Über die Maschinenwerdung des Menschen

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Von Dr. Regula Stämpfli - Seit Jahren ana­ly­sie­re ich den «Verlust der Wirklichkeit» und die «Algorithmisierung der Welt». Seit über fünf­zehn Jahren sehe ich mich des­halb Diffamierungskampagnen aus­ge­setzt, die übri­gens typisch sind für einen Männermob (mit sei­nen schril­len Tussi-Unterstützerinnen), der sich im Netz rum­treibt. Misogyne Täter, deren tech­ni­sche Innovationen in erster Linie Macht, Rache und Frauenvernichtung ver­fol­gen, sind «busi­ness as usu­al». Erinnern wir uns: Facebook wur­de zum Zweck gegrün­det, Frauen auf der Skala 0 bis 10 zu bewer­ten. Aus dem sexi­sti­schen Netzmarkt gegen Frauen wur­de ein Menschenmarkt, der unter dem Brand «Freundschaft» zir­ku­liert. Bei #MeToo spie­len Einzelschicksale eine Rolle, im Netz geht es um die Gewaltstrukturen gegen Menschen mit Menstruationshintergrund.

Seit Jahrzehnten ver­kau­fen die­se Dudes die Erniedrigung aller Schwachen als Geschäftsmodell. Männer legi­ti­mie­ren stän­dig, über­all und immer die Attacken auf die Leidtragenden mit «der Komplexität der Digitalisierung». Jesses; als ob das alles ent­schul­di­gen wür­de! Deshalb nervt auch das Gequatsche der meist männ­li­chen Experten zu künst­li­cher Intelligenz, Kampfmaschinen, Rechnern und «auto­no­mem Fahren», denn sie checken ein­fach null, um was es WIRKLICH geht.

Silicon Valley will aus allen Menschen Bots machen Die Gefahr der Automatisierung besteht nicht dar­in, dass in naher Zukunft even­tu­ell Maschinen Menschen beherr­schen, son­dern dass die Plattformeigner, die neu­en Diktatoren aus dem Silicon Valley, aus allen Menschen Bots machen wol­len. Dies pas­siert immer schnel­ler dank den völ­lig kran­ken und unkom­men­tier­ten Behaviorismus-Diktatoren in der Finanz- und Techwelt. Spätestens seit 2016 ist allen klar: Silicon Valley ver­dient mit Hass Milliarden. Trotzdem bekla­gen irgend­wel­che Experten nach jedem Attentat, dass «die Politik» reagie­ren müs­se. Dabei geht es um GAFA – die Googelisierung der Welt, die Veräppelung der Menschen, die «Fornication» von Facebook und die glo­ba­len Verhüllungspraktiken von Amazon. GAFA set­zen Demokratie, Rechtsstaat, Gleichstellungsgesetze, Antidiskriminierungsparagrafen, ja alle Menschenrechte aus­ser Kraft. Da geht es nicht ein­fach dar­um, dass «die Politik» reagie­ren muss. Wir müs­sen erken­nen, dass wir im Zeitalter des Netzkriegs leben – dem des Kalten Kriegs, der eben auch ein Krieg war, nicht unähn­lich. Was tun? Beispielsweise «no data wit­hout repre­sen­ta­ti­on», die digi­ta­le Transfersteuer, die Zerschlagung der GAFA-Monopole, die Umkehr der Beweislast, der Schutz des Privatrechts etc. – alles ein­fach durch­setz­bar und bei mir nach­zu­le­sen. Ich fra­ge mich, wie lan­ge es noch gehen wird und wer alles noch ermor­det wer­den muss, bis Mark Zuckerberg mit Handschellen abge­führt und Edward Snowden zum euro­päi­schen Netz-Infrastrukturbeauftragten beru­fen wird.

