«Year Walk»: Folklore und das Fremde im Videospiel

Von

|

Drucken Drucken

Von Andreas Meier - Videospiele grei­fen wie alle kom­mer­zi­el­len Kulturprodukte ger­ne auf Szenarien zurück, die dem Spieler ver­traut sind. Ihre Welten glei­chen häu­fig unse­rer moder­nen (west­li­chen) Welt, und wenn nicht – wie etwa in Fantasy oder Science-Fiction – stüt­zen sie sich häu­fig stark auf längst eta­blier­te Genrekonventionen. Doch Vertrautheit hat im Videospiel weit­grei­fen­de­re Implikationen als etwa im Film; je ver­trau­ter die Welt und ihre Regeln, desto bes­ser kann sich der Spieler in ihr ori­en­tie­ren und mit ihr inter­agie­ren.

Folklore als Hauptthematik für ein Videospiel zu wäh­len ist somit eine gewag­te Entscheidung; nicht nur ist sie an loka­le und ursprüng­lich münd­li­che Traditionen gebun­den, und somit den wenig­sten aus­ser­halb die­ser Regionen bekannt, son­dern ist für den (post)modernen Bürger sogar dann fremd­an­mu­tend und schwer deut­bar, wenn bereits Vertrautheit mit dem Stoff vor­han­den sein soll­te.

Das klei­ne schwe­di­sche Indiespiel «Year Walk» für PC, Mac und iOS beruht auf schwe­di­scher Folklore, und dreht sich um den im 19. Jahrhundert aus­ge­stor­be­nen und wenig bekann­ten Brauch des «Årsgång» (i.e. «jähr­li­cher Gang»). Der «Jahrgänger» begab sich nach einer Zeit des Fastens und der Isolation in einer Nacht des aus­ge­hen­den Jahres auf eine spi­ri­tu­el­le Wanderung, auf der er über­na­tür­li­che Wesen und Visionen antref­fen zu kön­nen glaub­te. Das Gesehene konn­te gedeu­tet wer­den, um zukünf­ti­ge Ereignisse zu erschlies­sen – das eigent­li­che Ziel der Wanderung.

In «Year Walk» über­nimmt der Spieler nun die Rolle eines sol­chen Suchenden, und wan­dert durch einen in wun­der­schön sti­li­sier­ten, zwei­di­men­sio­na­len Bildern dar­ge­stell­ten nächt­li­chen Wald. Die Wildnis ist audio­vi­su­ell berau­schend: die Ästhetik ist bestimmt durch ein Tauziehen zwi­schen klar umris­se­nen, sti­li­sier­ten Formen, und der Dunkelheit und dem Schnee, in denen alles zu ver­schwim­men droht. Die Musik ist mal melan­cho­lisch und äthe­risch, mal dis­so­nant und bedroh­lich, aber immer hyp­no­ti­sie­rend.

Auf sei­nem Weg begeg­net der Spieler selt­sa­men Kreaturen; etwa den Mylingen, den Geistern unge­tauf­ter, aus­ge­setz­ter Kinder; dem Bäckahäst, einem Wassergeist in Pferdeform, der die Unachtsamen ins Wasser lockt und ertränkt; und dem Kyrkogrim, dem schüt­zen­den Geist einer geop­fer­ten und unter einer Kirche begra­be­nen Ziege mit dem Herz eines hin­ge­rich­te­ten Kriminellen. Viele die­ser Wesen sind ambi­va­lent, erschei­nen als zugleich gefähr­lich und hilf­reich. Der Ton des Spiels ist bedroh­lich und häu­fig ver­stö­rend; es bedient sich bei den Genresprachen von Horror und Mystery, die sich bei der Fremdartigkeit der folk­lo­ri­sti­schen Materie äus­serst gut anbie­ten.

