Ein paar unhermetische Gedankenanstösse mit Aufruf zu Widerspruch und Ergänzung
Von Ted Gaier und Julian M. Grünthal (Publiziert im ensuite 102, Juni-Juli 2011)
Wir haben am 15. Mai 2011 die Aktionsgruppe Gessnerallee 2014 gegründet mit dem Ziel, die freie Tanz- und Theaterszene zu mobilisieren und zu einer gemeinsamen Vernetzung und kulturpolitischen Einflussnahme zu motivieren. Ziel ist eine Neustrukturierung des Förderwesens weg vom Patronats- oder Intendantenmodell hin zu einem Modell der Selbstverantwortung mit flachen Hierarchien. Und das Epizentrum dieser Neustrukturierung ist für uns ganz klar das Theaterhaus Gessnerallee.
Ein paar Worte zur aktuellen Situation in der Gessnerallee: Niels Ewerbeck verlässt das Theaterhaus Gessnerallee, um das Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt zu leiten. Die zwei am Haus arbeitenden Dramaturginnen Catja Löpfe und Gunda Zeeb – die das Haus nun fast eine ganze Saison lang interimistisch leiten werden – haben sich auch für die Theaterleitung beworben, sind aber bereits früh aus dem Bewerbungsverfahren ausgeschieden. Für den Verbleib von Löpfe/Zeeb hatte sich eine Gruppe von Theaterschaffenden eingesetzt, die mit einer Petition an den Theaterrat gelangt sind. Die Aktionsgruppe Gessnerallee 2014 unterstützt diese Petition, stellt aber mit ihrem Manifest noch grundsätzlichere Fragen.
Auch Samuel Schwarz, Mitglied der Aktionsgruppe Gessnerallee 2014, hatte sich zusammen mit Heike Albrecht (Sophiensäle) um die Leitung der Gessnerallee beworben. Ein wichtiger Punkt dieser Bewerbung war das Bekenntnis zu einem Strukturwandel hin zu mehr Einbindung der freien Szene und zu offeneren Strukturen in der Gessnerallee. Diese Bewerbung wurde schliesslich in der Endrunde – in der nur noch zwei Kandidaturen im Rennen waren – unter etwas fragwürdigen Umständen abgelehnt. Die Idee, dass das Haus in enger Mitarbeit mit den Gruppen programmiert wird, war dem Theaterrat zu revolutionär. Das Modell, das favorisiert wird, ist die Weiterführung des «courant normal». Trotzdem ist uns nun wichtig, dass wir die Gründung der Aktionsgruppe 2014 nicht als Trotzreaktion auf die Ablehnung dieser Bewerbung in der letzten Runde verstanden wissen wollen. Klar, es war sehr frustrierend. Es wird viel Mühe aufgebracht und versucht, sich den bestehenden Strukturen anzupassen, um innerhalb dieser Strukturen in eine Machtposition wie die Leitung der Gessnerallee zu kommen, im Glauben, von dort oben dann die Strukturen ändern zu können. Aber dann stellt sich heraus, dass das in letzter Instanz gar nicht gewollt ist. Und dass auch andere hochqualifizierte Bewerber aus Gründen abgelehnt werden, die darauf schliessen lassen, dass Innovationen für die Gessnerallee gar nicht gesucht werden. Das löst schon grosses persönliches Unbehagen aus. Aber dann merkt man, dass es verdammt vielen so geht. Ganz viele spüren dieses Unbehagen, dass an den Strukturen grundsätzlich was nicht stimmt. Und da kamen wir zur Erkenntnis, dass die Anpassung an die Strukturen offenbar nicht der Weg sein kann, diese zu verändern. Sondern die Veränderung muss von der Basis kommen und von ihr gewollt sein. Wir müssen eine Solidarisierung der zersplitterten freien Szene erreichen, damit Vertreter der freien Szene ernst genommen werden und so ein Strukturwandel hin zu flacheren Hierarchien erkämpft werden kann. Und deshalb haben wir das Manifest «Gessnerallee 2014 – Systemwechsel Now» verfasst, das nach fünf Tagen schon fast von 130 Leuten unterzeichnet wurde. Auszüge aus dem Manifest im Wortlaut:
(Komplette Fassung unter www.gessnerallee2014.com)
Gessnerallee 2014 – Systemwechsel now
Das Gegrummel, das durch die freie Theater- und Tanzszene der Schweiz geht, wird lauter. Über 50 Theaterschaffende sind am 12. Mai in die Öffentlichkeit gegangen um die formal vielleicht korrekte Entscheidung über die neue Theaterleitung des Theaterhauses Gessnerallee anzuzweifeln. Täglich werden es mehr. Wie gesagt, es grummelt.
