Von Luca D’Alessandro – Was Nicola Conte alles nicht macht, lässt sich an einer Hand abzählen. Er ist zum Beispiel kein Rockstar. Mit Trance hat er auch nicht gerade viel am Hut. Alles andere hingegen trifft – ob direkt oder indirekt – auf ihn zu.
Nicola Conte aus der süditalienischen Stadt Bari ist Komponist, Produzent, Musiker, Remixer, DJ und Plattensammler. Sein Netzwerk reicht weit über die Landesgrenzen hinaus. In seiner Karriere hatte er es bereits mit Rainer Trüby aus Deutschland, Thievery Corporation aus Washington DC, Till Brönner und Lisa Bassenge zu tun.
Sein kürzlich erschienenes, inzwischen achtes Album «Free Souls» ist bei seinem Heimatlabel Schema Records erschienen. Darin zelebriert er anhand von Cinecittà angehauchten Bigband- und Soul-Sequenzen die Befreiung der Seelen von einengenden Schemas und Schubladisierungen. Das passt zu ihm, zumal er mit Klischees nicht viel anfangen kann: «Wenn man mich in ein Genre zwängen will, breche ich aus und mache etwas anderes. Ich bin einfach so.» ensuite-kulturmagazin hat mit Nicola Conte gesprochen.
Nicola Conte, im Mai haben Sie mit der Publikation von «Free Souls» ein weiteres Kapitel Ihrer Karriere als Musiker aufgeschlagen. Sie sind nicht nur produktiv, sie haben auch ein schier unendliches Musikwissen. Es kommt nicht von ungefähr, dass Sie in Fachkreisen gerne mal als Gilles Peterson Italiens bezeichnet werden.
(lacht) Das ist so! Gilles und ich stehen uns nahe. Trotz der Gemeinsamkeiten gibt es zwischen uns aber einen wichtigen Unterschied. Gilles ist kein Komponist. Ich hingegen schon. Ich habe eine eigene Band, mit der ich regelmässig auf der Bühne oder im Studio stehe. Gilles gehört eher zu den A&R Typen, also zu jenen, die Musik hören, beurteilen und gegebenenfalls darüber berichten. Wie dem auch sei: Der Vergleich mit Gilles schmeichelt mir sehr.
Genauso wie er lassen Sie sich musikalisch nur schwer einordnen.
Zum Glück! Ich weiche den Definitionen absichtlich aus. Meine Interessen sind dermassen vielfältig, dass eine Eingrenzung mir eher schaden als nützen würde. Bleibe ich offen, kann ich meine Gefühle überhaupt zulassen und so formen, dass daraus etwas Neues entsteht.
Gegenwärtig inspirieren Sie sich an afrikanischen Beats.
Meine Musik beinhaltet viel mehr als das. Sie orientiert sich an meinem spirituellen Innenleben, ja, meiner Vision, die ich umsetzen will. Diese Spiritualität hat eine direkte Verbindung zu den Jazzströmungen, die sich in meinen Kompositionen niederschlagen, und zu den afroamerikanischen Elementen, die etwas Urtümliches in sich verbergen. Ich bin überzeugt, dass in Afrika unsere Zukunft liegt.
Sind Sie auf der Suche nach Authentizität?
Ja, das auch. Mir gefällt die Essenz des Rhythmus: Dunkel, unverbraucht und so rein, dass er sich in die Gegenwart transportieren und problemlos mit elektronischen Elementen verbinden lässt. Die schier unzähligen Möglichkeiten, die sich mir offenbaren, sind gewaltig.
Laufen Sie nicht Gefahr, unfassbar oder gar austauschbar zu wirken?
Nein, wieso? Die Welt dreht sich, und die Dinge verändern sich fortlaufend. Wieso sollte ich also stehen bleiben? Ich will in Bewegung bleiben, mitgehen, ausprobieren und auf einer breiten Grundlage meine Identität aufbauen. Alles andere ist reine Zeitverschwendung.
Sie leben im hier und jetzt. Was war und sein wird …
… ist nicht weiter relevant. Heute habe ich beispielsweise nichts mehr mit der Filmmusik im Sixties-Style à la Cinecittà zu tun.
Damit sind Sie aber berühmt geworden.
Ja, vor Jahren. Leider werde ich heute nach wie vor als Filmmusik- und Lounge-DJ gesehen, obwohl diese Ära schon längst hinter mir liegt. Ich habe mich weiterentwickelt und neue Wege ausprobiert. Doch leider halten sich veraltete Images hartnäckig. Ich finde, die Zeit ist kostbar und geht viel zu schnell vorbei. Ein Musiker sollte sich daher keinem Genre unterwerfen. Ansonsten leidet die Kreativität.
Obwohl Sie verschiedene Strömungen in sich vereinen, hört man es einem Stück an, wenn Sie am Werk sind.
