Es gibt ste­reo­ty­pe

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Von Peter J. Betts – Es gibt ste­reo­ty­pe Einschätzungsmuster für Gegenwart oder Gegenwärtiges oder auch nur eben jetzt Wahrgenommenes, sofort als zeit­ty­pisch erklärt. Aber wer denkt dar­über nach, wie Vergangenes und Gegenwärtiges zu einer wert­vol­le­ren Zukunft füh­ren könn­ten? Wer ver­sucht, Vor- und Nachteile des Vergangenen (an der Gegenwart gemes­sen) mit Vor- und Nachteilen des Gegenwärtigen (an der Vergangenheit gemes­sen) zu ver­glei­chen? Wer ver­sucht, die Ergebnisse eines sol­chen Vergleichs für die Suche nach sinn­vol­len Wegen für die Zukunft zu nut­zen? Eine Frage des Kulturverständnisses? Ein Beispiel aus dem Kunstschaffen: Bis in die frü­hen Siebzigerjahre hin­ein spiel­te man etwa in der «Rampe» oder im «Kramgassesechstheater» ohne Gage; das galt auch für Bühnenbild, Regie, Kasse, Reinigung und so wei­ter. Wer nicht spiel­te, sass viel­leicht an der Kasse oder führ­te Regie oder bei­des. Wir alle hat­ten einen «Brotberuf», und nicht alle waren Theaterlaien. Wenn beim Proben eine Scheinwerferlampe aus­ge­stie­gen war, berapp­te man den Ersatz des Leuchtmittels sel­ber. Am Putzen und Aufräumen betei­lig­ten sich alle. Die Plakate schu­fen Graphiker aus dem Freundeskreis, Druckereien lie­fer­ten zu Spezialpreisen. Wenn am Ende eines Aufführungszyklus ein klei­ner Überschuss her­aus­schau­te, ging man gemein­sam mehr oder weni­ger «dick essen». Wichtig war zu zei­gen, «was der Zeit ent­sprach» und dem­zu­fol­ge im Grossen Haus sicher nicht zu sehen war. Natürlich war man ein­an­der auch spin­ne­feind, gönn­te ein­an­der das kal­te Wasser nicht, intri­gier­te bes­ser als in jedem Theatertext – und schuf Gemeinsames. Das «Internationale Kleintheaterfestival in Bern» hat­te ein gutes, auch inter­na­tio­na­les Ansehen. Es war nur mög­lich, weil die Theaterleiter ihren Bekannten auf­tru­gen, in ihren Ferien im Ausland Ausschau nach inter­es­san­ten Aufführungen zu hal­ten, die Truppen nach tele­fo­ni­scher Rückfrage zu enga­gie­ren (vier­zig Prozent zugun­sten des Theaters, sech­zig zugun­sten der Truppe) und den Abschluss zu bestä­ti­gen. Und auch das funk­tio­nier­te nur, weil die Anreisenden die Reisekosten sel­ber bezahl­ten, aber in Bern pri­vat unter­ge­bracht waren. Eine inten­si­ve, zum Teil Jahre über­dau­ern­de Beziehung zwi­schen den Spielenden und GastgeberInnen ent­stand oft. Die GastgeberInnen besuch­ten die Produktionen ihrer Gäste, ver­gli­chen sie mit den Produktionen der Konkurrenz; nach den Aufführungen wur­de gemein­sam gefe­stet: ein Festival für alle Beteiligten, und betei­ligt waren vie­le. Die Kleintheater waren real leben­di­ger Teil einer leben­di­gen Stadt. Kunst ver­bin­det? Ein frem­des Team ist hier hän­gen geblie­ben: Doraine Green und Arne Nannestad – nicht mehr «Action Theatre London», son­dern «Action Theatre Berne», ohne ihre Theatersprache auf­zu­ge­ben, durch­aus im Ausland auch prä­sent. Dann stan­den die Kellertheater vor dem Aus … Der Stadtpräsident griff ein, die Geschichte mit den Subventionen begann. U.a.: alle ver­lang­ten für eine Leistung ent­spre­chen­de Bezahlung, nach dem Motto: «Ihr habt ja Subventionen, war­um soll­te ich das Leuchtmittel für den Scheinwerfer sel­ber bezah­len?» oder «Ich, put­zen? Stellt jeman­den dafür an!» oder «Ich? An die Kasse? Ich spie­le mei­ne Rolle auf der Bühne, und zwar für eine jäm­mer­li­che Gage.» War es vor dem prä­si­dia­len Rettungsakt bes­ser als heu­te? Ist es heu­te bes­ser als damals? Wie könn­te es wei­ter gehen? Gibt es Möglichkeiten, dass Theater (wie­der, mög­li­cher­wei­se in einer zeit­ge­mäs­se­ren Form) ein leben­di­ger Teil des Lebens aller wird? Ein Beispiel aus der Konsumkultur: das Schicksal einer Idee im Detailhandel. Gottlieb Duttweiler grün­de­te zwi­schen den bei­den Weltkriegen die Migros. Dutti hat­te nichts dage­gen, gut zu ver­die­nen. Aber er ver­stand sein Handeln immer auch als sozia­len und kul­tu­rel­len Beitrag an die Entwicklung der