Die uner­hör­te Avantgarde der Netzfrauen Die «codier­te Welt» (Stämpfli) ist weit mehr als der Schritt vom Personal Computer zum Deep Fake: Sie signi­fi­ziert die Machtergreifung durch die Zuckerbergs die­ser Welt. Statt nun aber der wirk­li­chen Avantgarde, näm­lich uns weib­li­chen Denkerinnen, zur digi­ta­len Transformation zuzu­hö­ren, uns an die Universitäten und an die Stiftungstöpfe zu las­sen, wer­den wie­der und wie­der die­sel­ben Dudes ein­ge­la­den, deren Schrott die Köpfe ähn­lich ver­stopft wie der Sondermüll, der Luft, Wasser und Boden ver­gif­tet. Die gän­gi­gen Experten erin­nern an Bots, die bei gewis­sen Keywords wie­der und wie­der die­sel­ben Codes raus­spucken. Deshalb hier nur noch ein­mal und fürs Protokoll: Die Gefahr der Digitalisierung besteht nicht dar­in, dass die Maschinen den Menschen erset­zen, son­dern dass die Menschen zu Maschinen umge­baut wer­den.

Deshalb müs­sen drin­gend wir Expertinnen punk­to Philosophie, Biopolitik, Medizin, Soziologie, Sprache, Macht und Staatsrecht ange­hört wer­den. Beispielsweise Shoshana Zuboff und ihr «Überwachungskapitalismus».

Wer bei­spiels­wei­se meint, Fake News sei­en das Problem von poli­ti­scher Bildung, Transparenz oder gar Vertrauen in die Institutionen, wird eines schockie­rend Besseren belehrt. Silicon Valley ist die auto­ri­tä­re Maschinenzentrale, die jede Demokratie, und hier ins­be­son­de­re die Frauen, zer­stö­ren, ver­nich­ten und auf ewig dem Erdboden gleich­ma­chen will. Föderalismus, Gleichheit, Freiheit, Solidarität sind für GAFA Ramschwaren zum Billigpreis. Gegenüber GAFA mögen alle Geld tau­send­mal lie­ber als Grundrechte. Dies beginnt schon bei den Emojis: Das neu­ste Apple-Update zeigt auf den Smartphones kei­ne tai­wa­ni­sche Flagge mehr. Weshalb? Weil es nach der VR China Taiwan gar nicht geben darf, da es sich bei Taiwan um eine «abtrün­ni­ge Provinz» hand­le – Jesses again. Nur die Macher der Zeichentrick-Comedy-Serie «South Park» haben das chi­ne­si­sche Vorgehen wit­zig kom­men­tiert – alle ande­ren zie­hen ihren Schwanz ein: Schliesslich soll der durch den Renminbi ver­gol­det wer­den. «Wir lie­ben Geld auch mehr als Freiheit», fass­te «South Park» das Getue um die VR China zusam­men. Resultat: Die Serie, in China sehr beliebt war, wird online so gelöscht, als hät­te es sie nie gege­ben.

Mittäterschaft und Kuschelhaltung gegen­über Diktatoren ist GAFA-Praxis, alles ande­re Propaganda. Haben Sie schon von der wirk­lich ori­gi­nel­len Eröffnung des «Instituts für künst­li­che Intelligenz und Ethik» in München gehört? Dieses IEAI (klingt wie ein Schmerzenslaut, nicht wahr?) – Institute for Ethics in Artificial Intelligence – ist, ohne Scherz, von Facebook finan­ziert. 7,5 Millionen Anschubfinanzierung hat das ethi­sche Whitewashing Facebook geko­stet. Siebeneinhalb Millionen? Lächerlich. Eine Universität lässt sich also kau­fen von einem Unternehmen, das von den mei­sten Wissenschaftlern dafür ver­ant­wort­lich gemacht wird, Männer wie Bolsonaro, Trump und Johnson in die höch­sten Ämter gehievt zu haben und durch Bots, Klickmaschinen, Hate-Speech und Institutionenmisstrauen die bestehen­de Demokratie mas­siv zu unter­gra­ben. Ein von Facebook finan­zier­tes Ethikinstitut klingt ähn­lich glaub­wür­dig wie eine von Saudi-Arabien finan­zier­te Gleichstellungs-Uni oder ein von der VR China finan­zier­tes Menschenrechtsinstitut.

