderpartei unter­bricht das Verlagsprojekt zu Schriftstellerinnen von Édith Thomas und beschert uns statt­des­sen eben die «O». Sehr strin­gent übri­gens: Denn nur Kommunistinnen oder Faschistinnen ste­hen der­art auf sado­ma­so­chi­sti­schen Sex. Statt pro­le­ta­ri­scher Freiheiten für die Frauen pro­pa­gie­ren sie sadi­sti­sche Macht für Männer. Ayn Rand war auch so eine – les extrê­mes se rejoig­n­ent: «Als mensch­li­ches Wesen geht sie ihrer Auslöschung, als geschlecht­li­ches ihrer Erfüllung ent­ge­gen», kom­men­tier­te Susan Sontag die Wunschträume des Gewalttäters, der mit sei­nen Kumpanen Frauen aus­peit­schen, ver­ge­wal­ti­gen, in Ketten legen und brand­mar­ken las­sen will. Oh well: Sexuelle Gewalt und Ideologie sind auch heu­te noch ein gän­gi­ges Paar: Marquis de Sade kommt immer noch viel zu gut an unter den Intellektuellen. Doch zurück zur begna­de­ten Chronistin Agnès Poirier: Die 1940er-Jahre sind lei­den­schaft­lich, tra­gisch, künst­le­risch, leben­dig und bril­lant erzählt. Ärgerlich sind ledig­lich die Vornamen: Why on earth spre­chen sie sich aus­ge­rech­net in Paris, wo sich Frauen auch nach dem zehn­ten Orgasmus noch sie­zen, mit Vornamen an? Passt nicht. Zauberhaft aber die Beschreibung, wie Albert Camus für einen «Dritten Weg» kämpft und an den Kommunisten völ­lig ver­zwei­felt. Ebenso wun­der­bar die neue Art von Emanzipation damals, die erst von einer Vulva-zen­trier­ten 1968er-Bewegung wege­wischt wur­de: Damals galt noch nicht «mein Körper, mei­ne Stimme», son­dern es waren die weib­li­chen Köpfe, die Freiheit völ­lig neu defi­nier­ten. Dann die Liebesgeschichte zwi­schen Miles Davis und Juliette Gréco, welch Wunder, welch Poesie, welch Drama! Ein Leben ohne Sex, Jazz und Philosophie ist viel­leicht mög­lich, aber sinn­los.

Agnès Poiriers lite­ra­ri­sche Reportage glänzt mit einer Materialfülle pri­mä­rer und sekun­dä­rer Quellen, die jeden Buchpreis ver­dient und – ja – unbe­dingt auf die Bühne soll­te. Denn es gibt wohl kei­nen grös­se­ren Gegensatz zur heu­ti­gen Zeit als von bspw. der in devo­ter pan­de­mi­scher anti­kul­tu­rel­ler Schockstarre gefan­ge­nen Stadt München im Jahr 2022 und Paris in den Jahren 1940 bis 1950 – was ange­sichts der poli­ti­schen Herrschaft damals und heu­te doch zu sehr bizar­ren Analysen füh­ren muss. Ausgerechnet unter der Besatzung blüh­ten Ideenreichtum, Kultur und Utopien in Paris, wäh­rend all dies wäh­rend der Pandemie wie aus­ge­löscht scheint – was läuft hier eigent­lich ab?

Doch bevor wir im Elend ver­sin­ken, lesen wir den Roman again: «An den Ufern der Seine» erzählt nicht nur von den magi­schen Jahren, son­dern führt uns sofort zu unse­rer näch­sten Reise nach Paris.

«An den Ufern der Seine. Die magi­schen Jahre von Paris 1940–1950» von Agnès Poirier, über­setzt aus dem Englischen von Monika Köpfer, erschie­nen 2019 auf Deutsch bei Klett-Cotta.