Darin liegt eben die Kunst: Das zu tun, was einem wichtig ist, und trotzdem sichtbar zu bleiben. Der Aufbau eines solchen Images ist vermutlich eine der grössten Herausforderungen eines Künstlers. Vermutlich habe ich mir mit der Art und Weise ein Image geschaffen, wie ich diese unterschiedlichen Grooves und Melodien zu einer Einheit verflechte. Anhand dieses Images ist es dann schon möglich, dass ein Hörer sagen kann: «Ja genau, das ist typisch Nicola Conte.»
Finden Sie das gut?
Ja und nein. Sobald ich das Gefühl bekomme, in eine Schublade gezwängt zu werden, werde ich kribbelig. Ich muss dann sofort wieder etwas ganz anderes erfinden.
Bringen wir es auf den Punkt: Sie sind ein Forscher.
Absolut!
Dieser Aspekt kommt in Ihrer Compilation-Serie «Viagem» deutlich zum Ausdruck. Diese haben Sie in den vergangenen Jahren beim Londoner Far Out Label publiziert.
Ja, als Sammler und DJ recherchiere ich natürlich pausenlos. Ich bin ein Archäologe des Sounds.
Kommen wir auf die Filmmusik der Sechziger zurück, die Sie inzwischen zurückgelassen haben. Momentan stehen vielmehr Soul und ihre spirituellen Visionen im Vordergrund. Zwei Zeiten, die sich kontrastieren.
Ich sehe keine grosse Diskrepanz zwischen meinem früheren Ich und meiner heutigen Arbeit. Im Gegenteil: Es gibt mehr Gemeinsamkeiten als man denkt. Damals galt mein Interesse besonders jener Filmmusik, welche einen grossen Jazzanteil aufweist. Diese war vor allem anfangs der Sechziger populär. Im Verlaufe dieses Jahrzehnts schwenkte der Trend hin zum psychedelischen Sound mit seinen Sitar-Klängen. Gegen Ende der Sechziger schliesslich nahmen funkige Elemente Überhand, darunter auch brasilianische, an denen ich ebenfalls sehr interessiert bin. All das war schon immer Teil von mir. Gegenwärtig gehört das filmische Element eher meiner Vergangenheit an, was nicht heisst, dass ich es nicht wieder pflegen werde. Es kann gut sein, dass ich es in Zukunft erneut aufnehme. Warum auch nicht, denn jede Veränderung hat direkt mit meinem vorausgehenden Schaffen zu tun. Ich bin nicht der Typ, der 180 Grad Wendungen vollzieht.
«Free Souls» ist somit die Folge aus allem Bisherigen.
Richtig. Und gleichzeitig ist die CD eine Hommage an das Zeitgeschehen, an die Stellung des Individuums im gesellschaftlichen Kontext, welches den Wunsch hegt, sich aus der Masse hervorzuheben. Diesem Aspekt widmet sich «Free Souls» mit Betonung auf Free (frei).
Für die Produktion haben Sie eine Reihe interessanter Gäste aufgeboten. Heidi Vogel, zum Beispiel.
Ich habe Heidi hier in Bari anlässlich einer Konzertserie getroffen, und daraufhin in mein Studio eingeladen, wo wir den Titel «Sandalia Dela» einspielten. Meine Gäste suche ich mir aufgrund ihrer künstlerischen Fähigkeiten und ihrer Identität aus. Diese Faktoren müssen mit meiner Vision kompatibel sein, sonst geht gar nichts. Alle Sessions, die auf «Free Souls» verewigt sind, sind hier in Bari entstanden.
Melanie Charles, Marvin Parks, Bridgette Amofah und José James sind alle eigens nach Bari gereist?
Ja. Wir haben eine Zeitlang zusammen gewohnt, um uns besser kennen zu lernen. Am Ende habe ich mit jedem von ihnen einen oder zwei Songs eingespielt. So entsteht aus meiner Sicht authentische Musik, die aus dem tiefsten Innern kommt, sprichwörtlich aus der Seele.
Rufen Sie Ihre Gäste einfach an und fragen sie? Wie gehen Sie vor?
Ja, es ist in der Tat so einfach. Ich melde mich bei ihnen und frage. Die Reaktionen sind eigentlich immer sehr positiv. Inzwischen bin ich auch mit ganz vielen Musikern befreundet, weshalb eine Anfrage in der Regel nicht auf taube Ohren stösst.
Ist es schon einmal vorgekommen, dass die Person, die Sie aufgeboten haben, plötzlich nicht mehr mit Ihrer Vision kompatibel war?
Bis heute war das noch nicht der Fall. Ich kenne die meisten von ihnen zu gut, daher ist es eher unwahrscheinlich, dass ich daneben greife. Ich darf schon sagen, dass ich in all den Jahren ein Gespür für musikalische Zusammenarbeit entwickelt habe.