Gesellschaft. Im Kleinstädtchen Huttwil, in dem ich teil­wei­se auf­wuchs, gab es nur klei­ne Verkaufsgeschäfte mit ganz spe­zi­fi­schen Angeboten und das Haus-zu-Haus- Angebot der umlie­gen­den Bauernhöfe. Dann, von den mei­sten ver­ach­tet, öff­ne­te eine klei­ne «Konsum-Filiale» («Coop» heu­te): etwas für Sozis, Eisenbahner, Gewerkschafter und so. «Man» wuss­te im Städtchen, wer dort ein­kauf­te. Eine Migros gab es nicht in den frü­hen Fünfzigerjahren. Einmal wöchent­lich kam der Migros-Einkaufsladen auf drei Achsen, par­kier­te am Siedlungsrand. Die Käuferschaft war von Anfang an gemischt, zum Teil vor­erst durch Neugierde zum Kommen moti­viert. Kurz vor Ende mei­ner Schulzeit gab es schon eine klei­ne Migrosfiliale – Quelle von Eiscrème am Stängel für ver­schleck­te SchülerInnen. Etwa vier Jahre spä­ter galt es nicht mehr als Sakrileg, in der Migros ein­zu­kau­fen. Duttis Botschaft war etwa: Auch Menschen mit nied­ri­gem Einkommen haben ein Anrecht auf abwechs­lungs­rei­che Kost und ab und zu auf etwas Besonderes; und Wohlhabendere fühl­ten sich weder aus­ge­schlos­sen noch stig­ma­ti­siert. Die übri­gen Läden gin­gen nicht, wie befürch­tet, ein. Die heu­ti­ge Migros in Hinterkappelen bei­spiels­wei­se könn­te eine Art iden­ti­täts­stif­ten­de Institution für ein gros­ses Einzugsgebiet einer in jeder Beziehung recht hete­ro­ge­nen Gesellschaft sein. Aber. Eine ande­re Kultur hat Einzug gehal­ten: die ober­ste Heeresleitung, wohl in Zürich, küm­mert sich höch­stens so lan­ge um den Betrieb, als die Filiale ein lukra­ti­ves Profit Centre ist. Das Angebot wird bestimmt durch die Interpretation der Cumulus-Karten-Anlyse. Wenn der Umsatz stimmt, kann auch ein biss­chen Herz gemimt wer­den. Aber. Aber das Personal ist, wohl dank Verkaufspersonalkursen, zwar pro­fes­sio­nell auf Freundlichkeit ein­ge­fuchst; wie es bei ihnen innen aus­sieht ist egal, und der Bestand wird – opti­miert. Auch die Kundschaft wird erzo­gen. Ein Beispiel: bis vor ein paar Monaten waren ana­lo­ge Fotofilme erhält­lich. Jetzt nicht mehr, aber ent­wickelt und kopiert wer­den sie gewis­ser­mas­sen als Gnadenakt noch (ein biss­chen lässt sich ja hier immer noch abschöp­fen). Die unver­bes­ser­li­chen Analog-Fritzen sol­len deut­lich mer­ken, dass Dinosaurier nicht ein­mal mehr in zoo­lo­gi­schen Gärten vor­kom­men. (Haben Sie das schö­ne Interview über David Hamilton in der «ensuite»-Ausgabe vom April gele­sen?) Schliesslich gibt es für Digitales Fotoshop und garan­tier­te Bildschärfe, wenn auch kei­ne Bilder mit Charakter. Tempora mutan­tur, et nos mut­amur in illis. Und wenn ein zum Entwickeln ein­ge­sand­ter Film ver­lo­ren geht, die Verantwortliche im Labor nach­fragt, heisst es: «Die Sendung ist in unse­rem Computer nicht auf­ge­führt, kann also nicht ver­lo­ren gegan­gen sein.» Wenn die Verantwortliche beim ver­ant­wort­li­chen Fahrer nach­fragt, wird sie abge­putzt. Wenn die kopier­ten Bilder zwei Tage spä­ter ein­tref­fen, dann ohne Erklärung, ohne Hinweis dar­auf, man habe sich getäuscht und bit­te um Verzeihung. Computer täu­schen sich nicht. Der Umgang unter­ein­an­der ist bemer­kens­wert, nicht? Wie lässt sich Profit mit ech­ter Menschlichkeit ver­bin­den? Dutti ver­stand es, mit sei­ner lukra­ti­ven Verkaufstätigkeit auch einen sozia­len und kul­tu­rel­len Auftrag zu ver­bin­den. Gut, noch immer gibt es in der Migros kei­nen Alkohol und kei­nen Tabak zu kau­fen. Dafür hat die Migros Denner gekauft und Globus. Es gibt immer Wege nach vorn. Kreativität hat vie­le Gesichter. Kreativität kann auch dazu genutzt wer­den, die Menschen zu uni­for­mie­ren. War es zu Duttis Zeiten bes­ser? Ist es heu­te bes­ser? Könnten Duttis Ziele mit not­wen­di­gen Zielen in unse­rer Gegenwart in Verbindung gesetzt wer­den? Wer denkt hier dar­über nach, wie Vergangenes und Gegenwärtiges zu einer wert­vol­le­ren Zukunft füh­ren könn­ten? Eine Frage der Kultur in Kunst und Alltag?

Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2014

 

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