In die Programmrichtlinien der Gessnerallee vom 9. November 1988 wurde dereinst unter dem Punkt «Philosophie des Hauses» geschrieben: «Das Theaterhaus Gessnerallee erfüllt den Auftrag neue Experimente und Tendenzen des Zürcher und schweizerischen Theaters zu fördern mit öffentlichen Geldern. Damit übernimmt das Theaterhaus den öffentlichen Auftrag und den Versuch einer kulturellen Forschungsarbeit» Kulturelle Forschungsarbeit? Derartige, ursprünglich wohlgemeinte Begriffe kennen wir doch nur noch aus dem Förderantrags-Kauderwelsch (…)
Denn eigentlich bedeutet «kulturelle Forschungsarbeit » (…) mehr, als uns und unsere Gesellschaft zu erforschen, nämlich Visionen zu entwickeln und diese nicht nur auf der Bühne, sondern auch im «wirklichen» Leben zu leben. Und das geht nur in neuen Strukturen. Und auch für die müssen wir Visionen entwickeln und umsetzen. (…)
Companieros und Companieras della miseria! Die freie Szene sind wir. Lasst uns, die KunstproduzentInnen, entscheiden, unter welchen Bedingungen wir Theater machen wollen! Lasst uns für würdige ökonomische und soziale Produktionsbedingungen kämpfen! Lasst uns unsere Kompetenzen zusammenschmeißen! (…)
Gönnen wir uns keine Bequemlichkeit mehr! Lasst uns aus dem Theaterhaus Gessnerallee etwas besseres machen als ein prekäres Ausbildungscamp für das Stadttheater. Oder eine Gnadenbrotanstalt für jene, über die man mitleidig sagt, sie hätten es halt nicht geschafft in die großen Häuser. Weg mit den verinnerlichten Hierarchien und dem Geschiele auf die Stadttheater. Die freie Szene ist nicht die 2. Liga. Wenn wir daran glauben, dass wir Dinge auf eine neue Art verhandeln können, brauchen wir auch kein Patronatswesen und keine Indendanzen alter Schule mehr, egal wie menschlich der Patron im einzelnen auch sein kann. Freies Theater sollte frei sein von festgelegten Hierarchieformen. Unterschiedliche Inhalte benötigen variable Macht- und Produktionsformen, nicht nur innerhalb der einzelnen Produktionen, sondern auch in Bezug auf die Leitungsstruktur. Darin liegt die Chance und die Freiheit des freien Tanz- und Theaterschaffens.
Lasst uns deshalb auch die Forderung nach Stop des Wahlverfahrens und der Verlängerung der Interims-intendanz von Catja Löpfe und Gunda Zeeb unterstützen – dies erstens, um zu verhindern, dass qualifizierte Leitungsteammitglieder des Theaterhauses sofort den Job verlieren, nur weil ihr Chef einen Karrieresprung macht, zweitens, um die Verdienste und Bemühungen von Catja Löpfe und Gunda Zeeb zu würdigen, die einen spürbaren Neuanfang lancierten und drittens, um Zeit zu gewinnen.
