Von Peter J. Betts – Im Wonnemonat erhielt die Kultur der Neutralität in diesem Jahr offenbar wieder einmal sichtbar ein neues Gesicht. «Wonnemonat» hat übrigens, sprachgeschichtlich, wenig mit Wonne im heute üblichen Sinne zu tun, wenig mit Liebe und so. Der Begriff wurde, so sagt man, im achten Jahrhundert von Karl dem Grossen eingeführt, hiess im Althochdeutschen «wunnimanot» (Weide-Mond), also jene Jahreszeit, in der man die Tiere wieder auf die Weide führen, wieder – nach den Eisheiligen – auch weniger Winterhartes einpflanzen konnte. Nach den Eisheiligen: Weide frei! Neutralität gegenüber dem Machtkampf zwischen heiss und kalt. Die Kultur der Neutralität hat immer wieder ein anderes Gesicht. Die Schweiz war auch im zweiten Weltkrieg neutral. Spätestens hier würde eine meiner Frau und mir sehr liebe Freundin sicher auf Berndeutsch ausrufen: «Zämehäng wie Voorhäng!» Laut dem 2002 erschienenen Bergier-Bericht hat die Schweiz zwischen 1940 und 1944 rund für ein Milliarde Franken Waffen an kriegsführende Länder exportiert, an Deutschland, Italien, Rumänien, Frankreich, Grossbritannien, die USA und so weiter. Also: deutsche, englische, amerikanische französische und italienische U‑Boote setzten zum Beispiel Oerlikon-Flugabwehr-Kanonen ein. Gegen alle: Feuer frei! Neutralitätskultur: ein wichtiger Faktor für die Sinngebung eines Kulturkreises, dessen Basisdenken in der Pflege der Wachstumseuphorie begründet ist? Weide frei! Fette Weiden machen wieder fett. Oder neutral ist, was gewinnträchtig ist. Flüchtlinge sind wenig lukrativ. Der Bundesrat wusste um die Vernichtungslager der Nationalsozialisten. Die Grenzen blieben für jüdische Flüchtlinge geschlossen, schliesslich war die Schweiz neutral. Nach 1944 sah das Gesicht der Neutralität dann wieder neu aus: der Sieg der Alliierten schien unabwendbar. Natürlich schossen die schweizerischen Fliegerabwehrkanonen in Richtung auf die alliierten Bombengeschwader die, aus Norden kommend, nachts die Feinde in Italien bombardierten: ein eindrückliches Feuerwerk. Da die Flughöhe der Bomber bekannt war, war es einfach, die Granaten tief genug unter den Flugzeugen platzen zu lassen. Das Feuerwerk war imposant, der Eindruck der wehrhaften Neutralität blieb intakt. Bomberpulks sind keine Flüchtlinge. In diesem Wonnemonat sieht die Zukunft für eine geeinte Ukraine wenig rosig aus. Die offiziell massierten Teile der russischen Armee haben sich ein bisschen von der Grenze zurückgezogen. Heute lassen sich von Armeen räumliche Distanzen sehr schnell und nachhaltig überwinden. Wie viele inoffizielle, vermummte russische Soldaten in der Ukraine tätig sind, ist wohl, ausser den Russen, niemandem bekannt; immerhin genügend, um die Wahl zu verhindern, Wahlhelfer – vielleicht provisorisch – verschwinden zu lassen. Die Eisheiligen in der Ukraine sind noch nicht vorbei. Im KKL hat auf eindrückliche Weise der Dirigent Valery Gergjev die grosse russische Seele zelebriert. Valery Gergjev ist designierter Chef der Münchner Philharmoniker. Valery Gergjev ist auch bekennender Putin-Freund. Vor dem Konzert in Luzern hat eine Gruppe von Menschen beim Eingang die BesucherInnen mit Flugblättern auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht und angeregt, am Schluss nicht zu applaudieren. Der Applaus soll (dann trotzdem? gerade deshalb?) stürmischer Begeisterung aus vollen Herzen Ausdruck gegeben haben, denn die künstlerische Leistung sei rundherum hervorragend gewesen und habe – so begründet – den Applaus mehr als nur verdient. Was, um Gottes Willen, hat denn Kunst mit Politik zu tun? Herbert von Karajan stand den Zentren der Macht ja doch auch nahe – und war ein grossartiger Dirigent und Förderer junger Talente? In der Schweiz herrscht doch Meinungsfreiheit, oder? Wie wäre es, wieder einmal die Dreigroschenoper zu lesen? Die Schweiz ist neutral, oder? Das