Sexistische Werkzeugkiste: Auslassung und Gewalt

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Von Dr. Regula Stämpfli - Die digi­ta­len Revolutionen signi­fi­zie­ren mehr als Technik und bewir­ken weni­ger Demokratie, Gleichstellung, Freiheit. Der Sound der Gegenwart ist bestimmt durch media­le Dauerbespielung von Männerselfies, Attentaten, Amokläufen, Hate-Parolen, die als Klickmaschinen Cash rein­schwem­men. Dies sind expli­zit männ­li­che Phänomene – wes­halb? Je abstrak­ter die Welt wird, umso grös­ser nicht nur die Herrschaft der Zeichen, son­dern auch der Männer: Zeichen und Zeicheneigner ver­fü­gen, defi­nie­ren, ver­mes­sen, kate­go­ri­sie­ren Lebewesen. Dagegen weh­ren sich die den Zeichen unter­wor­fe­nen Männer mit Gewalt, die den Zeichen unter­wor­fe­nen Frauen mit Anpassung. Die Herrschaft der abstrak­ten Zeichen über die leben­de Welt ver­wan­delt alle Lebewesen in Datenpakete: Die Reaktionen dar­auf sind geschlechts­spe­zi­fisch. Deshalb ist Sichtbarkeit so ein gros­ses Thema der Gegenwart: Nur Unsichtbare wer­den gera­ted, auto­ma­ti­siert, frem­de­fi­niert, kor­re­liert, auto­com­ple­men­tiert.

Kluge Frauen haben dies schon längst erkannt: Amy Webb, Maja Göpel, Shoshana Zuboff, Regula Stämpfli, Hedwig Richter, Leslie Kern, Christina von Braun, um nur eini­ge Namen zu nen­nen. Sie feh­len indes­sen oft, wenn es um die gros­sen Themen geht. Julia Karnick hat mal bei den Medien nach­ge­zählt: Von 45 Kolumnen, die regel­mäs­sig und von der glei­chen Person ver­fasst wer­den, stam­men in Deutschland 35 von Männern, 8 von Frauen. Rund 78 Prozent der Print-Kolumnen stam­men also wei­ter­hin von Männern. Als eine der weni­gen Politkolumnistinnen schrieb ich in den letz­ten 20 Jahren für die BAZ, den «Tages-Anzeiger», die AZ, die «Weltwoche», «Blick am Abend», die «Annabelle», «Migroszeitung», «Kleinreport», «Coopzeitung» und das erste Onlineportal, news.ch. Jedes Mal, wenn die Chefredaktion wech­sel­te, wech­sel­ten auch die ange­stell­ten Frauen. Jaja, die Männerbünde, von denen die fabel­haft kla­re Andrea Maihofer in «50 Jahre Frauenstimmrecht» schreibt, blei­ben in der Schweiz extrem stark, selbst wenn 2020 end­lich mehr Frauen die Journalistenpreise abräum­ten als Männer. Wirklich kon­tro­ver­se Figuren wie bei den Männern, die über­all für ihren Mut, der kei­ner ist, geprie­sen wer­den, gibt es indes­sen bei Frauenratings kaum. Prominente Medienfrauen wer­den auch ger­ne und oft von ihren männ­li­chen Kollegen gemobbt. Maxim Billers Wutanfall dar­über, dass aus­ge­rech­net Lisa Eckhart ins «Literarische Quartett» ein­ge­la­den wur­de, war zwar inhalt­lich berech­tigt, doch sei­ne Abqualifikation von Thea Dorn passt in üblen Medienmännersprech. Juli Zeh wur­de mit «Unterhaltungsschriftstellerin und mani­sche Lockdown-Kritikerin» abge­watscht, die femi­ni­sti­sche Margarete Stokowski als «‹Spiegel›-Politoffizierin und Karl-Marx-Fan-Girl». Auch in der Schweiz ist ein Schuss Misogynie beim Beobachten der Beobachter eben­so gefragt wie die Kumpanei unter den Jungs. Diese beschäf­tig­ten sich übri­gens manisch mit sich sel­ber: Überall fei­er­te das Männer-Feuilleton Martin Suter und Benjamin von Stuckrad-Barre … echt jetzt? Früher war es vor allem das ster­ben­de alte Tier Mann, das sich nach jahr­zehn­te­lan­gem Geldverdienen dem eige­nen Glanz wid­me­te, um noch mehr Zaster zu schef­feln. Doch seit es kei­ne Ereignisse, son­dern nur noch Personalities gibt, zim­mern Männer mit ihren Freunden in jeder unan­stän­di­gen Pose in jedem Alter an ihrer Medienbanalität unge­straft und nach­ge­fragt wei­ter.