Lasst uns die kommenden 3 Jahre nutzen, um uns in einem großen für alle offenen, lustvollen Diskussions-Prozess darüber klarzuwerden, wie wir mit dem Theaterhaus Gessnerallee zu Strukturen kommen, in denen wir uns alle besser wiederfinden (…)
Und jetzt? Die Idee ist nun nicht, dass wir in diesem Artikel mit einem weiteren Manifest nachdoppeln wollen. Das «Ensuite» hat uns gefragt, ob wir die Möglichkeit nutzen wollen, unsere Gedanken zu dem Manifest etwas zu erläutern. Diese Gedanken sollen locker und auch etwas sprunghaft sein, es geht nun um den Beginn eines lockeren Gedankenaustausch, der letztlich aber zu konkreten Massnahmen führen soll. Das erste, was jetzt zu tun ist, egal, ob nun der neue Leiter der Gessenrallee Anfang dieser Woche gewählt wird oder nicht, ist die Einberufung einer Vollversammlung der freien Schweizer Tanz- und Theaterszene. An dieser Versammlung geht es darum, die Bedürfnisse der Freischaffenden zu formulieren und klare Forderungen, was sich verändern muss, herauszukristallisieren. Beim Schreiben unseres Manifestes hatten wir einige Diskussionen, ob das alles nicht zu hippiesk klingt. Und natürlich haben wir Begriffe wie «Lustvoller Diskussions-Prozess» mit einem leicht verhaltenen Grinsen geschrieben, denn selbstverständlich wissen wir, dass die Veranstaltung einer Vollversammlung nicht nur lustvoll sondern auch eine saumässig aufreibende Sache ist. Aber wir müssen eben jetzt alle etwas investieren und den Arsch hochkriegen, wenn sich etwas ändern soll. Und darum sehen wir diesen Weg als den ehrlichsten und erfolgversprechendsten. Somit ist, was im Manifest Gessnerallee 2014 teils hippiemässig anmutet, keine Naivität, sondern ein gewollter Rückverweis auf die Wurzeln der Gessnerallee, auf eine Zeit, in der ein «Spirit» herrschte, in dem undenkbar gewesen wäre, dass die Gessnerallee eines Tages zum Durchlauferhitzer der grossen Häuser wird – und zur neoliberalen Versuchanstalt für authentizitätssüchtige Juroren.
Die freie Szene ist flexibler als die Stadttheater. Das ist ihr Potential. Aber wir müssen die Finanzierungsgefälle zwischen freier Szene und Stadttheater ausleveln. Mehr Geld für die freie Szene und gleichzeitig flachere Gehaltshierarchien. Und überhaupt flachere Hierarchien bei grösserer Verantwortung für jeden einzelnen. Aber wie gesagt, um solche Forderungen stellen zu können und durchzusetzen, muss die freie Szene sich untereinander besser vernetzen, um aus einer starken gemeinsamen Position heraus kulturpolitisch agieren zu können, anstatt weiter nur hoffend und mäkelnd zuzuschauen.
Was ist eine mögliche Zukunft der Gessnerallee? Wir müssen Ideen entwickeln, denn wie langweilig ist sie geworden, diese freie Szene! Wie wenig atmet sie noch den Geist der Freiheit, das Betriebsnudeltum hat sie vom Stadttheater geerbt – nicht aber dessen finanzielle Mittel. Die freie Szene ist zum grössten Teil nicht mehr sexy. Höchstens noch für die, die an der Macht sind. Und da es ja nicht so ist, dass wir nicht alle gern ein wenig sexy wären, müssen wir diese Macht verteilen! Damit es auch immer mal wieder Spass macht.
Wenn das aber nicht klappt und die freie Szene es nicht hinbekommt, sich zu organisieren und in Austausch zu gehen, dann kann man die Gessnerallee in 10 Jahren gern zu einer Eventgastronomie umbauen. Denn dann hätte die freie Szene ihre Legitimation als Alternative zum festgefahrenen Stadttheatersystem verloren. Das wäre schlimm. Und wenn wir ganz ehrlich sind: Wir wissen, dass wir uns mit diesem Manifest ziemlich aus dem Fenster lehnen. Und natürlich haben auch wir Angst, dass die Ziele nicht erreicht werden. Und wir wissen, dass auch wir in den letzten Jahren immer wieder fest daran geglaubt haben, etwas verändern zu können, und im Endeffekt hat es nichts gebracht als ein Skandälchen hier und da, aber keine strukturellen Veränderungen. Es ist schlicht so: Alleine sind wir nicht stark genug. Und nun hoffen wir, dass unser Manifest der Funke ist, der die freie Szene entfacht, aufzustehen. Wenn sich aber keine Mitstreiter finden, die sich auch zu exponieren bereit sind, dann kann die ganze Sache natürlich nur scheitern.
Halt, stop, nicht jetzt schon wieder nörgelig werden!! Denn natürlich glauben wir im Herzen fest an das riesige Potential, das in der Organisation und Politisierung der freien Szene steckt. Die wichtigste Frage dabei ist: Wie geht es weiter mit der Gessnerallee? Es scheint die Zeit für mutige Ideen und Konzepte gekommen zu sein, denn wir haben es probiert mit moderaten, zwingend notwendigen Änderungen, und schon die waren dem Theaterrat zu extrem, d.h. es muss nun lauter und frecher gedacht werden, und die untrainierten Vorstellungsmuskeln für Utopien müssen sich wieder warmlaufen, Himmel, das kann doch nicht so phantasielos weitergehen! (Dieser Text erfüllt keinen Anpruch auf Vollständigkeit und Kohärenz.)
