(Von Andreas Meier) – Wo es in den öffentlichen Diskursen von Politik und Wirtschaft um das Grosse geht, kann oft die Kunst ein Gegengewicht setzen und das Kleine und Intime in den Vordergrund rücken. Es ist eine ebenso bedeutende wie doppelbödige Betrachtung des Kleinen, eine, die nur die Sprache der Kunst zustande bringt: nämlich das Gesamte durch den Blick auf das Kleine zu erfassen, so wie die Dichtung der Romantik etwa in einer einzelnen Rose die Ganzheit der Natur widerzuspiegeln versuchte.
Es ist schwer, sich eine kleinere und (auf den ersten Blick) zerbrechlichere Protagonistin vorzustellen als die 6‑jährige, afroamerikanische Hushpuppy (Quvenzhané Wallis). Gemeinsam mit ihrem Vater lebt sie im abgelegenen Sumpfland Louisianas in einer ‹the Bathtub› genannten, verarmten Gemeinschaft, die durch einen Deich von der Zivilisation abgeschnitten ist. Als ihr Vater erkrankt und ihre Heimat durch einen enormen Sturm zerstört und vollkommen unter Wasser gesetzt wird, droht Hushpuppys Welt aus den Fugen zu geraten. In ihrer Vorstellung ist das Tosen des Sturms das Geräusch der durch die Klimaerwärmung zusammenbrechenden Eiskappen, und stellt sich vor, wie eingefrorene Urtiere aus dem Eis steigen und wie Naturgewalten über die Erde ziehen.
Eine Zusammenfassung der Handlung wird „Beasts of the Southern Wild“ nur schwerlich gerecht. Der rote Faden – vielleicht eher Teppich denn Faden – wird weniger durch die Handlung als durch den Charakter von Hushpuppy und ihren Gedanken bestimmt. Im Voiceover spricht sie den Zuschauer an und teilt ihre kindlichen aber tiefgründigen Einsichten.
Auch ist der Film nicht so düster, wie eine Paraphrasierung der Umstände vermuten lassen könnte. Bedingt durch die kindliche Perspektive erscheint die Welt, so erschüttert sie auch ist von Katastrophen und widrigen Umständen, als durchtränkt von staunenswerter Poesie und Mystik. Ganz im Sinn des ‹Magic Realism› durchmischt «Beasts of the Southern Wild» eine realistisch anmutende Welt durch die Augen Hushpuppys mit fantastischen Elementen und Eindrücken.
Auch sonst traut sich „Beasts of the Southern Wild“, allerhand unterschiedliche Dinge nebeneinander existieren zu lassen. So vereint Hushpuppy kindliche Unschuld und eine furchtlose, stoische innere Stärke, die den erwachsenen Figuren unbekannt ist. ‹Naive› Gesten wie das Hochheben eines Kükens, um dessen Herzschlag zu hören, gehen in der Gestalt Hushpuppies Hand in Hand mit einer kraftvollen, weisen Bestimmtheit – entgegen den Erwartungen, die der Zuschauer gegenüber einem 6‑jährigen Mädchen hält. Hushpuppys Umfeld ist auch ohne Naturkatastrophen geprägt von bitterer Armut und Alkoholismus – die grobe Liebe ihres Vaters grenzt teils an Kindsmisshandlung – und doch ist diese versumpfte, versinkende Welt auch ein Land einer eigentümlichen Freiheit, mit der die Menschen jenseits des Deichs nicht vertraut sind.
„Beasts of the Southern Wild“ kann als eine Geschichte der Unterprivilegierung verstanden werden. The Bathtub ist abgeschnitten und verstossen von der zivilisierten Welt, und innerhalb dieser verachteten Gemeinschaft ist Hushpuppy als kleines, halbwaises Mädchen die Unterprivilegierteste der Unterprivilegierten. Selbst Klang und Bedeutung ihres Namens – ‹Hushpuppies› sind eine frittierte Beilage aus den Südstaaten – signalisieren Verletzlichkeit. Und doch ist sie die treibende Kraft in diesem Film. Darstellerin Quvenzhané Wallis spielt mit solch unglaublicher Kraft, dass ihr Charakter dem gewaltigen Sturm mühelos die Show stiehlt. Es ist exakt die Erkenntnis ihrer Kleinheit und das Verständnis, dass auch das Allergrösste auf dem Kleinsten beruhen muss, die Hushpuppy eine innere Entschlossenheit gibt, durch die sie der Welt die Stirn bieten kann. Die Selbstidentifikation als Opfer ist ihr fremd, und für die Welt jenseits des Deichs hat sie kaum mehr als mildes Mitleid übrig: „The Bathtub“, sagt sie, „has more holidays than the whole rest of the world.“
An den Rand der Welt gestossen ist neben Hushpuppy auch die Natur, und so befinden sie sich auf gleicher Augenhöhe. Doch wieder finden wir die Spannung zwischen Schwäche und Stärke: die Natur ist vielleicht verletzt, doch äussert sich ihre Verletzung durch einen gewaltigen Sturm und, in Hushpuppys Augen, durch die Wiederauferstehung mächtiger Urzeitwesen. Im Grossteil des Films befindet sich Hushpuppy im Kampf mit der Natur; doch begegnet sie ihrer Umwelt stets mit Respekt, denn gerade durch ihre Kleinheit identifiziert sie sich mit der grossen Ganzen: „The whole universe depends on everything fitting together just right. If one piece busts, even the smallest piece, the entire universe will get busted.»
„Beasts of the Southern Wild“ ist ein ebenso tragischer wie triumphierender Heldenmythos, dem es trotz und wegen seiner eigentlich bedrückenden Thematik gelingt, äusserst lebensbejahend zu sein. Es ist ein brillanter Film voller Inspiration, so wuchtig und überwältigend wie sein Soundtrack, seine Bilder und seine Protagonistin.
„Beasts of the Southern Wild“ kommt am 20. Dezember ins Kino. Regie: Benh Zeitlin. Drehbuch: Lucy Alibar, Benh Zeitlin. Darsteller: Quvenzhané Wallis, Dwight Henry u.a. USA 2012.