Dieses exklu­siv männ­li­che Phänomen, das ich schon ein­mal in der BAZ beschrieb, avant la lett­re, ver­steht sich, die­ses media­le Inszenieren erin­nert an Ödipus mit dem Unterschied, dass das Sakrileg heu­te dar­in besteht, die eige­ne Tochter oder Grosstochter zu hei­ra­ten und alle jun­gen, guten Männer umzu­brin­gen. Wohin wir gucken, sei es im Antifa-Kampf, sei es bei den Trumpisten und Gegen-Trumpisten, inner­halb der post­fe­mi­ni­sti­schen Bewegungen: Es sind Männer, die sich an ande­ren Männern rei­ben und Frauen unsicht­bar machen, dele­gi­ti­mie­ren, ver­nied­li­chen, abwer­ten.

Stichwort Rezensionen. Es sol­le, so häu­fig das Argument, bei Büchern vor­wie­gend um Qualität gehen. So fällt es nicht auf, dass beim Tonnenwerfer und Ekelzwerg Denis Scheck die von ihm ver­un­glimpf­ten Bücher ent­we­der von sei­nen Konkurrenten oder von Frauen stam­men. Die Idee, aus­ge­rech­net im Land, in dem zuerst Bücher und dann die Menschen ver­brannt wur­den, eine Literatursendung zu pfle­gen, in wel­cher Schriften in Abfallbehälter gewor­fen wer­den, ist eh sehr abwe­gig. Die Scheck-Kommentare auch: «So rich­tig die Botschaft ihres Buches sein mag, so staub­trocken ist sei­ne Schulmeisterei» (Maja Lunde); «Karin Slaughter, die mit den Gestaltungsmitteln eines Vorschulkindes quä­lend lang­wei­li­ge Bum-Bum-Literatur schreibt»; «Man tut zwar nichts für sei­ne intel­lek­tu­el­le Fitness, aber zum Ausspannen lässt sich kaum Besseres den­ken» (Isabell Allende). An Denis Scheck lässt sich noch etwas ande­res punk­to #Frauenzählen zei­gen: Mit einer der­ar­ti­gen Visage hät­te eine Frau im Fernsehen nie und nim­mer Karriere gemacht.

Was lehrt das? Bei Büchern sind längst nicht Stil, Inhalt oder Fachwissen aus­schlag­ge­bend, son­dern Netzwerk, Medienfilz und Geschlechtszugehörigkeit. Förderprogramme, Veröffentlichungen und Auftrittsmöglichkeiten sind nicht objek­tiv, son­dern mit Vitamin B, meist ver­bun­den mit Testosteron, durch­zo­gen. Wer Status, Habitus und Geschlecht ana­ly­siert, wird, wie anno dazu­mal durch den Kulturhof von Versailles, exklu­diert. Deshalb ver­lor die fabel­haf­te Elke Heidenreich auch ihre für Literatur quo­ten­stärk­ste Buchwerbung-Sendung «Lesen!». Die uni­ver­sel­len Behauptungen von Qualität, Einschaltquoten, Interesse, Wert bestär­ken wie­der und wie­der die Idee, dass Diverse, Frauen und * kei­ne wirk­li­che Kultur her­vor­brin­gen kön­nen. Deshalb domi­nie­ren zu über 70 Prozent Männerausstellungen, Kataloge, Bestsellerlisten, Exponate, Chefredaktionen etc. Nur bei anony­mi­sier­ten Verfahren wie bspw. beim Berliner Literaturwettbewerb «Open Mike» hat Diversität eine Chance: Von meh­re­ren Hundert Einsendungen wur­den vier Männer und sech­zehn Frauen gewählt. Ein anony­mi­sier­tes Vorauswahlverfahren gab es auch bei den Hamburger Literaturpreisen, da gin­gen die Preise plötz­lich an neun Frauen und zwei Männer. «Das kann pas­sie­ren, wenn man das mit der Qualität ein­mal ernst nimmt», meint Nicole Seifert vom Nachtundtagblog.
Erst die digi­ta­len Medien haben ermög­licht, dass durch enga­giert betrie­be­ne Hashtags, Podcasts und Initiativen wie #ProQuote, #Frauenzählen, #Vorschauenzählen, #Frauenlesen die unsicht­bar gemach­ten Frauen end­lich Thema wur­den. Die Gegenreaktion ist eben­so spür­bar und fällt unter den gen­der­neu­tra­len Begriff «Hass im Netz», der sich jedoch in erster Linie gegen Frauen rich­tet. Auch wenn Frauen wie­der­ent­deckt wer­den, blei­ben sie ver­ges­sen, denn sie wer­den viel zu wenig neu ver­legt. Die Schriften der ein­zig­ar­ti­gen Johanna Schopenhauer bei­spiels­wei­se, der gros­sen Schriftstellerin und Philosophin ihrer Zeit, sind nur schwer erhält­lich. Ebenso pro­ble­ma­tisch ist es, Luce Irigaray, Mary Daly, Beatrix Mesmer, Heide Göttner-Abendroth, Gerda Lerner, um nur eini­ge zu nen­nen, zu bestel­len. Nicht nur sind die Werke teil­wei­se ver­grif­fen, son­dern sie kosten auch viel mehr, wenn sie neu greif­bar gemacht wer­den. So feh­len Frauen im Kanon, bei den Klassikern, in phi­lo­so­phi­schen Werken, in allen Geschichtsbüchern. «Geschichte von unten» nann­ten dies die Männer in den 1980er-Jahren: Allgemeingeschichte nennt dies #DiePodcastin.

