Von Sandro Wiedmer – Das Neuchâtel International Festival du Film Fantastique wächst und wächst, und schliesst auch dieses Jahr wieder mit einem neuen Publikums-Rekord: 33 000 Leute, das sind rund 2 000 mehr als letztes Jahr, sahen sich in fünf Kino-Sälen während neun Tagen Filme aus dem Angebot von 80 Langspielfilmen und 28 Kurzfilmen an, nahmen an Workshops und Symposien teil, wohnten Vorträgen und Konferenzen bei.
Dabei darf gesagt werden, dass den Verantwortlichen der Erfolg nicht in den Kopf gestiegen ist: das Festival lebt ausschliesslich von der Liebe zum Kino, kommt schlicht und unprätentiös daher wie seit seiner Gründung im Jahr 2000. Damals stand H.R. Giger Pate, welcher auch den Hauptpreis des NIFFF, den «Narcisse» gestaltet hat. Die diesjährige Ausgabe gedachte dem am 12. Mai verstorbenen Künstler mit einer kleinen Filmreihe mit Werken von ihm und über ihn. Ein weiterer Tribut wurde dieses Jahr Kevin Smith mit einer Retrospektive zuteil, Ikone des Independent Cinema Amerikas, der auch zu den geladenen Gästen zählte. Im Rahmen der «New Worlds of Fantasy» war zudem George R.R. Martin als Ehrengast in Neuenburg, der «Amerikanische Tolkien», Autor von «Songs of Fire and Ice», der Vorlage für die Fernsehserie «Game of Thrones». Beide Gäste stellten sich den Fragen des Publikums, wobei der redegewandte Kevin Smith (a.k.a. Silent Bob aus seinen «Clerks»-Filmen) kaum Fragen brauchte, um für Unterhaltung zu sorgen. George R.R. Martin sprach über die Quellen seiner Inspiration und über seine Arbeitsprozesse als Schriftsteller. Als Neuheit stehen beide Veranstaltungen, die Schluss-Zeremonie mit der Preisverleihung, und Interviews mit den anwesenden Regisseuren als Live-Stream auf der Homepage des Festivals zur Verfügung (www.nifff.ch).
Wer gerne Filme aus Asien hat, ist dieses Jahr gut bedient gewesen. Neben dem Wettbewerb für den besten Asiatischen Film, «New Cinema from Asia», hat das NIFFF, aus Anlass des 150. Jubiläums der Unterzeichnung des Freundschafts- und Handelsvertrags zwischen der Schweiz und Japan unter der Federführung des Neuenburgers Aimé Humbert mit dem Musée d’Ethnographie de Neuchâtel zusammengespannt: während das Museum mit der Ausstellung «Imagine Japan» die zentralen Elemente aus Humberts Buch «Le Japon Illustré» aufnimmt und zeigt, wie viel dieses Werk zur westlichen Wahrnehmung Japans beigetragen hat, widmete das NIFFF unter dem Titel «Le Japon Imaginaire» eine Filmreihe dem aktuellen Filmschaffen Japans, welches in allen Bereichen des fantastischen Films die das Festival beinhaltet viel zu bieten hat. Gleichzeitig verschaffte die Serie tiefe Einblicke in diese uns eher fremde Gesellschaft. So lernten wir zum Beispiel, dass es im Land der aufgehenden Sonne einen Trend gibt mit Filmen, welche reale Ereignisse aufgreifen von erzürnten Eltern, die Lehrpersonal gewalttätig attackieren weil ihr Kind schlechte Noten bekommen hat. Oder wir sehen die Beziehungsprobleme hinter den Kulissen einer Show mit Namen «Girl’s Blood», welche in verschiedenen Martial Arts trainierte Frauen auf der Bühne in mehr oder weniger inszenierten Kämpfen aufeinander losgehen lässt. Und natürlich dürfen die Animes nicht fehlen, die zeigen, warum Mangas und Animationsfilme in Japan durchaus nicht nur für Kinder gedacht sind.
