Sprechendes Denken

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Von Dr. Regula Stämpfli* - Wenn es um die Sache und nicht nur um Formvorgaben, doch trotz­dem um bei­des geht: Moritz Klenk, Sprechendes Denken 2020.

Theodor W. Adorno und Hannah Arendt waren kei­ne Freunde, im Gegenteil. Dies war mit­un­ter schmerz­haf­ter Gegenstand zwi­schen Moritz Klenk und mir. Der Kulturwissenschaftler und Netzexperimentator, neu Professor an der Hochschule Mannheim in der Fakultät für Gestaltung, beglei­tet mich seit 2014. Zusammen mit Stefan M. Seydel pod­ca­ste­ten Moritz Klenk und ich, Jahre bevor die mei­sten das Konzept Podcast ver­stan­den. Und als dann alle einen Podcast hat­ten, hör­ten wir auch schon wie­der auf. Doch #1968kritik, dann #NoRadioShow waren erstaun­li­che digi­ta­le Kulturexperimente und loh­nen bis heu­te auf­merk­sa­mes Nachhören. Es war eine gei­le Zeit, die das phi­lo­so­phi­sche Ideal mit dem Tun des­sen, was man Rechenschaft zwecks Handeln nennt, zusam­men­brach­te.

Der Deutsche in Bern, die Bernerin in Deutschland, der Internetpionier in Zürich: spre­chen­des Denken zu dritt über die wich­tig­sten Themen unse­rer Zeit. Doch irgend­wann dreh­ten wir uns zu dritt im Kreis, und Moritz Klenk begann ein Selbstgespräch, das ein gan­zes Jahr dau­ern soll­te. Moritz Klenk mit Moritz Klenk. Ein gigan­ti­sches Projekt mit Wörtern, die die Gedanken erst so rich­tig in Schwung brin­gen: kein Selfie-Podcast, son­dern ein Spielen mit den unter­schied­lich­sten Experimentalsystemen. Dank dem Podcast gab es hin­ter Moritz Klenks Denken eine Stimme, die ver­dop­pel­te, was er sag­te. Das Denken fand die Worte und umge­kehrt: Michel Foucault, Roland Barthes, ja sogar Hannah Arendt hät­ten ihre gros-se Freude an Moritz Klenks Werk, ver­sucht es doch die Fiktion zu wider­le­gen, dass wirk­li­che Forschung im Internetzeitalter immer noch in geschrie­be­ner Form prä­sen­tiert wer­den muss. Nein. Moritz Klenk zeigt, dass eine expe­ri­men­tel­le Arbeit in einer kon­kret ent­wickel­ten Experimentalsystematik durch­aus Bestand hat. In allen Teilen des Podcasts der Selbstgespräche von Moritz Klenk ist auch das Denken in Bewegung: sowohl in Theorie als auch in Praxis. Ich habe im Buch unend­lich viel gelernt über Selbstgespräche in den unter­schied­li­chen wis­sen­schaft­li­chen Disziplinen wie auch als Mittel aka­de­mi­scher wie per­sön­li­cher Praxis.
Bevor Sie des­halb wei­ter­le­sen, sage ich mit Nachdruck: Lesen! Die Essays zur expe­ri­men­tel­len Kulturwissenschaft von Moritz Klenk sind suuuuper­span­nend. Doch las­sen Sie mich nun ein paar Abschnitte lang mein Unbehagen for­mu­lie­ren. Es ist ein Unbehagen, das sich aus dem Ort des Sprechenden speist. Dafür kann Moritz Klenk wenig, doch die Struktur der Akademie und deren Hierarchien spre­chen Bände und ver­die­nen es gera­de in einem der­art wich­ti­gen Werk zum spre­chen­den Denken ange­spro­chen zu wer­den.