Die mei­sten Digitalisierungs-Speaker sind auto­ri­tä­re Bots Silicon Valley ist schon längst nicht mehr demo­kra­tisch. Deshalb fährt Zuckerberg gegen die demo­kra­ti­sche Präsidentschaftskandidatin Elisabeth Warren eine Netzkampagne mit dem ein­zi­gen Zweck, ihr Gesetzesvorschlag, GAFAs Monopole zu zer­schla­gen, zu tor­pe­die­ren. Etwas, das Obama schon längst wäh­rend sei­ner Amtszeit hät­te tun kön­nen, dies aus nahe­lie­gen­den Gründen indes­sen unter­liess (er und sei­ne Ehefrau ver­die­nen u. a. mit Netflix viel Geld). Dies ist das allen Hate-Speeches, Amokläufen und durchs Netz befeu­er­ten ter­ro­ri­sti­schen Vernichtungszügen Gemeinsame: Dudes, es geht um Diktatur, nicht um auto­no­mes Fahren, nicht um Freundschaft, son­dern um Macht.

Überwachungskapitalismus, der: «1. Neue Marktform, die mensch­li­che Erfahrung als kosten­lo­sen Rohstoff für ihre ver­steck­ten kom­mer­zi­el­len Operationen der Extraktion, Vorhersage und des Verkaufs rekla­miert; 2. eine para­si­tä­re öko­no­mi­sche Logik, bei der die Produktion von Gütern und Dienstleistungen einer neu­en glo­ba­len Architektur zur Verhaltensmodifikation unter­ge­ord­net ist». und wei­te­re sechs Definitionen fol­gen (die ich aus Gründen des Copyrights nicht alle auf­füh­ren darf). Shoshana Zuboff defi­niert wie ich die neue Plattform-Kapitalismuslogik als «Ordnung auf der Basis tota­ler Gewissheit». Ich nen­ne dies mit­un­ter auch «die radi­ka­le Gegenwartsideologie».

Die Machthaber des Silicon Valley domi­nie­ren den Globus nicht ein­fach durch «Innovation» oder «Geld», son­dern durch Macht und Hingabe zum Totalitären. Silicon Valley berech­net den Unterdrücker direkt im Menschen sel­ber: «Werde, wer du bist», rufen Zuckerberg et al. den Menschen wie das Orakel von Delphi zu und mei­nen: «Werde, wen wir errech­net haben.» Die Netzwerke locken Menschen in die Falle, um sie völ­lig aus­zu­schlach­ten. Als sozia­le Wesen wider­ste­hen nur ganz weni­ge sozia­lem, emo­tio­na­lem, poli­ti­schem, öko­no­mi­schem Druck. Hinter dem «Werde, wen wir errech­net haben» steckt die Finsternis der Behavioristen, die schon seit über 100 Jahren ihr übles wis­sen­schaft­li­ches und prak­ti­sches Handwerk pfle­gen – wie dies Hannah Arendt sehr luzi­de bemerkt hat.

Zuboffs deut­sche Übersetzung liest sich nicht leicht und ihr Konstrukt des «Big Other» miss­fällt mir so ziem­lich, da es vom eigent­li­chen Thema der Machtpolitik weg­führt. Die Kapitel zum Aufstieg des Silicon Valley, Zuboffs Narrative zur poli­ti­schen Kultur und zu den übel­sten Nobelpreisträgern der Geschichte sind indes­sen erhel­lend her­vor­ra­gend. Ebenso ihre Schlüsse zur wei­te­ren Existenz von Leben ange­sichts der Codierung der Welt. Geradezu zu Tränen gerührt war ich, als ich Zuboffs Empörung über die drei­ste Objektivierung aller mora­li­schen Milieus (für die ich den Begriff der «post­mo­der­nen Beliebigkeit» geprägt habe) las. Endlich nicht mehr allein unter all den Bösen, die von sich behaup­ten, die Guten zu sein!