Gibt es jemanden, den Sie sich unbedingt wünschen, jedoch bislang noch nicht auf Ihrer Gästeliste hatten?
Natürlich, es gibt ganz viele. Ich spreche aber nicht gerne darüber.
Wieso?
Sie werden dann zu Gegenständen, die man hin und her bewegt. Vergleichbar mit Bauklötzen, die man stapeln und wieder wegnehmen kann. Das will ich nicht. Die Interaktion muss von sich aus entstehen und möglichst undefiniert bleiben. Was ich sagen kann, ist, dass ich bereits ein Team zusammengestellt habe, mit dem ich die nächste Platte aufnehmen will, bestehend aus bekannten Persönlichkeiten aus meinem Umkreis. Ich möchte zunächst diese starke Bindung noch weiter ausschöpfen und in gute Musik umwandeln. Ja, und es gibt auch eine Generation von neuen Sängern, die mich sehr interessieren …
… zum Beispiel Chiara Civello?
Ja, ich habe mit ihr das kürzlich erschienene Album Canzoni produziert, welches der italienischen Songwritertradition der 1960er Jahre gewidmet ist. Auch da war die Vermischung diverser Stilrichtungen mit Traditionen aus dem afro-brasilianischen Kontext ein Thema. Der Einbezug von Gilberto Gil, zum Beispiel, Chico Buarque, Esperanza Spalding und Ana Carolina hat sich einmal mehr als äusserst positiv herausgestellt.
Wird Chiara Civello auch in Ihrem neuen Projekt eine Rolle spielen?
Nein. Ich könnte mir aber vorstellen, José James wieder an Bord zu holen. Chiara Civello soll ein eigenständiges Projekt bleiben, welches ich nebenbei führe.
Ganz nebenbei sind Sie ja auch noch DJ. Gibt es aus all Ihren Tätigkeiten eine, auf die Sie verzichten könnten, falls Sie müssten?
Nein, keinesfalls.
Auch nicht auf das DJ-ing?
Nein. Ich bin ein Sammler und Forscher. Würde ich damit aufhören, ginge ein wichtiger Teil von mir verloren.
Sie arbeiten mit mehreren Labels zusammen. Eines der wichtigsten scheint aber nach wie vor das Schema Label in Mailand zu sein. Da entstanden Ihre ersten Publikationen. Haben Sie keine Probleme mit all den Labels? Zum Beispiel, dass eines davon die Exklusivrechte an Ihnen fordert?
Nein. Kürzlich habe ich bei Impulse, einem Tochterlabel von Universal, eine CD publiziert. Bei Impulse stehe ich übrigens immer noch unter Vertrag. Vorher war ich bei EMI – Blue Note, noch früher sogar bei Eighteen Street Lounge von Thievery Corporation. Free Souls ist wiederum bei Schema erschienen, weil ich da die Leute gut kenne und weiss, dass die Wege kurz und unkompliziert sind. Schema publiziert ausserdem noch Vinyl, was ich besonders schätze. Ich selber habe ja nicht wenige Platten zu hause.
Wie gross ist Ihre Sammlung?
Ich habe meine Platten nie gezählt. Tausende sind es bestimmt, aber genau weiss ich es nicht.
Vermutlich tauchen Sie auf allen Kontinenten nach Perlen.
Internet sei dank kann ich heute viele Bestellungen über die gängigen Portale machen und so auf Raritäten stossen, die man auf einem gewöhnlichen Flohmarkt vermutlich niemals finden würde. In dieser Hinsicht sind digitale Medien ein echter Segen.
Digitale Medien haben aber einen massiven Einfluss auf das Musikgeschäft.
Das ist so. Der Musikkonsum hat sich in den letzten Jahren gewaltig verändert. Das bekommen wir Musiker, Komponisten, Produzenten und DJs besonders stark zu spüren.
Sind Sie trotzdem zuversichtlich in Bezug auf die Zukunft Ihrer Branche?
Ja, obwohl die CD früher oder später ganz verschwindet, wird es nach wie vor Innovation in der Musik geben. Diese ist gekoppelt an die technologischen Entwicklungen, welche primär wirtschaftlichen Interessen dienen. Die Musik wird sich auch da anpassen müssen.
Die Zukunft von Nicola Conte?
Wenn ich das wüsste … keine Ahnung.
Was wünschen Sie sich?
Dass mein nächstes Album von der Öffentlichkeit als Fortsetzung zu «Free Souls» wahrgenommen wird. Es soll meine Gefühle, meine aktuelle Identität und die Schwerpunkte widerspiegeln. Wenn ich das so hinkriege, erfüllt sich meine Vision.
Bild: zVg.
Publiziert: ensuite Nr. 140, August 2014





