Codes, Taliban und Sprechakte: Otto-Brenner-Studie & neu­es Afghanistan-Buch

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Von Regula Stämpfli - Diesmal rei­sen wir in unse­rer Literaturbesprechung von Deutschland nach Afghanistan und zurück mit einem Schlenker in die Schweizer Innenpolitik. 

Inge Bell, die preis­ge­krön­te Journalistin und zwei­te Vorsitzende von Terre des Femmes Deutschland, dem Verband, der sich gegen alle Widerstände für Frauenrechte, Gleichberechtigung und Freiheit für alle Frauen welt­weit ein­setzt, wur­de von Twitter über drei Wochen gesperrt. Weshalb? Weil eine Handvoll gut orga­ni­sier­ter Antidemokrat*innen die Frauenrechtlerin Inge Bell – wie die Misogynen anno dazu­mal –zum Verstummen brin­gen woll­te. Die «Verbrechen» Bells bestehen aus der Sicht der neu­en Totalitären dar­in, «Sexarbeit» als  «Menschenfleischarbeit» (Begriff laStaempfli) zu ent­lar­ven, im «Hidschab» nichts «Hippes» zu sehen, wie dies das Schweizer Fernsehen tut (Beitrag vom 21.9.2021), und wei­ter­hin von «Frauen» und nicht von «Menschen mit klei­ne­rer Harnröhre» zu spre­chen. Inge Bell hat von rechts und links schon unzäh­li­ge Drohungen gegen Leib und Leben gekriegt und vie­le Verfahren gewon­nen. Dennoch wur­de sie von Twitter drei Wochen gesperrt. Spannend ist, dass aus­schliess­lich Frauen von den tota­li­tä­ren Aktivist*innen ein­zeln her­aus­ge­pickt, iso­liert und mit Bots attackiert wer­den. Männer, vor allem die Rechtsextremen, die Mächtigen, die Gefährlichen, da über viel Kapital für juri­sti­sche Klagen ver­fü­gend, wer­den von den * nicht ver­folgt. Der Kampf um Deutungshoheit von links dreht sich nicht um Inhalte, son­dern dar­um, pro­mi­nen­te Frauen und schlicht Frauen ein­zu­schüch­tern, zu mob­ben, deren Karriere zu beschä­di­gen, sie womög­lich in den finan­zi­el­len und kör­per­li­chen Ruin zu trei­ben.

Was sich auf Twitter gegen Frauen und dann in der Realität abspielt, küm­mert die Männer nicht. Es geht ja «nur» um Frauen.

Im Westen ist Twitter das stärk­ste Tool von radi­ka­len, links- und rechts­extre­men Menschenrechtsfeinden gegen Demokratie, Frauenrechte und Rechtsstaat gewor­den. Die Anonymität garan­tiert dem Mob mit Twitter-Meldungen oft gros­sen Erfolg. Medien lie­ben Streit, Skandal, Shitstorms, Trends und Hashtags. Sie fol­gen ihnen wie läu­fi­ge Hunde ihren Instinkten. Somit pushen sie zusätz­lich die Twitter-Gaunerbanden woke und rechts.

«Journalismus in sozia­len Netzwerken» fokus­siert nicht auf Information, son­dern auf Klicks. Die Otto-Brenner-Stiftung hat erst kürz­lich dazu eine pro­mi­nen­te Studie publi­ziert. Ich lese dar­aus: Algorithmen ken­nen kei­ne Vernunft, kei­ne Anti-Vernunft, sie sind nihi­li­stisch auf Empörung pro­gram­miert, die sich mil­lio­nen­fach repe­tiert. Verbinden sich Codes mit der in der Gesellschaft struk­tu­rell vor­han­de­nen Misogynie, mit dem Antisemitismus und anti­de­mo­kra­ti­scher Empörung, gibt es kein Aufhalten der auto­ma­ti­sier­ten Prozesse mehr. «Optimierter Journalismus» nennt sich dies modern. Es ist ein Oxymoron für die Abschaffung demo­kra­ti­scher Information zwecks Partizipation. Journalismus für sozia­le Netzwerke zu machen birgt in sich die struk­tu­rel­le Zerstörung demo­kra­ti­scher Werte. Dies, weil die kom­mer­zi­el­len Plattform-Logiken nicht der Information, son­dern der Plattform-Dauer die­nen. Wer jour­na­li­sti­sche Beiträge «platt­for­mi­siert», struk­tu­riert mit­tels Codes nur die Distribution, nicht die Information.

So – mei­ne These aus dem Gelesenen – ent­steht das «Anything Goes»-Prinzip der zufäl­li­gen Codierungen mit absurd anti­de­mo­kra­ti­schem Exzess: Frauen sind in der codier­ten, post­ko­lo­nia­len und femi­ni­sti­schen Welt inexi­stent, der Handel mit Menschenfleisch in der Prostitution ein Geschäft wie jedes ande­re (SRF 29.1.2021). Der Hidschab ist hip (SRF 21.9.2021), Leihmutterschaft ein Geschenk (SRF 2.5.2022), Genitalverstümmelung bei Frauen eine «Beschneidung» (Plan W der SZ vom 4.2.2022) und die Eizellenspende (ein mas­si­ver gesund­heit­li­cher Eingriff mit hoher Wahrscheinlichkeit einer dar­aus fol­gen­den Unfruchtbarkeit) mit der männ­li­chen Samenspende ver­gleich­bar (SRF 17.3.2022).

