Der Gegenwart

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Von Sonja Wenger – «Heute ist aber wie­der mal ganz beson­ders heu­te» ist nur eine von vie­len tief­grün­di­gen Wortschöpfungen, die der Berner Maler, Bildhauer, Videoartist, Aktionist und Performer Carlo E. Lischetti Zeit sei­nes Lebens erfun­den hat. «Strengen denkt an» ist eine ande­re. Und dass er als Konkurrenz zum Hauswart, Abwart oder Torwart den Gegenwart schuf, ergibt auf ver­que­re Art in Lischettis Wortuniversum gros­sen Sinn.

Die Liebe zum Heute, zum Hier und zum Jetzt war aber auch Lischettis Verhängnis. So ver­moch­te er 2003 den Krebstod sei­ner Frau Barbara nicht zu akzep­tie­ren. Er ver­harr­te in einer selbst gewähl­ten Gegenwart, in der ihm sei­ne Trauer die Lust am Leben und Schaffen nahm. Zwei Jahre spä­ter wähl­te Lischetti den Freitod. Und für eine lan­ge Zeit danach lag ein Schleier über sei­nem Leben und Wirken.

Diesen Schleier zu heben und die Erinnerung an den Menschen Carlo Lischetti wie­der in die Gegenwart zu holen, war dann auch die Absicht der Berner Filmemacher Bernhard Nick und Stephan Ribi. Zusammen mit Lischettis inzwi­schen erwach­se­nen Kindern Nora und Dario haben sie in «Der Gegenwart» ein Porträt des Künstlers geschaf­fen, dass nicht nur Collage und Hommage an das Werk und Wesen Lischettis ist, son­dern auch eine unge­mein öffent­li­che, nicht unkri­ti­sche Aufarbeitung von Trauer und Verlust.

Zwischen alten Filmaufnahmen, in denen Lischetti sei­ne Aktionen wie etwa das «Kaviar spren­gen» doku­men­tier­te, zie­hen Nora und Dario Lischetti in Gesprächen am Küchentisch noch ein­mal Bilanz über ihre Gefühle und die unter­schied­li­chen Umstände des Todes der Eltern. Sie besu­chen aber auch alte Freunde und Künstlerkollegen ihres Vaters und schwel­gen mit ihnen zusam­men in Erzählungen und Erinnerungen. Da sin­niert etwa der Schauspieler und Darios Götti Max Rüdlinger, wie er Carlo und Barbara zusam­men­ge­bracht hat, und Polo Hofer, Sänger und Trauzeuge der Lischettis singt ein Loblied auf den «Umweltkünstler und Weisheitenverbreiter» Carlo.

Besonders span­nend sind dabei jene Szenen, in denen sich die Mitglieder der soge­nann­ten Liste 9 «Härdlütli» – mit der unter ande­rem Lischetti und Polo Hofer 1971 für den Berner Stadtrat kan­di­tier­ten – zurück erin­nern und eine Anekdote um die ande­re über eine Zeit zum Besten geben, in der das Alternative, Wilde und Unkonventionelle noch Mut brauch­te und Nacktheit noch ein poli­ti­sches Statement war. Nicht umsonst ist ihr dama­li­ges Wahlplakat, auf dem sie nackt posier­ten, bis heu­te Teil der kol­lek­ti­ven Erinnerung in Bern.

Aber auch die Erzählungen der Gruppe der von Lischetti gegrün­de­ten «GegenwartsÄusserungsEmpfängerInnen» sind so boden­stän­dig wie fas­zi­nie­rend, beson­ders wenn sie die krea­ti­ven Kunstwerke aus­packen, die sie für einen klei­nen monat­li­chen Unterstützungsbeitrag erhal­ten haben. Es sind gros­se wie klei­ne Objekte der «Wortwörtlichkeit», wie etwa die «Dame in Öl», für die Lischetti eine simp­le Zeichnung einer nack­ten Frau in eine Flasche mit Öl ein­ge­schlos­sen hat. Allesamt zeu­gen sie von einem gros­sen Sprachwitz und einer noch grös­se­ren Fähigkeit, ganz weit über den Tellerrand hin­aus­zu­schau­en. Sei es in der Wahrnehmung der klei­nen Absurditäten im Alltag, wie es bei der noch immer bekann­ten Installation des auf Leitungen «Tanzenden Bären» über dem Berner Bärengraben ist, oder der Lischetti-Brunnen in der Berner Poststrasse, der ohne Brunnenfigur aus­kommt, dafür mit einer Treppe ver­se­hen ist, die es jedem und jeder erlaubt, die­se Funktion selbst ein­mal aus­zu­üben.

Und genau­so wie Lischetti die Dinge immer wie­der aus ihrer Funktion ent­hob und ihnen dadurch eine neue Bedeutung schenk­te, ver­sucht auch der Film «Der Gegenwart» mehr als ein rei­ner Dokumentarfilm über einen Künstler zu sein. Untermalt von ein­gän­gi­ger Akkordeonmusik, die Lebensfreude wie Melancholie glei­cher­mas­sen über­trägt, wur­de der Film zu einer Annäherung, einer Erinnerung und bei­na­he schon zu einem Kunstwerk an sich.

Dies wird noch ver­stärkt dadurch, dass Nora und Dario zusam­men mit ihren jewei­li­gen Freunden und Freundinnen ver­schie­de­ne Objekte, Installationen und Performances ihres Vaters nach­stel­len und so sein Werk wie­der mit Leben erfül­len.

All dies macht «Der Gegenwart» zu einem berüh­ren­den, grund­ehr­li­chen Film voll zünf­ti­gem Humor aber frei von Pathos, Voyeurismus oder Überzeichnung. Die Verbundenheit der Protagonisten unter­ein­an­der ist dabei in jeder Szene spür­bar. Wenn man denn über­haupt etwas an dem Film kri­ti­sie­ren möch­te, dann nur, dass er nicht län­ger dau­ert.

«Der Gegenwart», Schweiz 2014. Regie: Bernhard Nick, Stephan Ribi. Länge: 64 Minuten.
www.dergegenwart.ch

Foto: zVg.
ensuite, April 2014

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