Wir wis­sen dies alles schon längst, selbst die Männer unter uns. Trotzdem pas­siert wenig bis nichts, und falls doch mal ein Protest der Frauen laut wird, fül­len sich die Feuilletonseiten mit wei­ner­li­chen Texten über den von den Männern plötz­lich ver­mie­sten Sexismus-Spass. Der Ausfall von Serdar Somuncu im Podcast mit Florian Schröder vor eini­gen Monaten war in die­sem Zusammenhang nicht ein­fach ein Ausrutscher, Satire oder Kontext, son­dern bleibt Kultur-Verbrechen: Männer wol­len bei femi­ni­sti­scher Kritik nicht zuhö­ren, nicht rezi­pie­ren, sich nicht wei­ter­ent­wickeln, son­dern sie schal­ten sofort auf Gewalt.

Kürzlich mein­te eine Redaktorin einer gros­sen Schweizer Tageszeitung zu Isabel Rohner, der Co-Autorin und Co-Herausgeberin des wohl besten Sachbuchs zum Thema poli­ti­sche Partizipation in der Schweiz, «50 Jahre Frauenstimmrecht. 25 Frauen über Demokratie, Macht und Gleichberechtigung»: «Wir haben lei­der kei­ne Feminismusabteilung in unse­rem Verlag, des­halb sehen wir von einer Besprechung Ihres Buches ab.» Der Gender-Data-Gap (Caroline Criado-Perez) ist eben nicht nur ein Ärgernis, son­dern bringt Frauen über­all in den west­li­chen Demokratien zum Verstummen: Die feh­len­den Wikipedia-Beiträge zu Frauen zeu­gen davon, die übri­gens auch nicht ein­fach feh­len, weil Frauen weni­ger bei Wikipedia schrei­ben, son­dern weil sie mani­pu­liert wer­den, weil ein Heer von männ­li­chen Wikipedia-Automaten und ‑Trolls tätig sind, die regel­mäs­sig, beharr­lich, bös­ar­tig, hin­ter­häl­tig und abscheu­lich Frauenbiografien ver­fäl­schen. Mein deutsch­spra­chi­ger Wikipedia-Eintrag ist ein Paradebeispiel: Ein laStaempfli-Hasser der ersten Stunde schreibt stun­den­lan­ge Korrekturen, um den Eintrag zu mei­ner Person zu ver­ge­wal­ti­gen und bis zur Unkenntlichkeit zu bana­li­sie­ren. Zudem ist der Beitrag Persönlichkeitsverletzung pur, doch dage­gen vor­zu­ge­hen, ist ein Albtraum. Denn nicht nur die Informationen ent­wer­ten, son­dern die Auslassungen, auf die der üble und unbe­kann­te Troll beharrt.

