Observatio VI

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Er gelang­te ohne Umweg zum Haus in der Hafnerstrasse 41. Nicht, dass er es nicht gekannt hät­te. Aber das bau­fäl­lig wir­ken­de Eckhaus – auf des­sen von der Sonne gebleich­ten Fassade der Schriftzug jenes Handwerksbetrieb zu lesen steht, der hier längst nicht mehr im Geschäft ist – ist so unschein­bar, dass er ver­sucht war, bis zur näch­sten Strasse vor­zu­ge­hen; allein des­we­gen, damit das Haus einen Moment lang zu sei­nem Recht kommt. Worin bestün­de die­ses Recht? Darin, nicht erkannt, nicht wei­ter behel­ligt, schon gar nicht in den Grundfesten erschüt­tert zu wer­den? Schlicht dar­in, sei­nen Verfall bil­li­gend in Kauf neh­men zu dür­fen und dabei kryp­tisch mit Institut für Theorie neu bezeich­net zu wer­den?

Er betrat das Haus und begab sich im Seitenflügel ganz nach oben, in den nur gera­de zweck­dien­lich sanier­ten Dachstock. Dort stell­ten Studierende im ZHdK-Master for Transdisciplinarity gera­de ihre Quartalsprojekte zum Thema Modelle/Models vor. Eine Ökonomin liess in ihrem Videofilm Personen zu Wort kom­men, die die Veränderungen in Zürichs Westen und deren Auswirkungen theo­re­tisch und an Beispielen erklär­ten. Darin äus­ser­te sich etwa eine Architektin vor einem Modell der Escher-Wyss-Gegend, wäh­rend jemand auf sei­ner Terrasse den sozia­len Strukturwandel beschrieb, im Hintergrund der Prime Tower. Die Dozenten konn­ten der Idee etwas abge­win­nen, fan­den aber, die Arbeit könn­te unter Berücksichtigung eini­ger wei­te­rer genu­in fil­mi­scher Kriterien noch bes­ser wer­den. Das war kein nega­ti­ves Urteil. In einem Quartal sei es sehr sel­ten mög­lich, eine Arbeit zur Reife zu brin­gen, so der Berliner Dozent Florian Dombois. Vielmehr gehe es bei den Quartalsprojekten dar­um, den Prozess des Arbeitens und Zusammenarbeitens zu ent­wickeln. Wenn sich dabei etwas zu einem eigen­stän­di­gen Wert kri­stal­li­sie­re, sei das zwar will­kom­men, aber für den Lernprozess eben nicht zwin­gend.

Hier, schien dem Gast, kamen zwei Dinge zusam­men: die Anmutung des Hauses und die Vorstellung des Dozenten. Ein Prozess ist bedeu­ten­der als ein Zustand. Und eine eigent­li­che Hervorbringung benö­tigt sehr oft mehr Zeit als ein Quartal; manch­mal aber auch nicht. Im Vorzimmer stell­ten eine Tänzerin und ein Komponist eine Videoarbeit vor. Zwei klei­ne Monitore auf dem Boden zeig­ten in mit­tel­lan­gen Einstellungen Kräne, einen in Zeitlupe kol­la­bie­ren­den Bücherstapel oder eine Druckmaschine in Nahaufnahme, deren Funktionsweise von einer Stimme aus dem Off erklärt wur­de. Die Monitore spiel­ten den­sel­ben Film, aber zeit­ver­setzt; die Tonspur wech­sel­te zwi­schen schrill und mono­ton. Er blieb lan­ge vor der Installation ste­hen.

Als er das Haus ver­liess, fühl­te er, was er bei sei­ner Ankunft schon gefühlt hat­te. Er woll­te zur näch­sten Strasse vor­ge­hen, allein des­we­gen, um dem, was er im Dachstock mit­er­lebt hat­te, nicht zu nahe zu tre­ten. Ganz so, als hät­te jemand ein Recht dar­auf. Worin bestün­de die­ses Recht?

“Quartalsprojekte Modelle/Models” der ZHdK-Studierenden im Master Transdisziplinariät. Dozenten: Florian Dombois, Patrick Müller, Basil Rogger, Irene Vögeli. Besuch am 10. April 2012.

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