Das Imperium von Schmerz und Kunst: Die Sacklers. Eine Familiengeschichte.

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Von Dr. Regula Stämpfli – Eine Treppe im Jüdischen Museum in Berlin hiess bis vor Kurzem «Sackler-Treppe». Doch seit Neustem steht da: «Treppe am Ende der Achse der Kontinuität». Unsere Essayistin über ein Jahrhundertverbrechen mit über einer Million Toten.

Das Recht ist manch­mal sehr ein­fach: Es ermit­telt gegen Kriminelle, dient der Allgemeinheit und bestraft den Richtigen. So geht die Theorie. Die Praxis spricht eine ande­re Sprache. Wer kri­mi­nell ist und wer nicht, ent­schei­den weni­ger Paragrafen, eher die bes­se­re Story. Die Familie Sackler pro­fi­tier­te jahr­zehn­te­lang nicht nur von bes­se­ren Narrativen, son­dern auch von wis­sen­schaft­li­chen Fiktionen. Storys, erzählt von sexy Aliens in High Heels, die die Ärzte im Hinterland der USA bedien­ten. Der Wahrheitsgehalt der Pharma-Assistentinnen – die übri­gens den Lobbyistinnen im Europäischen Parlament oder im House of Representatives ver­blüf­fend ähn­lich sind, Barbie lässt grüs­sen – ten­dier­te gegen null. Doch wel­cher Heteromann im weis­sen Kittel über­prüft denn schon die Zusammensetzung einer äus­serst süch­tig machen­den Droge, wenn sie mit einem süs­sen Lächeln und einem Hammerbody prä­sen­tiert wird?

Es geht um OxyContin. Das Mittel ist ein semi­syn­the­ti­sches Opioid, sehr geil gegen hef­ti­ge Schmerzen, dafür mit rie­si­gem Suchtpotenzial. Die gefähr­li­che Droge wur­de Hunderttausenden SchmerzpatientInnen ver­schrie­ben, die kei­ne Ahnung davon hat­ten, dass sie mit OxyContin innert kür­ze­ster Zeit zum Junkie mutie­ren wür­den. Verteilt wur­de der Shit eben durch huma­no­ide Werbekampagnen auf Stöckelschuhen. Purdue Pharma, Produzent von OxyContin, belie­fer­te die Zulassungsbehörden mit Werbung, gefälsch­ten Studien und dem Versprechen, «der Menschheit die Schmerzen zu neh­men». So wur­de OxyContin FDA-geprüft, von Tausenden von Ärztinnen und Ärzten den PatientInnen ver­schrie­ben mit dem Versprechen, kei­ne Nebenwirkungen auf­zu­wei­sen. Studien, Peer-Reviews und Statistiken? Fehlanzeige. Lehrerinnen, Automechaniker, Sozialarbeiter, mitt­le­re Bankangestellte, VerkäuferInnen krieg­ten die Droge bei Kopfschmerzen, Periodenbeschwerden, bei Rücken und ähn­li­chem Befund ver­schrie­ben, und zwar in Dosen, die jeden Junkie in den geil­sten Trip sei­nes Lebens führ­ten. Die Patienten und Patientinnen fühl­ten sich vital, waren wie im Rausch, und vie­le Langzeitschmerzen ver­schwan­den über Nacht. Das Problem? Wurde OxyContin abge­setzt, mel­de­ten sich die Ursprungsschmerzen inklu­si­ve uner­träg­li­cher Magen- und Gliederschmerzen zurück sowie fürch­ter­li­che Angstzustände. Wer ein­mal OxyContin über eine Woche ein­ge­nom­men hat­te, konn­te ohne die­ses nicht mehr leben, und die Dosis muss­te regel­mäs­sig erhöht wer­den.

Als die Probleme in den Arztpraxen began­nen, weil die ver­schrie­be­nen Dosen immer höher wur­den, zogen vie­le Ärztinnen, Apotheker und PharmazeutInnen die Reissleine: «No more drugs for that par­ti­cu­lar pati­ent.» Es folg­te der Run auf die Strasse. Ganz nor­ma­le Menschen ver­wan­del­ten sich qua­si über Nacht in para­no­ide Addicts, die alles taten, nur um an den Stoff zu kom­men. Sie ver­lies­sen ihre Familien, sie bestah­len ihre Liebsten, sie schlu­gen sich mit ihren Nachbarn, sie prü­gel­ten ihre Kinder und Schlimmeres. Eher frü­her als spä­ter lan­de­te der bedau­erns­wer­te Menschen-Pharmamüll, ehe­mals lie­be­vol­le Väter, Mütter, Schwestern, Brüder, Freundinnen, Kinder im Teenage-Alter, in den Leichenhäusern. Definiert wur­de der Tod meist als «Overdose», und zwar nicht mit OxyContin, son­dern mit Fetanyl. Fetanyl wirkt 50-mal stär­ker als Heroin und 100-mal stär­ker als Morphium. Fetanyl ist syn­the­tisch leicht her­stell­bar, wird mil­lio­nen­fach in chi­ne­si­schen Labors pro­du­ziert und ist viel bil­li­ger als Heroin. Bereits klein­ste Mengen des Wirkstoffs kön­nen zu einer Überdosis füh­ren. Fetanyl ist im Vergleich zu Crack wie mein Espresso gegen­über zehn Linien Koks aufs Mal. Trotz unzäh­li­gen Berichten von Polizei, Hausärzten und betrof­fe­nen Familien wur­de OxyContin wei­ter­hin ver­schrie­ben. Es inter­es­sier­te sich ein­fach nie­mand für die Hunderttausenden von Toten. Sie waren Süchtige und des­halb ganz allein ver­ant­wort­lich für ihr beschis­se­nes Leben.