Spielmechanisch gese­hen lässt sich das Spiel dem Puzzlegenre zuord­nen. Die Bewegung ist unge­wöhn­lich, aber leicht umzu­set­zen; der Spieler bewegt sich in der Ich-Perspektive seit­lich durch die zwei­di­men­sio­na­len Räume, und kann an bestimm­ten Punkten vor- oder zurück­ge­hen, um einen neu­en «Raum» zu betre­ten. Im Wald sind Runensteine, Bäume mit selt­sa­men Symbolen, ver­las­se­ne Hütten und die erwähn­ten Fabelwesen anzu­tref­fen. Was genau man damit machen soll muss der Spieler selbst her­aus­fin­den; abge­se­hen von einem kur­zen Text zu Beginn, der den Brauch des Årsgång erklärt, bleibt das Spiel fast völ­lig stumm. Das Ziel – das Erreichen der Kirche und des Kyrkogrim – ist klar, doch der Weg dahin ist obskur und vol­ler uner­klär­ter Symbole und Muster. Diese im Labyrinth des Waldes alle auf­zu­spü­ren und ihre Verbindungen durch Entsprechungen und Assoziation zu erken­nen ist die Herausforderung des Spieles.

Die Rätsel sind sel­ten tri­vi­al und ver­lan­gen teils late­ra­les Denken, Experimentieren und Flexibilität. Doch trotz der gepfleg­ten Obskurität sind sie nie unfair und dege­ne­rie­ren, anders als in vie­len Adventure- und Puzzlespielen, kaum zu einem hilf- und ziel­lo­sen Herumprobieren. «Year Walk» ist eine gelun­ge­ne Mischung aus moder­nem und alt­her­ge­brach­tem Spieldesign; auf der einen Seite steht Schlichtheit und Simplizität der Interaktion, auf der ande­ren Obskurität und die Notwendigkeit, immer Stift und Papier neben dem Bildschirm zu haben, um Hinweise auf­zu­schrei­ben. Dazu muss noch gesagt wer­den, dass die neue­re PC/Mac Version des Spiels, anders als die ori­gi­na­le iOS Version, eine Karte des Waldes sowie eine Hilfsfunktion besitzt. Es ist zu emp­feh­len, das Spiel so weit wie mög­lich ohne die­se bei­den Funktionen zu spie­len, da ihm sonst eini­ges an Herausforderung und Mystik abhan­den kommt.

Die Verbindung von Folklore, audio­vi­su­el­lem Design und Spielmechanik ist reso­nant; der Årsgång ist eine Reise der Beobachtung, Visionen und Deutung, und jedes Element des Spiels erin­nert den Spieler dar­an. Die Inszenierung des Waldes mit sei­nen unter­drück­ten Formen und Farben und sei­ner Geräuschkulisse erzeugt zusam­men mit der Musik eine dich­te Atmosphäre der (Alb)Traumhaftigkeit. Die Rolle des Spielers ist die eines «Sehers»; das Rätseldesign stützt sich stär­ker auf Beobachtung und Deutung des Gesehenen als auf Interaktion mit der Welt.

«Year Walk» ist inter­es­sant als ein Spiel, das sich traut, sich ganz auf obsku­ren Stoff zu stüt­zen. Aber es ist auf kei­nen Fall bloss als Kuriosum zu emp­feh­len; es ist ein bril­lan­tes Spiel, dem es mühe­los gelingt, eine tie­fe Faszination für sich selbst und sei­nen Stoff zu wecken.

 


«Year Walk» ist für 5€ auf store.steampowered.com (PC, Mac) und für 4$ im App Store (iOS) erhält­lich. Dieser Artikel beruht auf der PC/Steam Version des Spiels.

Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2014

 

Einen Text gelesen und der hat gefallen? Spende per TWINT ein paar Franken - ohne Abo, aber mit gutem Gewissen. Geht doch auch.



Newsletter

Unsere Newsletter kommt nicht oft und nur dann, wenn etwas wichtig ist. Sie können sich jederzeit wieder abmelden.




Mit der Nutzung dieses Formulars erklärst Du dich mit der Speicherung und Verarbeitung Deiner Daten durch die Schweizer-Newsletter-Software von «ensuite» einverstanden. (CH-Server)

logo