«Unter dem Regime instru­men­tä­rer Macht wird unse­re gei­sti­ge Handlungsfähigkeit all­mäh­lich eben­so wie unser Recht auf die Zukunft in einer neu­en Art von Automatisierung ertrin­ken: einer geleb­ten Erfahrung von Reiz, Reaktion und Verstärkung, die nur noch als das agg­re­gier­te Kommen und Gehen von Organismen zäh­len. (…) Die Unterwerfung der Massen unter gesell­schaft­li­che Normen ist nicht mehr nötig; das Selbst braucht sich nicht mehr unter der Androhung von Zwangsmassnahmen im Kollektiv zu ver­lie­ren; die Gruppe winkt nicht mehr mit der Zugehörigkeit als Belohnung dafür, dass man sich ihr beugt. All das wird abge­löst durch eine digi­ta­le Ordnung, die in Dingen und Körpern gedeiht, die Willensäusserung durch beha­vio­ri­sti­sche Verstärkung ersetzt und Handeln durch kon­di­tio­nier­te Reaktion.» (S. 440)

«Der Überwachungskapitalismus ist der Puppenspieler, der uns durch das Medium des all­ge­gen­wär­ti­gen digi­ta­len Apparats sei­nen Willen auf­zwingt. Ich bezeich­ne die­sen Apparat als Big Other – der Grosse Andere. Ich ver­ste­he dar­un­ter die wahr­neh­mungs­fä­hi­ge, rechen­ge­stütz­te und ver­netz­te Marionette. (…) Dirigiert wird die öko­no­mi­sche Logik des Überwachungskapitalismus durch die immensen Fähigkeiten von Big Other zur Schaffung von instru­men­tä­rer Macht, die die Manipulation der Seele durch die Verhaltensmodifikation ersetzt.» (S. 437)

Leider kürzt Zuboff ihr Buch am Ende auf ein paar gut gemein­te Ratschläge, indem sie auch der Hoffnung Ausdruck gibt, dass die «Rober Barons» des 19. Jahrhunderts, deren Vorgehensweisen von den Pickel-Informatikern à la Zuckerberg, Thiel und wie sie alle heis­sen, eins zu eins kopiert wer­den, wie damals auch heu­te mit der Zeit ver­schwin­den. «Es ist jetzt an uns, unser Wissen ein­zu­set­zen, unse­re Orientierung wie­der­zu­fin­den, ande­re dazu auf­zu­rüt­teln, das­sel­be zu tun, und für einen neu­en Anfang zu sor­gen. (…) Dieses Buch ist als Beitrag zu die­ser kol­lek­ti­ven Anstrengung gedacht.» (S. 599)

Dies ist mei­ner Ansicht nach viel zu wenig, und es ist sehr scha­de, dass Shoshana Zuboff nicht mit den euro­päi­schen Vordenkerinnen der digi­ta­len Demokratie das Gespräch gesucht hat, um nicht nur die Zerstörung der Demokratie zu ver­hin­dern, son­dern auch um dem Kampf gegen die­se Vernichtung und dem «Mehr Demokratie wagen» in ihrem sehr lesens­wer­ten Buch genü­gend Platz ein­zu­räu­men. Diese Einschränkung ist aber nur eine klei­ne Kritik an dem wich­ti­gen Werk zur Digitalisierung, das sich auf Englisch viel kla­rer und bes­ser liest als auf Deutsch.

Shoshana Zuboff, Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Aus dem Englischen von Bernhard Schmid, ISBN 978–3‑593–50930‑3.

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