Wäre das Experiment von Moritz Klenk, eine Dissertation über spre­chen­des Denken, deren wesent­li­che Quellen aus einem Selbstgespräch-Podcast bestehen, auch ange­nom­men wor­den, hät­te die Sprecherin Marianne Klenk und nicht Moritz Klenk geheis-sen? Denn schliess­lich ging es um das Experiment, in der Öffentlichkeit zu sich sel­ber zu spre­chen und Neues zu ent­wickeln. Moritz Klenk konn­te dies tun: Er spricht als Mann von der Position des Subjektes aus, das sich ohne Rechtfertigung zum Objekt wis­sen­schaft­li­cher Untersuchung machen kann. Einer Marianne Klenk wäre die­se Position nicht zuge­stan­den wor­den. Es ist anzu­neh­men, dass eine Marianne Klenk, selbst als Theologin und Soziologin, kei­nen Pod-cast mit Selbstgesprächen über ein Jahr füh­ren noch die­se nach einem Jahr als Dissertation hät­te vor­schla­gen wol­len, kön­nen und dür­fen. Wissenschaftlerinnen im deutsch­spra­chi­gen Raum haben kei­nen Anspruch auf eine Subjektposition, die sich sel­ber zum Forschungsobjekt machen kann. Sie sind immer Objekt. Subjekt sind Frauen nur dann, wenn sie die Männerrolle in Wissenschaft, Forschung und Experiment wah­ren. Ein ein­jäh­ri­ger Podcast mit weib­li­chen Selbstgesprächen wäre von allen, selbst von Marianne Klenk sel­ber, als Projekt unter der Rubrik Gender, Befindlichkeit, Körper, Feminismus, Frauengeschichte ver­or­tet und abge­wer­tet wor­den. Im «Literaturclub» vom 6. Oktober 2020 monie­ren die Anwesenden eines der bespro­che­nen Werke als «Frauenliteratur» und die Moderatorin expli­zier­te: «Also die unter­ste Schublade von Frauenzeitschriften.» Wie wohl eine Frau beur­teilt wür­de, die ein Jahr jeden Tag – teils über meh­re­re Stunden hin­weg – mit sich sel­ber spricht? Sprechendes Denken wird im deutsch­spra­chi­gen Raum vor­wie­gend männ­li­chen Subjekten zuge­stan­den. Frauen wer­den im aka­de­mi­schen Diskurs stän­dig auf ihren Objektstatus und Körper redu­ziert, egal wel­che Fakultät.

Diese Zeilen rich­ten sich nicht gegen Moritz Klenk, doch bei der Besprechung eines der­art weg­wei­sen­den Werkes ist es ent­schei­dend, auf die Mechanismen der Akademie, der Kulturtheorie, des digi­ta­len Wandels, der Rezeption und Produktion hin­zu­wei­sen. Selbst im Jahr 2020 sind die wich­tig­sten uni­ver­si­tä­ren Laufbahnen durch miso­gy­ne Strukturen geprägt. Die Disziplin, mit wel­cher dies immer noch geschieht, ist erschüt­ternd. Denken hat kein Geschlecht, trotz­dem wer­den alle Wissenschaftlerinnen im deutsch­spra­chi­gen Raum unter Gendertheorie ver­sorgt und damit ent­sorgt. Für die Reflexion kul­tur­wis­sen­schaft­li­cher Experimentalsysteme sind sol­che Hinweise wich­tig, da sie auf­zei­gen, wie die Vermittlung von Gegenstand und Erkenntnis in der Darstellung des Subjektortes Brüche, Unterbrüche, Abbrüche und Widersprüche pro­du­ziert. Dabei geht nicht um Reparatur, son­dern es geht immer ums Denken als Prozess.