Hier ein paar Ideen, locker hingeschmissen, unflätig und zu ergänzen:
- Das haus abschaffen und die Gelder komplett in die freie Szene schütten: Die 1,85 Mio, die die Gessnerallee verwaltet, von denen 1,2 Mio für Fixlöhne, 500’000.- in Gagen und 150’000.- in Koproduktionsbeiträge gehen, definieren ein zu starkes Gehalts- und Machtgefälle zwischen Festangestellten und Freien. 1.85 mio = 13 sehr gut finanzierte Produktionen. Die Idee ist auf den ersten Blick nicht schlecht. Aber OK, sie hinkt trotzdem ein wenig, es ist wohl dennoch besser, wenn es ein Zentrum wie das Theaterhaus Gessnerallee gibt, denn: Zweck der Gessnerallee ist es, Ort zu sein, wo sich die freie Szene gegenseitig befruchtet, ein Labor, eine Austauschstätte. Um das Epizentrum Gessnerallee müssen sich die Strukturen bilden, die die freie Szene konsolidieren. Nur so hat die Gessnerallee eine Legitimation: Als Zentrum einer selbstbewussten freien Szene, die gegenüber den Stadttheatern keine Minderwertigkeitskomplexe hat.
- Dramaturgen müssen Teamplayer sein! Keine «konventionellen» DramaturgInnen mehr, die bloss von aussen draufgucken, ohne mitverantwortlich zu sein. Wir brauchen Mitspieler&Mitautoren als DramaturgInnen. Wir müssen einen Pool von solchen schaffen, aus dem dann die Produktionen, die ihre DramaturgInnen nicht eh selber mitbringen, den/ die genau richtigen bekommen, bei dem/der die Wellenlänge auch menschlich und inhaltlich stimmt. Die Dramaturgische Gesellschaft hat nichts zu suchen in der freien Szene, und ihr Einfluss und ihre Diskussionen sollten uns echt nichts kümmern. Intelligenz ist etwas aussersprachliches. Theater ist eine eigene Wissenschaft, die die Begleitung durch die Dramaturgie nicht braucht! So sehen wir das. Ihr auch?
- Abschaffung der Intendantenstelle. Braucht es nicht. Rotierende Machtmodelle. Familienfreundliche Strukturen. Theater braucht Leute, die reif sind. Erst dann kann das Zuschauerbedürfnis erkannt werden, und es steht nicht nur die Befriedigung eigener Kuratorenträumchen
in Zentrum. - Ziel: Leitungsteam mit flachen hierarchien. Zusammengesetzt aus Vertretern der freien Szene (z.B. Gruppendelegierte & Delegierte der freischaffenden Einzelkünstler als gemeinsames Leitungsteam). Gleicher (Stunden)Lohn für alle Angestellten der Gessnerallee. (Kollision mit Gewerkschaften? Los, Gegenargumente gesucht!) Gleicher Lohn für gleiche Arbeitszeit. Bzw: alle kriegen soviel wie der Tontechniker (Keine Kollision mit Gewerkschaften!).
- Prinzip Agentur/Indie-Label Gessnerallee: «Gessnerallee» als Label, das sich mit um den Vertrieb/die Tour der einzelnen Produktionen kümmert. Schluss mit dem Kuratorentum. Wir sind unsere eigenen Kuratoren. Die Gessnerallee konzentriert sich auf die Promotion und den Verkauf der bei ihr entstandenen Produktionen. Mit fähigen Leuten besetzt aus der freien Szene kommend und mit den entsprechenden Ansprechpartnern, die auch im Ausland vernetzt sind, wird dafür gesorgt, dass ein Stück seinen speziellen Platz bekommt. Es braucht mehr Geld. Umverteilung. Sonst bleibt die freie Szene 2. Liga.
- Gessnerallee besetzen? Was für eine reizvolle und hübsche Idee. Sind wir zu alt dafür?
- …weitere Ideen.…
Infos: gessnerallee2014@gmail.com
Ted Gaier und Julian M. Grünthal für die AKTIoNSGRUPPE »GESSNERALLEE 2014 (Ted Gaier, Julian M. Grünthal, Meret Hottinger, Wanda Wylowa, Samuel Schwarz, Philipp Stengele)