Im internationalen Wettbewerb war zudem ein neues Werk des regelmässig vertretenen Japaners Takashi Miike zu sehen, «The Mole Song – Undercover Agent Reiji», eine adaptierte Manga-Geschichte um einen in einen Yakuza-Clan eingeschleusten Polizisten, mit welcher sich der unermüdlich arbeitende Regisseur in der Ausstattung, den Kostümen und der Inszenierung wieder einmal freien Lauf gelassen und einen grimmigen, aber höchst vergnüglichen Thriller abgeliefert hat. Zu Recht hat er damit den Preis «Imaging the Future» für das beste Produktions-Design gewonnen. Mit dem Preis der «International Competition», dem «Narcisse» ausgezeichnet wurde dieses Jahr «Housebound» von Gerard Johnstone, eine Horror-Komödie aus Neuseeland. Eine junge Kleinkriminelle wird nach einem missglückten Delikt zu Hausarrest im Haus ihrer Mutter verdammt, in welchem diese übel gesinnte Geister wahrzunehmen scheint. Mit der an ein mit einem Fluch belegtes Haus mittels elektronischer Fussfessel gebundenen Protagonistin beweist der Regisseur in einer wohltemperierten Mixtur aus Komödie, Schock-Effekten und Gesellschafts-Studie, dass dem Motiv des «Haunted House» durchaus noch neue Seiten abzugewinnen sind. Die Konkurrenz um den «Narcisse» war stark. Mit dem «Mélies d’Or» für den besten europäischen Film wurde «Blind» von Eskil Vogt ausgezeichnet, die Geschichte um eine erblindete Frau, deren Welt zunehmend von ihren Fantasien durchdrungen wird. Die erste eigenständige Regie-Arbeit des Norwegers für einen Spielfilm zeichnet sich aus durch die Einfühlsamkeit und Vielschichtigkeit, mit welcher die Tragödie der Hauptdarstellerin nicht ohne verhaltenen Humor dargestellt wird. Den «Prix RTS du Publique», den Publikumspreis, welcher dem Film einen Platz im Programm der «Midnight Movies» des Fernsehens der welschen Schweiz beschert, hat «What We Do In The Shadows» gewonnen, das Werk der Macher der irrwitzigen Fernseh-Serie «The Flight Of The Conchords» aus Neuseeland. Hier haben Jemaine Clement und Taika Waititi einen Mockumentary inszeniert, in welchem eine Film-Crew die Nächte einer Wohngemeinschaft von Vampiren aus verschiedenen Zeitaltern begleitet, in welcher niemand den Abwasch tätigen will.
Mit dem Preis für den besten Film aus Asien, der an «Yasmine: The Final Fist» der Regisseurin Siti Kamaluddin ging, honorierte die Jury den ersten Film aus dem streng islamischen Sultanat Brunei, der seit fünfzig Jahren dort realisiert wurde – nach dem im letzten, in den 60er-Jahren gedrehten, vom Ministerium für Religion produzierten Streifen der Bevölkerung eingeimpft worden war, wie gutes Verhalten auszusehen hat. Der erste Martial-Arts Streifen überhaupt, der im Kleinstaat Brunei gedreht wurde, ist denn auch unter Mithilfe aus Indonesien entstanden. Für die Inszenierung der Kampf-Sequenzen wurde zudem Chan Man-Ching herbeigezogen, der durch seine Choreografien für die Filme von Jackie Chan Bekanntheit erlangt hat. Auch im asiatischen Wettbewerb war die Konkurrenz gross. Nicht zuletzt galt es anzutreten gegen einen Film just aus Indonesien, «The Raid 2 – Berandal» des in Wales geborenen, nach Indonesien ausgewanderten Gareth Evans, welcher schon mit dem Action-Kracher «The Raid – Redemption» (2011) für Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Mit dem Helden Rama aus dem Vorgänger, welcher nun in den mächtigsten indonesischen Mafia-Clan eingeschleust wird, wo er sich gleichzeitig mit korrupten Polizisten und einem Ableger der japanischen Yakuza anlegen muss, schafft Evans einen Action-Thriller mit epischen Dimensionen, der sich an Klassikern von Coppola und Scorsese orientiert, gleichzeitig aber ein Feuerwerk an Action entzündet, welches seinesgleichen sucht, darin enthalten eine spektakuläre Auto-Verfolgungsjagd, die in die Geschichte eingehen wird. Wir dürfen gespannt sein, ob das zweieinhalbstündige Werk zu den wenigen im Rahmen des Festivals gezeigten Filmen gehören wird, die hierzulande einen Verleih finden. (Nachtrag: es wird! Filmstart: 14. August).
Gerade einmal für drei Filme waren die Vorstellungen am NIFFF Vorpremieren, ist der Kinostart für die Schweiz bereits geplant. Der Eröffnungsfilm, «The Zero Theorem» von Terry Gilliam, wird im November zu sehen sein. Schon 2005 mit «Tideland» Ehrengast des Festivals, liess Gilliam das Publikum in einer Video-Botschaft wissen, dass er und Autor Pat Rushin vor über zehn Jahren «The Zero Theorem» als Science Fiction-Film angelegt hätten, inzwischen habe jedoch die Realität aufgeholt. Der kahl geschorene Christoph Walz spielt darin einen Computer-Hacker, der im Auftrag eines Konzern-Managements den mathematischen Beweis erbringen soll, dass die Addition von allem schlussendlich nichts, die vollkommene Leere ergibt: das Chaos als das ideale Geschäftsmodell, den Menschen die dagegen anzuführenden Ordnungsprinzipien zu