Wikipedia zeigt übri­gens, dass Frauen von Männern nie erwar­ten kön­nen, dass die­se Frauen zitie­ren, loben, rezen­sie­ren, sich für Frauenwerke inter­es­sie­ren, an Frauenkunst wach­sen, dank Philosophinnen die Welt ver­än­dern. Nein, im Gegenteil: Männer, selbst die guten, über­las­sen die­sen Job den Frauen. Die Superquote von Frauen bei den Schweizer Journalistenpreisen 2020 kam nur zustan­de, weil seit dem Frauenstreik 2019 die Medienfrauen extrem gut ver­netzt sind. Doch dies braucht viel Energie, Kraft und Zeit: Weshalb müs­sen sich eigent­lich immer Frauen um den Sexismus der Männer küm­mern, wenn es so viel Besseres zu tun gäbe? Egal wie vie­le Studien, Berichte, Sachbücher, Kolumnen Bibliotheken zum Thema fül­len und wie weit Frauen unter­ein­an­der im Diskurs über Unsichtbarkeit und struk­tu­rel­le Gewalt der toxi­schen Männlichkeit als gestal­tungs­ge­ben­des Element unse­rer Gesellschaften fort­ge­schrit­ten sind: Die Medienberichte und Universitätsspitzen klin­gen wie vor 100 Jahren: Ist von Menschen die Rede, sind Männer gemeint. Sind Frauen gemeint, müs­sen sie dies expli­zit kenn­zeich­nen. Leistung bleibt eine Stellenqualifikation, die mit Penisträger gleich­ge­setzt wer­den kann. Ausnahmen wie das Engagement von ganz jun­gen Frauen oder ver­wandt­schaft­li­cher Machtfilz bestä­ti­gen die Regel.

Nur so ist erklär­bar, dass am 12. Dezember 2020 «Das Magazin», die Gratisbeilage des «Tages-Anzeigers», fik­ti­ve Fragen mit Antworten des von mir so hoch­ge­schätz­ten Friedrich Dürrenmatt bringt, der auf die Untervertretung der Frauen in der Philosophie – die daher rührt, dass der phi­lo­so­phi­sche Kanon Frauen syste­ma­tisch unter­drückt – fol­gen­der­mas­sen banal, platt und über­haupt nicht den Tatsachen ent­spre­chend for­mu­liert: «‹Sprechen Sie mit Frauen über Philosophie?› ‹Das Philosophieren ist doch mehr eine Sache der Männer. Es gibt ja kaum Frauen unter den Philosophen, weil Frauen ganz anders den­ken. Die Frau hat das Denken im männ­li­chen Sinne nicht nötig. Sie hat auch die Kunst viel weni­ger nötig, das Hervorbringen von Werken. Sie ist viel mehr an den Leib gebun­den, denn sie ist bio­lo­gisch der Boden. Der Mann ist doch in gewis­sem Sinne über­flüs­sig, eine unge­heu­re Verschleuderung der Natur. Das ist sein Manko, das er aus­glei­chen muss durch gei­sti­ge Arbeit.›» Echt jetzt? Im Jahr 2020? Das fik­ti­ve Interview mit Dürrenmatt war übri­gens auch im Magazin der «Süddeutschen», aber ohne die­se Frage. Kann es sein, dass die Männerbünde in der Schweiz davon aus­ge­hen, dass hier­zu­lan­de noch stär­ke­rer Sexismus gepflegt wer­den kann als im gros­sen Kanton im Norden? Dürrenmatt war ein gros­ser Dichter und ein Frauenliebhaber, doch punk­to Frauen und Philosophie per­p­etu­iert er das 19. Jahrhundert. Ein Fakt, der selbst von einem männ­li­chen Journalisten im Jahr 2020 hät­te reflek­tiert wer­den kön­nen.

Deshalb #Frauenzählen, #Frauenlesen, #Philosophinnenzählen, #VergesseneAutorinnen, #Kolumnenzählen, #Gremienzählen, #gen­der­leicht, #wil­li­pe­dia, #lehr­ka­non­zäh­len, #spea­ke­rin­nen, #prei­se­zäh­len, #dich­ter­dran, #Herstory, #frau­en­bil­der lesen und natür­lich neu im deutsch­spra­chi­gen Raum #DiePodcastin hören www.diepodcastin.de

Isabel Rohner und Irène Schäppi: «50 Jahre Frauenstimmrecht. 25 Frauen über Demokratie, Macht und Gleichberechtigung», Limmat-Verlag, Zürich 2020.

«Great Women Artists», Phaidon, September 2019.

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