Moritz Klenks Arbeit ist wich­tig für das Verständnis von digi­ta­ler Transformation, Verortung, Menschen- und Selbstbildern im 21. Jahrhundert. Und es hät­te ihr ange­stan­den, die Subjektthematik nach Geschlecht auch zu erör­tern. Dies emp­fin­de ich als gros­se Leerstelle. Denn noch­mals und mit Nachdruck: Eine Frau, Jahrgang 1985, mit der glei­chen Verve, Idee und dem glei­chen tech­ni­schen Geschick, wäre mit einer iden­ti­schen Arbeit über­all an Grenzen und Hindernisse gestos­sen. Sie wäre nicht ernst genom­men wor­den als Frau mit­ten in die­ser unglaub­lich domi­nan­ten Männer-Netzautoritätsstruktur. Ihr Konzept wäre als Frauenunternehmen, als Frauenvorhaben, als Frauenaktion abge­wer­tet wor­den, und die Welt wäre um eine gros­se Erkenntnis ärmer, nur weil sie eine Frau der Welt geschenkt hat. Anders wäre es viel­leicht gewe­sen, wenn es sich um eine Transfrau gehan­delt hät­te. Doch eine Frau mit Menstruationshintergund? Keine Chance. Dies kann frau nicht oft genug beto­nen, denn gera­de die Millennials haben das Gefühl, punk­to Geschlecht so viel wei­ter zu sein als ihre Mütter und Grossmütter, und sie lie­gen so grund­sätz­lich falsch wie die­je­ni­gen «Fortschrittlichen», die immer irgend­wel­chen popu­lä­ren Ideen und Heroen fre­ne­tisch zuwin­ken und ihre Mittäterschaft meist erst dann erken­nen, wenn es viel zu spät ist.
Glücklicherweise aber stimmt die Chromosomenzahl bei Moritz Klenk, und so wird sein «spre­chen­des Denken» inner­halb der «Medientheorie der Wahrheit unter Bedingungen des Internets» bei Dirk Baeker wei­ter­ge­führt. Wir alle kön­nen uns auch in Zukunft über Klenks wun­der­bar klu­ge, geschei­te und punk­to wis­sen­schaft­li­cher Literatur top infor­mier­te Aufsätze, Podcasts, Bücher und Vorträge freu­en. Vor allem auch des­halb, weil Moritz Klenk wirk­lich ver­netzt denkt und weit ent­fernt vom klas­si­schen ana­lo­gen Denken von Gut und Böse, von Boomer-Medienschelte oder gar Internetphobie ist.
Moritz Klenk ist auch einer der weni­gen Denker unse­rer Zeit, die Hans Blumenberg in- und aus­wen­dig ken­nen. Der auch Theodor W. Adorno so inter­pre­tiert, dass sich alle beim Lesen über Aha-Erlebnisse freu­en und Adorno viel bes­ser ver­ste­hen als bis­her. Bei Hannah Arendt ver­weist Klenk auf die wesent­li­che Stelle, näm­lich dass die Angst Platons, sich sel­ber zu wider­spre­chen, nicht ein­fach als Ausdruck der Hörigkeit gegen­über der Theorie inter­pre­tiert wer­den soll­te, son­dern als Bestandesaufnahme der tie­fen Vernetztheit aller Menschen, die das Denken qua­si «sozi­al» behin­dert, da Menschen ihre Eigenständigkeit fürch­ten. Ein Zwiegespräch führt alle Menschen zum Schwanken zwi­schen «Ich» und «Du». Hannah
Arendts Denken und Sprechen ist immer auf spre­chen­des Handeln ange­legt, nicht ein­fach aufs Sagen oder gar auf Meinungsaustausch, den sie mit «Image-Making» an mehr als einer Stelle lächer­lich macht. Beim kri­ti­schen Selbstgespräch geht es nicht dar­um, Rechenschaft abzu­le­gen, über das, was man tut, denn indem man es tut, braucht es kei­ne Rechenschaft mehr. Moritz Klenk kennt also die rele­van­te Literatur bestens und ergänzt sich auch mit weni­ger Bekannten höchst inno­va­tiv.