verkaufen. An «Brazil» (1985) anknüpfend wird die Geschichte in opulenten, dem Retro-Futurismus huldigenden Dekors erzählt. In Gast-Auftritten sind unter anderen David Thewlis, Tilda Swinton und Matt Damon zu sehen. Im September wird «Calvary» von John Michael McDonagh in die Kinos kommen. Nach seiner ersten Regiearbeit für «The Guard» (2011) arbeitete McDonagh auch hier wieder mit Brendan Gleeson zusammen, welcher in der Thriller-Komödie den schlitzohrigen irischen Cop verkörpert hatte. Hier gibt er den gutherzigen Priester Father James Lavelle, dem im Beichtstuhl angekündigt wird, dass er am nächsten Sonntag umgebracht werden soll: Der Beichtende wurde als Kind von einem Kirchenvater missbraucht; da dieser jedoch längst gestorben ist, sieht er nach einer verdrehten Logik den Mord an einem guten, allseits beliebten Priester als einzigen Weg, die Missetat zu sühnen. Der Name des fiktiven Kaffs in Irland, das dem Film den Namen gibt, verweist unzweideutig auf den Kalvarienberg, die letzten Tage vor seinem angekündigten Tod werden für den Priester zum Passionsweg. Im Gegensatz zu «The Guard» tritt hier der Humor eher in den Hintergrund, statt dessen findet eine feinfühlige, zutiefst menschliche Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche und ihrem unauslöschlichen Einfluss auf die Geschichte Irlands statt. Bereits im August wird «Under the Skin» von Jonathan Glazer gezeigt, die dritte Spielfilm-Arbeit des Briten, der zuvor vor allem Werbefilme und Musik-Videos, unter anderen für Massive Attack, Radiohead und Nick Cave & The Bad Seeds gedreht hatte, bevor er mit «Sexy Beast» (2000) sein Kino-Debut gab. Mit spärlichen Dialogen, in langen Einstellungen und kühlen Bildern verfolgen wir die Aktivitäten von Scarlett Johansson, welche als Alien in Menschengestalt mittels ihrer Verführungskünste reihenweise Männer in ein nicht näher definiertes Jenseits befördert, buchstäblich verschwinden lässt. Der an verschiedenen Festivals kontrovers aufgenommene, in Schottland gedrehte Film lebt, mit erlesener Fotografie, unterlegt von einem beunruhigenden Soundtrack, vor allem von Stimmungen – eine Art Meditation über Liebe, Sex und Einsamkeit.
Als einziges Festival der Schweiz für den Genre-Film, mit einer Ausstrahlung, die mittlerweile weit über die Landesgrenzen hinaus reicht, hat das NIFFF auch dieses Jahr wieder den Beweis erbracht, dass die oft mit geringen Budgets gedrehten, unabhängigen Produktionen Themen aufgreifen, an die sich die grossen Studios kaum je wagen würden, zum Teil in einer innovativen Filmsprache, die als Zumutung an das Publikum eingeschätzt wird. Dass es in dieser Hinsicht immer wieder Perlen zu entdecken gibt, ist sicherlich auch der wie immer umsichtigen Programm-gestaltung zu verdanken, einer der Qualitäten des Festivals. So gab es dieses Jahr zum Beispiel «White God» zu sehen, den Film aus Ungarn von Kornél Mundruczó, der in einzigartiger Weise anhand der Beziehung zwischen Menschen und ihrem treuesten Begleiter, dem Hund, eine Parabel schafft zu Rassismus und Fremdenhass, die unter die Haut geht. Oder «La Santa» des Italieners Cosimo Alemà, der ein Quartett von Kleinkriminellen in ein kleines Städtchen in Süditalien verschlägt, in dem jeder Fremde auffällt, um die Statuette der Orts-Heiligen zu stehlen, worauf die Bewohner des Ortes zum Lynch-Mob mutieren. Der australische Film «These Final Hours» von Zak Hildich thematisiert die Bedrohung der Menschheit durch eine nicht näher beschriebene Katastrophe, schildert die unterschwellige Barbarei, die eine dem Untergang geweihte Gesellschaft unter der dünnen Oberfläche der Zivilisation zum Vorschein treten lässt, von der exzessiven letzten Party über Vergewaltigung und Mord bis zum Selbstmord.
Dann gibt es natürlich auch immer wieder die für das Festival typischen Filme, welche mit weniger Sinn beladen sind, zur Unterhaltung dienen, meist in der Sektion «Ultra Movies» untergebracht und nach Mitternacht zu sehen. Dieses Jahr etwa «Død Snø 2 – Red vs. Dead» des Norwegers Tommy Wirkola, die mit Spannung erwartete Fortsetzung von «Død Snø» (2009), in welcher wiederum Nazi-Zombies ihr Unwesen treiben. Oder «Wolfcop» des Kanadiers Lowell Dean, worin ein Polizist zum Werwolf mutiert, was ihn jedoch nicht daran hindert, seine Rolle als Gesetzeshüter wahrzunehmen: allenfalls hilft seine furchterregende Gestalt bei der Verbrecherjagd. Völlig abgedreht geht es auch in «Zombeavers» des Amerikaners Jordan Rubin zu und her, dessen Titel Programm ist. Die untoten Nagetiere sind so billig gemacht, der Streifen nimmt sich so wenig Ernst dass es eine reine Freude ist. Das sind die Gelegenheiten, da das Publikum jeweils lautstark mitfeiert, die Toten Leben in die Bude bringen. Auch das ist das NIFFF!
Bild: «Blind» von Eskil Vogt, 2014, zVg.
Publiziert: ensuite Nr. 140, August 2014