Die mensch­li­che Erfahrung, so Hannah Arendt, wer­de in tota­li­tä­ren Sprechakten ver­neint und ver­nich­tet. Es wür­den, Arendt im Totalitarismus-Buch wei­ter, stän­dig «Siege auf Kosten der Wirklichkeit» errun­gen. Wirklichkeiten, die Menschen unter­ein­an­der bespre­chen müss­ten, dies aber in tota­li­tä­ren Systemen nicht könn­ten, da Sprechakte, Ideologien und all­um­fas­sen­de Verhaltensregeln zugun­sten der «Harmonie, des Fortschritts, der Volksgemeinschaft etc.» zen­tra­li­siert sei­en.

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Wir rei­sen ein paar Tausend Kilometer öst­lich nach Afghanistan. 1996 bis 2001 herrsch­te dort das Emirat der Taliban. Sie setz­ten die Scharia mit öffent­li­chen Hinrichtungen, Auspeitschungen und Amputationen durch. Zwanzig Jahre spä­ter sind sie wie­der am Ruder. Dank einer unglück­se­li­gen Koalition rech­ter und lin­ker Geostrategen wur­de Afghanistan im Sommer 2021 dem völ­li­gen Chaos und wie­der­um den Taliban über­las­sen. Die Folge ist sicht­bar: Seitdem sind die Bärte wie­der lang, Musik ver­bo­ten, Frauenstimmen am Radio ver­bo­ten, Schauspielerinnen ver­bo­ten, Frauen ins­ge­samt ver­bo­ten – es darf sie nicht mehr sicht­bar geben.

Wie dies gesche­hen konn­te, dar­über berich­tet Natalie Amiri in ihrem Buch «Afghanistan. Unbesiegter Verlierer». Ihr Bericht ist erschüt­ternd, mani­fe­stiert gleich­zei­tig die unpo­li­ti­sche Haltung vie­ler Journalisten in Bezug auf Afghanistan. Deshalb blei­ben Themen wie Digitalisierung, glo­ba­le Islamisierung und west­li­che Mediennarrative unter­kom­plex im Buch. Zwar ver­sucht Natalie Amiri, das Versagen west­li­cher Medien zwi­schen den Zeilen zu for­mu­lie­ren. Doch sie ist sel­ber zu sehr im Kriegs- und Medienmodus, wenn sie Kritik zu for­mu­lie­ren ver­sucht. In Afghanistan – wel­cher Hohn und wie bit­ter – wur­de das Vielfache der Marshallplan-Hilfe für das besieg­te Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ver­locht. Die Milliarden lan­de­ten in den Taschen kor­rup­ter Afghani, Saudi-Araber, Katari, der Eliten in den Emiraten sowie in den Börsen der Hamas, teils auch im Iran und – hor­ri­bi­le dic­tu – im IS-Staat.

«Die Taliban haben auch den Informationskrieg gewon­nen. Als die Taliban das letz­te Mal in Afghanistan regier­ten, gab es noch kein Facebook. Seit 2015 sind die Taliban bei WhatsApp und Telegram. 2017 haben sie ange­fan­gen, Propagandavideos nach dem Vorbild der Terrororganisation Islamischer Staat zu ver­öf­fent­li­chen.» (S.184) Dadurch set­zen selbst die Taliban auf west­li­ches Storytelling wie «kul­tu­rel­le Eigenheit», «Erfahrung», «Identität» und bau­en auf gras­sie­ren­den Antisemitismus – in Solidarität mit den rechts­extre­men und links­extre­men Szenen Europas und in den USA. «Wenn du dich jemals nutz­los fühlst, dann erin­ne­re dich dar­an, dass es zwan­zig Jahre brauch­te, Billionen von Dollars und vier US-Präsidenten, um die Taliban durch die Taliban zu erset­zen.» Dies ist das bit­te­re Fazit, das Amiri gleich zu Beginn ihres Buches zieht. Deshalb hat die Schweizer Politikerin Marianne Binder eine der klüg­sten Interpellationen zu Afghanistan in der letz­ten Sommersession plat­ziert. Sie will näm­lich vom Bundesrat wis­sen, was in aller Welt eigent­lich mit den Millionen Franken Hilfe pas­siert ist, die in den letz­ten zwan­zig Jahren nach Afghanistan geflos­sen sind. Darüber hin­aus will sie sicher­stel­len, dass jede zusätz­li­che Hilfe an Afghanistan unter kei­nen Umständen in die Hände der Taliban fällt. (16.6.2022 Ratsbetrieb Parlament)

Literatur:
#HannahArendtLectures von Regula Stämpfli an der HSG sie­he
www.hannaharendt.eu

Otto-Brenner-Stiftung, Journalismus in sozia­len Netzwerken. ARD und ZDF im Bann der Algorithmen? Siehe www.otto-brenner-stiftung.de/fileadmin/user_data/stiftung/02_Wissenschaftsportal/03_Publikationen/AH110_OERM_Soziale_Netzwerke.pdf

Natalie Amiri: Afghanistan. Unbesiegter Verlierer. Aufbau-Verlag.

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