Im Bann der Pest

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Im Angesicht der Katastrophe wer­den die Menschen von wider­sprüch­li­chen Affekten befal­len. Wenn die Krise gross genug ist, ist irgend­wann klar, dass die Ordnung in Frage gestellt ist, dass sie bedeu­tungs­los wird – zumal, wenn sie schon vor­her ziem­lich dürf­tig und kor­rupt war. Jetzt gabelt sich schein­bar der Weg, die eine Richtung heisst Fatalismus, die ande­re heisst Angst. Als die Stadt Cádiz von einem Kometen bedroht wird, sind die Regierenden und die Bürger heil­los über­for­dert. Auf der Bühne ist es mit der anfäng­li­chen Stille schnell vor­bei, vom Gouverneur bis zum Clochard rennt alles durch­ein­an­der, ver­sucht sich ent­we­der in Beschwichtigung oder in apo­ka­lyp­ti­schen Phantasien.

Die mor­schen Knochen der Welt

Ideale Bedingungen für eine Epidemie – oder eine Machtübernahme. In Camus’ alle­go­ri­schem Stück «Der Belagerungszustand» wird der Terror aber nicht von irgend­je­man­dem aus­ge­übt, son­dern von der Pest per­sön­lich. Das Regime wech­selt und ein Apparat der Unterdrückung wird in Anschlag gebracht: Unter Quarantäne ist es nicht nur erlaubt, son­dern not­wen­dig, die Leute in ihren Häusern ein­zu­sper­ren, die Infizierten von ihren Familien zu tren­nen, jede Bewegung zu kon­trol­lie­ren. Das ist sie, die berühm­te Alternativlosigkeit. Der Tod, der frü­her noch kam, wann er es woll­te, ist zur aus­füh­ren­den Angestellten der Pest her­ab­ge­sun­ken, zu einer Art Schreibkraft mit beschränk­ten Befugnissen, die von der Pest ihre Anweisungen dik­tiert bekommt.

Diese Pest nun ist das eigent­li­che Ereignis der Aufführung. Wenn der Untergang kommt, dann wird er bur­lesk sein. Mehmet Atesci spielt die Pest mal bru­tal und gewalt­tä­tig, mal über­zo­gen affek­tiert, mal sar­ka­stisch grin­send; er ist abwech­selnd ein Panther und eine Hyäne; er wirkt mal wie ein trans­se­xu­el­ler Dandy, mal wie eine Mischung aus Mephisto und Joker à la Heath Ledger. Kurz, die Inkarnation des Bösen ist cool as fuck. Das Bühnenbild ist fru­gal, aber gekonnt (die wich­tig­sten Requisiten sind Mikrofone und Taschenlampen), der ein­zi­ge wirk­li­che Clou ist ein schwar­zer begeh­ba­rer Kubus am Rande der Bühne. Von die­sem Kubus aus ver­kün­det die Pest: «Ich herr­sche nach mei­nen eige­nen Regeln. Man könn­te auch sagen: Ich funk­tio­nie­re.» Doch das ist nur die hal­be Wahrheit. Die Pest ist büro­kra­tisch, aber sie hat auch Charisma. Sie ist die Logik, aber sie ist auch der Wahnsinn. Es gibt in der Phantasie des Abendlandes zwei Träume von der Pest: den Traum der tota­len Kontrolle und den Traum der tota­len Anarchie. Das Regime, das die Pest und der Tod bei Camus über die Stadt errich­ten, ist bei­des: zum einen zynisch und ratio­nal, zum ande­ren wild und grau­sam, besof­fen von Macht und Blut.

«Es zit­tern die mor­schen Knochen der Welt», san­gen die Nazis. Und in der Tat, der gan­ze Laden ist im Eimer. Willfährig tritt der Gouverneur die Macht an die neu­en Gewalten ab, die in Wirklichkeit so alt sind wie der Mensch selbst. Die Ordnung ver­schwin­det wie ein Gesicht im Sand? Gut, dann ist der Weg ja frei für die Ordnung des Schreckens. Und die Leute fol­gen ihr bereit­wil­lig. Nur der jun­ge Arzt Diego, der Mensch in der Revolte, for­dert die neu­en Machthaber her­aus.

Ach, der Humanismus

An den Stellen, die den ern­sten Plädoyers Diegos zugun­sten der Freiheit und der Aufrichtigkeit gewid­met sind, ist Camus’ Text von tie­fer huma­ni­sti­scher Moralität durch­drun­gen. Möglicherweise gereicht es der Inszenierung von Christoph Frick zur Ehre, die­sen Passagen den nöti­gen Platz ein­zu­räu­men und sie gera­de­zu brav in getra­ge­ner Feierlichkeit dekla­mie­ren zu las­sen. Doch ande­rer­seits wirkt die­se Stimme der Menschlichkeit und der Zivilisation bald wie – man muss es lei­der sagen – sen­ti­men­ta­les Geschwafel, wie eine Verkettung selbst­ge­rech­ter Phrasen. Nicht gera­de die besten Voraussetzungen, um einen Sturm der Entrüstung her­vor­zu­ru­fen.