In Europa hör­ten wir lan­ge nichts von OxyContin, zumal die Droge die weis­se Mittelschicht in den USA betraf, die nun wirk­lich kei­nen aus Forschung und Medien vom Hocker riss: I mean, wer will schon von ver­damm­ten Junkies im Mittleren Westen des «Bible-Belt» etwas hören oder, Göttin bewah­re, Mitleid mit ihnen krie­gen? Wir haben doch wirk­lich ande­re Probleme, right?

Niemand dach­te dar­an, dass Heroin in Pillenform kei­ne gute Idee ist. Und dann kam Nan Goldin. Welch eine Frau!

Am 9. Februar 2019 liess Nan Goldin im Guggenheim-Museum in New York Fake-Rezepte für OxyContin auf die Besucher und Besucherinnen reg­nen. Die ver­blüff­ten Kunstinteressierten erfuh­ren so von der Zerstörung von Menschenleben durch OxyContin. Nan Goldin hat­te sich als lei­den­schaft­li­che Fotografin in der Queer- und Drogenszene der 1970er- und 1980er-Jahre einen Namen gemacht. Sie wur­de nach einer Operation sel­ber abhän­gig von OxyContin. Sie rea­li­sier­te, dass die Justiz gegen die Purdue Pharma, die im Besitz der Familie Sackler und damit der gröss­ten Kunstsponsoren unse­rer Zeit war, eine äus­serst schwa­che Waffe war. Die Sacklers muss­te man dort krie­gen, wo es sie schmerz­te: in den Museen. Mit einer klei­nen Gruppe von Verschworenen orga­ni­sier­te Nan Goldin vie­le effek­ti­ve Kunstaktionen: Flugblätter, Fake-Rezepte und soge­nann­te «Die-ins» auf den Treppen zu den Museen. Jede Woche tauch­ten Nan Goldin und ihre AktivistInnen mit Kunst-Happenings auf: Die Sacklers, die Opioidkrise in den USA und das Whitewashing durch Kunst- und Wissenschaftssponsoring waren plötz­lich in aller Munde.

Die «Die-ins» waren beson­ders erschüt­ternd und natür­lich in Analogie zu den exklu­si­ven «Dine-ins» bspw. im Louvre in Paris, in der V&A in London, im Metropolitan Museum in N. Y. kon­zi­piert. Wir alle wuss­ten vor Nan Goldins Aktionen nichts von der engen Kooperation zwi­schen Drogenproduzent und Kunstmarkt. Mit 10,8 Milliarden Dollar Vermögen lie­gen die Sacklers auf Platz 30 der reich­sten Familien der USA («Forbes» aus dem Jahr 2020). Die Tate Modern bspw. hat­te einen eige­nen «Sackler-Wing» und brauch­te bis 2022, bis sie sich end­lich von die­sem Namen trenn­te. Das British Museum behält bis zur Abgabe des Artikels die Mesopotamien-Gallery als die «The Raymond and Beverly Sackler Rooms». Es gibt auch immer noch das «Sackler Center for Feminist Art» in Brooklyn, weil die­ses lan­ge vor OxyContin errich­tet und gespons­ort wur­de.

Nan Goldins Aktivismus war erfolg­reich und bleibt weg­wei­send für die Politik unse­rer Zeit: Ohne die Installationen von P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now) wären das ande­re Storytelling zur Opioidkrise sowie die wirk­lich Verantwortlichen nie bekannt wor­den. Die Oscarpreisträgerin Laura Poitras hat mit «All the Beauty and the Bloodshed» Nan Goldin sowie die Geschichte rund um das drecki­ge Kunstagieren der Sacklers fil­misch doku­men­tiert.

Das gesell­schaft­li­che Ansehen der Sacklers ist vor­bei, doch die Schuld noch lan­ge nicht begli­chen. Die Sacklers konn­ten sich mit meh­re­ren Milliarden u. a. für Drogenprävention frei­kau­fen; Purdue Pharma hat die Insolvenz bean­tragt, die Familie hat im Agreement ver­si­chert gekriegt, dass sie in Zukunft nicht mehr ver­klagt wer­den kann. Ob dies alles in Stein gemeis­selt ist, bleibt offen. Denn noch heu­te ster­ben in den USA täg­lich über 40 Menschen an den Folgen der Drogensucht, die mit OxyContin begann. Die Überdosis ist mitt­ler­wei­le die häu­fig­ste Todesursache bei AmerikanerInnen unter 50 Jahren. Und ich ver­mu­te: Storys wie die der Sacklers gibt es noch bei ande­ren Superreichen – helft end­lich mit, die­se zu erzäh­len.

DVD All the Beauty and Bloodshed. Dokumentation von Laura Poitras über Nan Goldin.
 
Netflix: Painkiller. Das Angebot schuf erst die Nachfrage – sehr sehens­wer­te Netflixserie.
 
Patrick Radden Keefe, Imperium der Schmerzen: Wie eine Familiendynastie die welt­wei­te Opioidkrise aus­lö­ste. Hanserblau, München 2022.
 

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