Von der Keksfabrik zur Tagesordnung: Éric Vuillard

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Im Jahr 2000 ver­such­ten 60 Frauen und Männer, die mei­sten von ihnen aus dem Osten, Entschädigung für die Sklavenarbeit zu erhal­ten, die sie für den Bahlsen-Kekskonzern wäh­rend des Zweiten Weltkrieges lei­sten muss­ten. Es war eine lächer­li­che Million Mark, die gefor­dert wur­de, doch die deut­schen Richter blie­ben, wie immer in sol­chen Fällen, natio­nal­so­zia­li­stisch und bun­des­re­pu­bli­ka­nisch recht­ge­mäss: Die Forderungen sind ver­jährt. Die Bundesrepublik Deutschland hat mit die­sem Argument unzäh­li­ge Milliarden für die rei­chen Erben und Profiteure der natio­nal­so­zia­li­sti­schen Herrschaft gespart. Die 25jährige Bahlsen-Kekse-Erbin, Verena mit Vornamen, meint des­halb im Jahr 2019 ver­gnügt: “Bahlsen hat sich nichts zu Schulden kom­men las­sen.” Tja. Die Kekse-Fabrik war ein kriegs­wich­ti­ger Betrieb. Und ja: Die Geschichtsvergessenheit liegt im Trend. Verfolgt man die History-Docs, hört man die Experten und dis­ku­tiert man mit den jun­gen Leuten in Deutschland, so rea­li­siert man schnell: Hitlerdeutschland ist bekannt, dass dem schnurr­bär­ti­gen Österreicher aber Millionen Mittäter zur Macht ver­hal­fen und die Vernichtungsindustrie und Enteignungsmaschinerie mit­tru­gen, ist seit Jahrzehnten hip.

Es gibt ein Buch, das dies ändern könn­te. Doch erstaun­li­cher­wei­se ist es, nach eini­gen Wochen des Feuilleton-Hypes, in Deutschland wie­der im Keller ver­schwun­den. Zu schmerz­haft, zu klar, zu prä­zi­se ist wohl die Benennung von Herrschaft, Macht, Mittäterschaft und Mediennarrativen.

“Sie waren vie­run­zwan­zig bei den toten Bäumen am Ufer, vie­run­zwan­zig schwar­ze, brau­ne oder cognac­far­be­ne Überzieher, vier­und­zwan­zig mit Wolle gepol­ster­te Schulterpaare, vie­run­zwan­zig Dreiteiler, und die glei­che Anzahl breit­ge­säum­ter Bundfaltenhosen.” Diese Sätze aus dem ersten Kapitel kenn­zeich­nen die  “Tagesordnung” von Éric Vuillard, der 2017 in Frankreich den renom­mier­ten “Prix Concourt” erhal­ten hat.

“L’ ord­re du jour” wie es im Original heisst, ist eines der besten Bücher der letz­ten zehn Jahre. Nur 118 Seiten gibt es dem poe­sie­- und wiss­be­gie­ri­gen Leser mona­te­lan­gen Stoff. In Deutschland schaff­ten es die detail­liert nach­er­zähl­ten Szenen aus der bis heu­te prä­gen­den Zeit des natio­nal­so­zia­li­sti­schen Herrschens, Intrigierens, Manipulierens und fal­schen Erzählens – wie schon erwähnt – nur weni­ge Wochen in die Schlagzeilen. Die für die media­le deut­sche Öffentlichkeit bit­ter­bö­sen Skizzen sind wohl ein­fach zu schmerz­haft. Schon George Orwell wuss­te, dass Leute, die vor­ge­ben, die Wahrheit zu sagen, geliebt, Leute, die die Wahrheit sagen, gehasst wer­den. Glücklicherweise tickt die fran­zö­si­sche Öffentlichkeit in jeder Hinsicht anders. Hymnisch waren die Besprechungen für die “Traktandenliste” wie wir Schweizernden das Büchlein nen­nen wür­den, geist­reich, klug und scharf die zahl­rei­chen Diskussionen, die sich über den Text von Vuillard sofort ein­stel­len. Die deut­sche Rezeption zur “Tagesordnung” sagt dar­über hin­aus viel aus über das Klima, das seit 20 Jahren in Deutschland punk­to Nationalsozialismus gepflegt wird: Faschokritik ja, Machtanalyse und Mittäterschaftsstruktur nein.

