«Locke»

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Von Sandro Wiedmer – Während einer ein­zi­gen, nächt­li­chen Autofahrt zer­brö­selt all­mäh­lich eine soli­de Existenz bis auf ihre Grundfesten – ein star­kes Stück Kino und eine gross­ar­ti­ge Leistung von Tom Hardy.

Alles an die­sem Film ist unge­wöhn­lich: Von der Idee über die Produktion, den Schauspieler, bis hin zum Resultat, wel­ches uns den Kinosessel wäh­rend der gan­zen Dauer mit dem Beifahrersitz eines die Birmingham und London ver­bin­den­de Autobahn M1 befah­ren­den BMWs tau­schen lässt. Während die­ser Autofahrt und einer Serie von (selbst­ver­ständ­lich über die Freisprech-Anlage abge­hal­te­nen) Telefongesprächen gerät die gesam­te Welt eines pflicht­be­wuss­ten Familienvaters und hart arbei­ten­den Leiters einer Grossbaustelle ins Wanken, und wir erle­ben sei­ne Gefühlsregungen buch­stäb­lich haut­nah mit, die weni­ger und weni­ger locke­re Routine ange­sichts des beruf­li­chen Alltags und die mit Mühe behal­te­ne Kontrolle anläss­lich per­sön­li­cher Katastrophen.

Steven Knight hat sich bereits als Drehbuchautor einen Namen gemacht, unter ande­rem für die­je­ni­gen von Stephen Frears’ «Dirty Pretty Things» (2002), wel­ches ihm Nominierungen für Oscar‑, BAFTA- und European Film-Awards ein­brach­te, wäh­rend der Film den Britisch Independent Film Award gewann, für Michael Apteds «Amazing Grace» (2006), und für David Cronenbergs «Eastern Promises» (2007), wel­cher in Kanada einen Genie Award erhielt und als bester Britischer Film auf der BAFTA Nominierungsliste stand. Demnächst wer­den «Seventh Son» von Sergey Bodrov und «The Hundred-Foot Journey» von Lasse Hallström in die Kinos kom­men, für wel­che er eben­falls die Drehbücher ver­fass­te. Zuvor hat­te er, nach sei­nem Abschluss in Englischer Literatur am University College London, für Werbung, Radio, Fernsehen und Theater geschrie­ben; auch vier Buchveröffentlichungen gehen auf sein Konto. Letztes Jahr hat er mit «Redemption» (a.k.a. «Hummingbird») sei­nen ersten Film geschaf­fen, in dem er für Buch und Regie ver­ant­wort­lich zeich­net. Obschon Jason Statham als Hauptdarsteller gewon­nen wer­den konn­te, hat es der Film lei­der nicht in hie­si­ge Kinos geschafft: Nicht das für ihn typi­sche Action-Vehikel, durf­te Statham tat­säch­lich ein­mal eine Figur mit einem ver­tief­ten Charakter dar­stel­len – nichts, was unse­rem Publikum zuge­mu­tet wer­den kann, so scheint es. (Gut, immer­hin durf­ten wir «The Bank Job» (2008) von Roger Donaldson sehen.)

Während der Dreharbeiten zu «Redemption» teste­te Knight die klei­ne, digi­ta­le «Alexa»-Kamera, wel­che er für Nachtaufnahmen ein­set­zen woll­te, wäh­rend einer Autofahrt durch London. «Als ich mir die Bilder ansah fand ich sie hyp­no­tisch: nächt­li­che Städte und Strassen sind wun­der­schön. Ich frag­te mich ob es mög­lich wäre, die­se Bilder aus dem fah­ren­den Auto zu neh­men, einen Schauspieler da rein­zu­set­zen und eine Geschichte zu erzäh­len», erklärt er in einem Interview. Dass ein sol­ches Unterfangen nur mit einem erst­klas­si­gen Darsteller wirk­lich funk­tio­nie­ren wür­de, war von Anfang an klar. Tom Hardy, unter ande­rem bekannt als Bane in Christopher Nolans «The Dark Knight Rises» (2012) und aus des­sen «Inception» (2010), aus der Le Carré-Verfilmung «Tinker Tailor Soldier Spy» (2011) von Tomas Alfredson oder John Hillcoats «Lawless» (2012), der schon in Nicolas Winding Refns «Bronson» (2008) bewie­sen hat­te, dass er mit sei­ner unglaub­li­chen phy­si­schen Präsenz und sei­nem Charisma eigen­hän­dig einen gan­zen Film zu tra­gen ver­mag, stand zu oberst auf der Wunschliste. «Meiner Meinung nach ist er einer der besten Schauspieler, die es momen­tan gibt», so Knight. Da die Dreharbeiten bloss eine Woche in Anspruch nah­men, fand der viel­be­schäf­tig­te Hardy, dem die Idee zu «Locke» gefiel, denn auch Zeit, die Rolle des Ivan Locke zu über­neh­men – und einen wei­te­ren Beweis abzu­lie­fern, dass Knight mit sei­ner Einschätzung ins Schwarze trifft. Wie nuan­ciert er sei­nen Charakter zwi­schen Einsamkeit und Empathie, Stolz und Selbsthass, unter­drück­tem Gefühl und Wutausbruch pen­deln lässt muss man gese­hen haben, um es zu glau­ben.

Sechs Mal wur­de die nächt­li­che Autofahrt, das sich stän­dig inten­si­vie­ren­de Drama des Protagonisten, wäh­rend sechs auf­ein­an­der­fol­gen­der Nächte in Echtzeit abge­filmt. Dabei wur­de das Auto mit abmon­tier­ten Rädern von einem Tieflader über die Strassen gezo­gen. Derweil sas­sen die Schauspieler und Schauspielerinnen, wel­che als Telefonstimmen am ande­ren Ende der Leitung agie­ren, in einem spe­zi­ell her­ge­rich­te­ten Hotelzimmer: Auch die fata­len Gespräche wur­den in Echtzeit abge­hal­ten, was ihre Dringlichkeit und die Illusion der Authentizität der Handlung nur stei­gert. Schliesslich lie­gen die­sem Projekt nichts weni­ger als Überlegungen zur Essenz des Kinos zugrun­de.

«Locke» – Regie: Steven Knight, mit: Tom Hardy, Ruth Wilson, Andrew Scott, Ben Daniels, Olivia Colman u.a.

Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2014

 

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