KKL, trotz reparaturbedürftigem Dach, ist ein Leuchtturm und wichtig für die Fremdenindustrie, konkret Luzern-Tourismus, oder? Was im KKL geschieht, fördert jedenfalls die Tourismuseinnahmen. Das Bild von Gergjev mit Taktstock ist doch so viel aussagekräftiger als das mit ihm zusammen mit Putin und den Langstreckenraketen im Hintergrund, oder etwa nicht? Migros-Kulturprozent stört der Zusammenhang von Putin und Gergjev jedenfalls nicht. ZEIT ONLINE titelt: «Valerie Gergiev / Krim-Krise erreicht Münchner Philharmoniker.» Geld stinkt nicht! Vielleicht bedeutet für die Ukraine dieser Monat weniger «Weide frei!» als «Feuer frei!»? Was schaut heraus, für wen auch immer? Anderseits: Weide frei für die Crédit Suisse, denn die Eisheiligen sind für diese Bank vorbei! Und vielleicht überleben auch die anderen Schweizerbanken im Visier der US-Justiz. Auch der Bundesrat ist erleichtert. Kultur? Das Dreigroschenfinale: «… Doch leider sind auf diesem Sterne eben / Die Mittel kärglich und die Menschen roh. / Wer möchte nicht in Fried und Eintracht leben? / Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so! …» Es ist ja oft geschrieben worden, der Bundesrat habe schon immer um das Geschäft mit ausländischen Steuerflüchtlingen (die einzigen echt einträglichen Flüchtlinge) gewusst. Das Bankgeheimnis war irreversibel heiliggesprochen worden, und wenn man einmal heilig ist, kann einem nichts Böses mehr geschehen. «Der Morgenchoral des Peachum» gefällig? Der Bundesrat hat natürlich auch um die umschifften Gefahren der gefährlichen Frühlingskälteeinbrüche gewusst. Mit uns allen kann er sich aber jetzt auf einen Frühling mit Wachstumskraft freuen. Die Kritikaster sollen schweigen und sich an die gesundende Kraft der sich immer wieder erneuernden Neutralität gewöhnen. Eine Lösung für die Ukraine wird sich finden. Wie immer wird die Schweiz ihr Bestes geben. Nach diesen Eisheiligen: Weide frei für das Anlagegeschäft! Aber, wie es sich für ein prominent neutrales Land schickt, so, dass die blütenweisse Weste nicht den geringsten Flecken aufweist. Kollateralschäden bitte anderswo! Die Banken buhlen also weniger um Steuerflüchtlinge als um die Neuen Reichen. Das entbehrt nicht gewisser sportlicher Anreize. Die Neuen Reichen finden sich in den Schwellenländern. In Asien etwa. Es ist auch zu lesen, dass der Scheich von Katar als Grossaktionär die Deutsche Bank retten werde, ein Nebengeleise, neben den konsequenten Menschenrechtsverletzungen, der Finanzierung von Mordkommandos im Iran, dem systematischen Einkauf westlicher Konzerne – schliesslich geht das Öl ja einmal aus und die Zukunft gehört gesichert. Die unermesslich reichen Afrikaner könnten den Bank-Ballonen ebenfalls erneuten Auftrieb schenken. Selbstverständlich nach unverschmutzbaren Weissgeldstrategien. Wie sind denn die Oligarchen in Afrika zu Oligarchen geworden? Auch in der Schweiz öffnet sich die Schere zwischen sehr reich und sehr arm. Die Schweiz hat eine reine Weste: nie hat die Schweiz Kolonien besessen; Glencore hat nur den Sitz in der Schweiz, und niemand weiss, wie ihre Macht erwirtschaftet worden ist. Die zuständigen Bundesämter warnen also die Banken, dass heute sehr vertrauenswürdige Krösusse morgen schon geschlachtet oder international angeklagt und gar verurteilt sein könnten. Das Spiel mit der Werbung um Oligarchen aus Schwellenländern könnte einem Seiltanz ohne Netz gleichen. Das ist sicher gefährlich, für gewisse Menschen aber höchst reizvoll. Und höchst wahrscheinlich werden nicht sie vom Seil stürzen. Das in diesem Wonnemonat geschickt neu modellierte Gesicht der Neutralität verspricht dem Aussehen nach Hoffnung auf Zuversicht. Irgendwie glaubt man nach den letzten Eisheiligen auf kräftigende Aussichten in neu ergrünenden Weiden. Die Kultur der Politik kennt keine Grenzen.
Publiziert: ensuite Nr. 140, August 2014