Wenn es Diego wenig­stens um die Liebe gehen wür­de. Doch er kämpft nicht um die Liebe, son­dern um sei­nen Stolz und sei­ne Ehre. Das ist es im Grunde, was ihn uns heu­te so fremd erschei­nen lässt. Dabei gibt es kur­ze Dialoge von erle­se­ner Schönheit: Liebesgeflüster, so rein wie ein Bach unbe­rühr­ten Quellwassers. Und das ist kei­nes­wegs irrele­vant, immer­hin strebt die Tyrannei danach, die Liebe aus­zu­rot­ten. «Unsere Sprache», sagt Viktoria, Diegos Geliebte, ver­träumt und lächelnd, womit sie meint: unse­re pri­va­te Sprache; die Sprache, die uns nie­mand neh­men kann. Das Problem ist nur, dass der Zuschauer über­haupt nicht die­sen Eindruck bekommt. Diego als wirk­li­cher Mensch kommt nicht bei ihm an, dafür ist sein Auftreten viel zu pathe­tisch. Liegt das nun an der schau­spie­le­ri­schen Leistung oder am Stück? Man könn­te schlicht­weg sagen: Nun gut, die­ser Diego ist eben ein Idiot. Auch wenn es sich even­tu­ell um eine Vereinfachung han­delt, die den sub­ti­len mora­li­schen Dilemmata der wei­te­ren Handlung nicht gerecht wird: Man ist heu­te ein­fach ein biss­chen zu erwach­sen für die­se Art von athe­isti­scher Befreiungstheologie.

Die Freiheit, das Böse zu tun

In der Diktatur ist jeder zugleich frei­er Bürger, Gefangener und Wärter. Er ver­leibt sich die Regeln der Kontrolle ein. Zugleich ist er dann frei, wenn er pro­du­zie­ren und Handel trei­ben soll, damit nicht alles zusam­men­bricht. Und er passt natür­lich auf, dass auch sein Nachbar sich benimmt. Das Erleiden der Brutalität ist nicht zu tren­nen von der Lust, sie aus­zu­üben. Denn die Pest ist schlau: Sie weiss, dass die Menschen eigen­nüt­zig, grau­sam, gie­rig und oppor­tu­ni­stisch sind. Mit ande­ren Worten: dass die Menschen genau wie sie wären, wenn sie nur könn­ten.

Nun hält sich die Inszenierung – trotz leich­tem Tohuwabohu am Anfang – weit­ge­hend am Text fest, sodass man immer noch einen Hauch reflek­tie­ren­der Distanz bewahrt. Doch in eini­gen weni­gen Momenten wird man ganz und gar hin­ge­ris­sen von der exal­tier­ten Feier der Zerstörung, die mit uner­bitt­li­cher Konsequenz vor­an­ge­trie­ben wird. Denn die Pest hat Stil, sie ist gleich­zei­tig mystisch und iro­nisch. Genau wie Diego blickt sie wis­send auf das Allzumenschliche. Verachtung für alles, was klein und schwach ist: Darin sind Diego und die Pest sich einig. Diego ist die weis­se Antwort. Die Pest ist schwarz, sie ist die Verführung, auf die Kleinheit, die Enttäuschung, die Mittelmässigkeit nicht mit Gnade oder Aufklärung, son­dern mit List, Drohung und Gewalt zu ant­wor­ten. Diese Sprache wer­den sie ja wohl ver­ste­hen. Man möch­te Macht, aber nicht um sie zu haben, son­dern um sie zu miss­brau­chen; man bekommt Lust, sich und ande­re zu infi­zie­ren; man bekommt Lust, die Pest zu sein. Ein beein­drucken­der Effekt, der den Zuschauer ganz auf sich selbst zurück­wirft – und durch­aus Verwirrung her­vor­ruft.

Die schwar­zen Mächte

Erinnert sich noch jemand an Antonin Artaud? Artaud hät­te zu der vor­lie­gen­den Thematik nicht nur gesagt, dass es ganz natür­lich ist, von der Pest fas­zi­niert zu sein, weil sie für die Freisetzung der Skrupellosigkeit und der Zerstörungslust steht; er war auch der Auffassung, dass das Theater selbst wie die Pest ist (und sein soll­te!). Artauds Theatertheorie war die bedeu­tend­ste des 20. Jahrhunderts, stand aber lei­der viel zu lan­ge im gigan­ti­schen Schatten Brechts. Vollkommen zu Unrecht. Denn Artaud hat­te erfasst, zu was Bilder in der Lage sind, wenn sie etwas berüh­ren, das wir für gewöhn­lich hin­ter einem Schleier von Ausreden und gutem Willen ver­ber­gen. Aber ertei­len wir ihm selbst das Wort. In «Das Theater und sein Double» schreibt er:

«Wenn das wesent­li­che Theater wie die Pest ist, so nicht des­halb, weil es ansteckend wirkt, son­dern weil es wie die Pest die Offenbarung, die Herausstellung, das Hervorbrechen einer laten­ten Tiefenschicht an Grausamkeit bedeu­tet, durch die sich in einem Einzelweisen oder in einem gan­zen Volk alle per­ver­sen Möglichkeiten des Geistes loka­li­sie­ren. Wie die Pest ist es die Zeit des Bösen, der Triumph der schwar­zen Mächte, die eine noch uner­gründ­li­che­re Macht speist bis zur völ­li­gen Auslöschung.»

Und wei­ter, falls man immer noch nicht begrif­fen hat, wor­um es hier geht:

«Es löst Konflikte, es macht Kräfte frei, es bringt Möglichkeiten zur Auslösung, und wenn die­se Möglichkeiten und die­se Kräfte, die­se Mächte schwarz sind, so ist das nicht die Schuld der Pest oder des Theaters, son­dern des Lebens.»

Denn so ist es, das Leben. Es wäre fre­vel­haft, dem noch etwas hin­zu­fü­gen zu wol­len. Schweigen wir also, ver­nei­gen wir uns vor Artaud, schmecken wir den Kuss der Dämonen. Blicken wir der Pest ins Gesicht. Der Besuch des Stücks «Der Belagerungszustand» wird emp­foh­len.

Copyright © 2011 Kulturkritik • Kritische Stimmen zum Zürcher Kulturgeschehen Kulturkritik.ch ist ein Projekt der Plattform Kulturpublizistik • Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK)

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