Doch in Bezug auf Hannah Arendt, wie könn­te es auch anders sein, muss ich Moritz Klenk ein Missverständnis vor­wer­fen. Redefreiheit ist nach Hannah Arendt immer an poli­ti­sche Bedingungen geknüpft, respek­ti­ve die Voraussetzung für die Freiheit ist immer die Politik. Denn der Mensch an und für sich ist nach Arendt apo­li­tisch; nicht zuletzt des­halb ver­ach­te­te Hannah Arendt die Soziologie als Wissenschaft, die sich nach Arendts Meinung mit apo­li­ti­schen Themen beschäf­tigt. Politik ent­steht aber nur und immer durch das Zwischen-den-Menschen-Sein. Es ist die­ser Raum, der frei sein muss, sowohl in sei­nem Zugang als auch in sei­nem Austausch. Politik ent­steht also im Zwischen. Moritz Klenk hin­ge­gen distan­ziert sich hier von Arendt: «Das Politische ist aus dem Sozialen sprach­li­cher Vermittlung nicht her­aus­zu­kür­zen. Zum ande­ren ist jenes Zwischen in sprach­li­cher Vermittlung als Gemeinschaft gedacht nicht vor­aus­set­zungs­frei oder ein­fach gege­ben. Im Gegenteil: Ein sol­ches Verständnis des die Freiheit des frei­en Redens vor­aus­set­zen­den Politischen ist nur als Arbeit, als müh­sa­mes Ringen gegen die Zwänge des Lebens und nack­ten Überlebens zu begrei­fen.» Well, nein. Da hat Moritz Klenk mei­ner Meinung nach Arendt, wie vie­le ande­re auch, völ­lig falsch ver­stan­den, weil heut­zu­ta­ge die Idee, frei von Not zu sein, auch bedeu­tet, frei für Politik zu sein, und extrem fremd ist in einer Gesellschaft, die alle und alles mit Label ver­setzt. Dabei ist klar: Nicht die Identität macht uns frei für die Freiheit, son­dern die Freiheit von Identität, von Zuordnungen, von Kategorien macht uns frei, frei zu sein. Doch immer­hin erkennt Moritz Klenk die Dynamik von Arendts Denken: Sprechendes Handeln ist nach Arendt nicht ein­fach ein Sagen, son­dern es ist Durchführung. Die schön­ste Stelle von Arendt, wo sie gegen sich denkt, zitiert Moritz Klenk vor­züg­lich: «Die Angst vor der Widersprüchlichkeit beruht dar­auf, dass jeder von uns ein ein­zi­ger Mensch ist und doch mit sich selbst (…) zu reden ver­mag, als wäre er zwei.» Sich selbst zu wider­spre­chen muss eben Praxis wer­den für alle Menschen, dann bewe­gen sie sich und ermög­li­chen Zukunft, was man vom Digitalen nicht behaup­ten kann. Die Bedingung eines Selbstgesprächs ist also die Freundschaft mit sich selbst – so die klu­ge Einsicht von Moritz Klenk nach ein­schlä­gi­ger Hannah-Arendt-Lektüre.
Das Buch «Sprechendes Denken. Essays zu einer expe­ri­men­tel­len Kulturwissenschaft» ist gross­ar­tig. Für mich war es eine Wiederentdeckung von Moritz Klenks klu­gem Geist. Für alle ande­ren, die das Denken wie einen stän­di­gen Quell von Lebenserkenntnis, ‑freu­de und Menschlichkeit erfah­ren wol­len, ist es eine Neuentdeckung.

 

Moritz Klenk: Sprechendes Denken. Essays zu einer expe­ri­men­tel­len Kulturwissenschaft. Transcript, Edition Kulturwissenschaft, 2020.

 

*) Dr. phil./Dipl. Coach Regula Stämpfli ist Politologin und Bestsellerautorin («Die Vermessung der Frau», «Trumpism») und schreibt exklu­siv für ensuite eigen­wil­li­ge, poli­tisch ver­sier­te Rezensionen.

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