“Die Zeit” schreibt, dass der Roman den Aufstieg Hitlers schil­de­re. Man kann gros­se Bücher, die ins eige­ne Medienpropagandafleisch schnei­den, zwar noch düm­mer cha­rak­te­ri­sie­ren, aber man müss­te sich noch etwas anstren­gen. Vuillard schreibt mit­nich­ten über den Aufstieg Hitlers, son­dern über die krie­che­ri­schen, in ihrem Habitus äus­serst zeit­ge­nös­sisch anmu­ten­den Mittäter der soge­nann­ten “besten Gesellschaft”.

Vuillard bemerkt zu recht, dass über­haupt nichts unschul­dig in der Kunst der Auslassung in den Erzählungen zu Hitlers Deutschland ist. Vuillard hält dem deut­schen Mainstream zur hit­ler­schen Geschichtsschreibung den Spiegel vor. Die vie­run­zwan­zig “BASF, Bayer, Agfa, Opel, I.G. Farben, Siemens, Allianz, Telefunken” waren damals in der Organisation der Vernichtung des euro­päi­schen Judentums, an der Vorbereitung zum sehr deut­schen und prä­zis orga­ni­sier­ten Massenmord direkt invol­viert. Nur schrei­ben dar­über weni­ge und wenn, wird so getan, als sei dies doch schon lan­ge her und nicht mehr erwäh­nens­wür­dig. Oder es kom­men Legitimationsartikel, dass man ja nun genü­gend Reparationen gezahlt hät­te. Wirklich? Wer hat eigent­lich was bezahlt und wem? Oder wann? Sind die Milliarden Vermögen, die auf eini­ge weni­ge Erben in Deutschland ver­teilt wer­den, ohne Hitlerzeit über­haupt denk­bar?

Diese Fragen kom­men einem über der Lektüre von Vuillard, “weil die juri­sti­schen Personen ihre Avatare haben, so wie die anti­ken Gottheiten unter vier­le­rei Gestalt auf­tra­ten und sich im Laufe der Zeit mit ande­ren Göttern ver­ei­nig­ten.”

Vuillard beschreibt, wie Demokratien zugrun­de gehen. Zuerst durch das gol­de­ne Fundraising der mil­lio­nen­schwe­ren Unternehmer. Das ein­gangs erwähn­te Vierunzwanziger-Grüppchen puscht die natio­nal­so­zia­li­sti­schen brau­nen Horden mit Millionen an die Macht. Die klas­sisch deut­schen Unternehmen spon­so­ren ein Regime, das Europa in 12 Jahren in ein Massengrab ver­wan­del­te, um dann aus des­sen Ruinen als strah­len­de Wiederaufbauer und Wirtschaftsverwunderer auf­zu­er­ste­hen. “Doch um bes­ser zu ver­ste­hen, was die­ses Treffen vom 20. Februar bedeu­tet, um sei­nen Ewigkeitsgehalt zu begrei­fen, müs­sen wir die­se Männer künf­tig bei ihrem Namen nen­nen. Nicht mehr Günther Quandt, Wilhelm von Opel, Gustav Krupp und August von Finck ver­sam­meln sich an jenem frü­hen Abend des 20. Februar 1933 im Reichstagpalais; es müs­sen ande­re Namen her” – Keiner schreibt so gut wie Vuillard. Hier noch ein Satz als Amouse-Bouche für den Roman, der in jeden Haushalt gehört:

Blitzkrieg ist eine ein­fa­che Formel, ein Wort, das die Werbung dem Fiasko ange­hängt hat.”

Die pro­mo­vier­te Politphilosophin Stämpfli schreibt exklu­siv für ensuite eigen­wil­li­ge, klu­ge, poli­tisch ver­sier­te Rezensionen. Die Hannah Arendt-Dozentin ist Bestsellerautor zu Themen, die im deutsch­spra­chi­gen Raum nor­ma­ler­wei­se nicht von Frauen ver­fasst wer­den dür­fen. Deshalb auch die mönn­li­che Form des Bestsellerautors.

 

Éric Vuillard. Die Tagesordnung. Matthes und Seitz, 128 Seiten, Hardcover, 2018
ISBN: 978–3‑95757–576‑0

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