Carolyn Carlson

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Der Tanz macht sich rar in “Eau” 

Für Carolyn Carlson ist der Begriff “Wasser” fast uner­schöpf­lich. Zum drit­ten Mal nimmt die nam­haf­te Choreographen das Naturelement, zuletzt für die Premiere in Lille im April letz­ten Jahres. Sie han­delt zum einen sei­ne Erscheinungsformen ab: Quelle, tie­fe stil­le Wasser, stür­mi­sche hohe See und ver­schmutz­tes Gewässer. Zum ande­ren unter­sucht sie sei­ne Funktionen für den Menschen, exi­sten­ti­el­le, luxu­riö­se, ritu­el­le und sei­ne Disfunktionen wie (Öko)katastrophen. Schliesslich spürt sie der sym­bo­li­schen Kraft nach, die der Mensch all die­sen Erscheinungsformen bei­misst. Im Stück “Eau” prä­sen­tiert Carolyn Carlson die Ergebnisse ihrer krea­ti­ven Forschung aus dem Centre Choréographique National bei Lille, das sie lei­tet. Natürlich nicht säu­ber­lich geschie­den. Denn dies unter­liess schon der Philosophen-Dichter Gaston Bachelard, des­sen Abhandlung das Wasser und die Träume für das Stück Pate stand. Die the­ma­ti­sche Untergliederung des Stückes ist die­sem Werk ent­nom­men. So wie beim Vorbild Epistemologie und Wissenschaftstheorie, Ontologie und Poesie inein­an­der­flies­sen, so mengt sich auch bei Carolyn Carlson jeg­li­che Erkenntnis des kost­ba­ren Naturelements. Wen wun­derts, wenn sie zur Darstellung alles für brauch­bar hält, was sich fin­den lässt: kon­kre­te Alltagsgesten und Sprache wie das Tanztheater, tech­no­lo­gi­sche Mittel für Wasserprojektionen, poe­ti­sche Bilder und – last but not least – vom Wasser inspi­rier­te Bewegungsstudien.
Gleich zu Beginn durch­mischt Carolyn Carlson sowohl Funktion und Symbolik des Wassers, als auch alle ver­füg­ba­ren Stilelemente. Becher wer­den pan­to­mimsch geho­ben, es wird geschluckt und gespro­chen. Dem Wasser als Ursprung (erstes Thema), einem Symbol, wird mit einem Symbol begeg­net: eine Tänzerin, umhüllt von trans­pa­ren­tem Plastik wie einer Fruchtblase, wird nackt aus einem Wasserbecken gebor­gen. Dann beklei­det. Und nun beginnt es zu ticken. Tick-Tack, ruckelnd kommt der Alltag in Gang. Zwölf graue Gestalten gesel­len sich, wech­seln Tische, Stühle, Posen und Frauen. Tick-Tack, die Gesten stocken, regel­mäs­sig wie der Sprung einer ver­kratz­ten Platte. Das Tick-Tack ver­eint die Gestalten im grau­en Alltag wie  Figurinen einer auf­zieh­ba­ren Spieluhr. 
In die­se Alltagsmaschinerie ist das Einsickern von einem natür­li­chen Element erfri­schend. Wie ein Rinnsal fliesst hie und da ein geschwun­gen-gedreh­ter Ablauf in Carlsons Tanztheater ein. Runde Rumpfbeugen mün­den aber wie­der in geschnit­ten kla­re Gestik.
Das mit­reis­sen­de Wasser kann sich erst im drit­ten Teil des Abends sei­nen Weg bah­nen: in “L’eau vio­len­te”. In Form einer rei­nen Bewegungsstudie bot es einen Höhepunkt, wie dem schwei­zer Applaus im Théatre du Passage zu ent­neh­men war: die tosen­den Wogen des Meeres wur­den von den Männern des Ensembles ver­kör­pert. Die hell­schäu­men­den Wellen des düste­ren Meeres der Projektion spie­gel­ten sich in den weis­sen flat­tern­den Hemden und schwar­zen Hosen der Tänzer. Sie durch­zo­gen in einem Schwung ener­gisch die Diagonale, über­schlu­gen sich ver­ein­zelt in einer Bodenrolle, um sich vom andern in flie­gen­de Höhe reis­sen zu las­sen. Spitze Füsse sties­sen durch die Lüfte, wie die Spritzer hoch­schnel­len­der Wellen. Männerhebungen sind gewal­tig, wenn näm­lich einer sei­nen Partner mit Elan kopf­über an die Flanke zieht, wel­cher aus dem erhal­te­nen Schwung sei­ne par­al­lel gestreck­ten Beinen in die Höhe hisst. Kräftige Körperwellen durch­zie­hen die Tänzer im Stand. Als der trei­ben­de tie­fe Beat (viel­leicht die E‑Saite vom Kontrabass in Joby Talbots eigens kom­po­nier­tem Orchesterwerk?) all­mäh­lich nach­lässt, kehrt ein gleich­mäs­si­ge­rer Wellengang ein. Eine weib­li­che Linie flech­tet sich durch die Männerreihe, sie durch­we­ben ein­an­der ent­spre­chend der Wellen, die in unte­ren Schichten zurück­strö­men. Den Umschlagspunkt bil­den sich ducken­de Rücken. Abwechselnd kommt eine Schar Männer, dann Frauen, wie ange­schwemmt, wölbt sich rück­lings über die Buckel und schwingt die Arme par­al­lel ein­mal her­um. Um dann abzu­tau­chen, am Boden die Rücken zu stäh­lern und die näch­ste Welle dies­mal über sich erge­hen zu las­sen.
In den fol­gen­den Teilen ebbt das Stück künst­le­risch ab. Theatralische Bilder ver­su­chen zwar noch die Tragik ver­schmutz­ter Gewässer zu evo­zie­ren, poe­tisch-meta­phy­si­sche Zusammenhänge zwi­schen dem Salz unse­rer Tränen und den geschun­de­nen Meeren zu beschwö­ren. Doch die Metaphern für die Brüche unse­rer Konsumwelt sind abge­dro­schen, wenn z.B. in Endlosschlaufen Frauen von ihren hohen Absätzen knicken. Und wenn gar die Katharsis an der Ökokatastrophe nicht dem Zuschauer über­las­sen wird, son­dern im Schlussteil, “rei­ni­gen­des Wasser”, bild­reich vor­ex­er­ziert wird, hat sich jede Wirkung ver­wäs­sert. Wann darf Tanz wie­der Choreographien über­schwem­men?

www.tanzkritik.net Originaltext

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